Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Das ethische Problem

Natur- und Geistgebot

So finden wir denn, dass zwischen Natur- und Geistgebot in diesem Fall vollendete Korrespondenz herrscht. Ethos überhaupt macht allererst den Menschen. Dasselbe Ethos ist die Naturgrundlage aller Werteverwirklichung. Und das Prinzip geistiger Formgebung und Entscheidung, eben das, was nach unserer Erkenntnis von Tod und Ewigkeit allein das Erdenleben individuell überdauern mag, ist wieder nur ethisch zu bestimmen. Dies liegt daran, dass Leben auf allen Ebenen reine Aktualität ist, ein Jetzt und Hier. Aber eben weil das Ethos die Grundlage alles Menschenlebens bedeutet, gibt es keine objektiven ethischen Lösungen, bleibt auf ethischem Gebiet der Konflikt das erste und letzte Wort.

Leben ist eben auf allen seinen Ebenen ein labiles Gleichgewicht, und der bloße Begriff von Freiheit verlöre seinen Sinn, wenn irgend etwas im Voraus und ein für allemal entschieden und entscheidbar wäre. Deshalb ist allein die tragische Ethik, die wir hier skizzierten, dem Sinn der Dinge gemäß. Deshalb ist es widersinnig, auf der Ebene möglicher Ethik die Tragödie auch nur überwinden zu wollen. Lösungen gibt es nur jenseits des Reiches sinnvoller Ethik. Aber die menschliche Lebensebene ist gerade die ethische und sie allein. Sie deckt sich prinzipiell mit der historischen, wo die Verantwortung des Menschen letzte Instanz ist. Deshalb darf der Mensch nie, so er nicht fallen will, seine menschliche Ebene verlassen. Ob er sich ganz der Natur überantwortet oder ganz der Gnade — auch in letzterem Fall verleugnet er seine Bestimmung. Denn nur als ethisches Wesen, d. h. als Form des Lebens, die nicht nur, wie alle andern, zwangsläufig zugleich aufbaut und zerstört, immer wieder geboren wird und stirbt, sondern die das Gute und das Böse tut, obwohl sie fühlt, dass sie nur das Gute tun soll, vermag sie ihre Bestimmung zu erfüllen. Jede Verleugnung des Ethos zugunsten des Pathos ist Todsünde. Wohl ziemt dem Menschen pathetisches Verhalten gegenüber dem, was nicht des Menschen ist. Aber nie darf sein ethisches Streben gegenüber dem von seiner Bestimmung abhängigen jemals aussetzen, nicht mehr, wie der Körper je zu atmen aussetzen darf.

Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Das ethische Problem
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME