Schule des Rades
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele
Das religiöse Problem
Erhaltung und Steigerung
Das vorige Kapitel konnte, seiner Fragestellung und Zielsetzung nach, nur vom Positiven des Ethos und ebendeshalb dem Negativen des Pathos handeln. Doch ging schon aus seinen Gedankengängen implizite hervor, dass das ethische Problem nicht des Menschen letztes ist. Hier haben wir nunmehr anzusetzen. Und dabei wollen wir, um sofort in medias res zu gelangen, nicht mit abstrakten und prinzipiellen Erörterungen, sondern der Betrachtung konkreter Erfahrung anheben. Gerade unsere, uns lebendig vertraute westliche Geschichte zeigt nämlich mit seltener Unzweideutigkeit, dass eine befriedigende Lösung des ethischen Problems noch keine letztgültige Lösung des Lebensproblems bedeutet. Sowohl Heidentum als Judentum waren dem Christentum an reinem Ethos überlegen. Dennoch hat dieses gesiegt, und dies zwar offenbar, weil es eine Lebensform tieferer Einstellung verkörpert.
Zweifellos stand der antike Mensch, ethisch beurteilt, über dem Christen. Er war der geformtere, gehaltenere, vollendetere, souveränere. Den Menschen vom antiken Typus her als krankes Tier zu bestimmen, darauf verfiele niemand. Auch die antike Ethik steht als Ethik über der christlichen. Sie ist in sich selbst gegründet, ganz, kompromissfrei; sie geht durchaus vom einzig möglichen ethischen Ansatzpunkte, der Selbstbestimmung des souveränen Menschen, aus. Wogegen der Christ sich als ethisches Wesen niemals sicher fühlen und ebendeshalb diese Form weder denkend noch lebend ganz erfüllen konnte. Sein Glaube lehrte ihn ja, dass weltliche Größe vor Gott nichts bedeute, dass seine Heimat nicht auf Erden liegt, dass im Himmel der reuige Sünder vor dem Gerechten den Vortritt habe und Stolz vom Übel sei. Gerade Stolz ist aber der normale Exponent aller inneren Haltung. — Doch nicht nur der antike Heide, auch der Jude war, rein ethisch beurteilt, dem Christen überlegen. Hier können wir uns jede abstrakte Erörterung sparen, denn wir besitzen den abschließenden Experimentalbeweis. Als einziges Volk unseres Kulturkreises, zu dessen Wesen Wandlung gehört, haben sich die Juden in ihrer Eigenart ungebrochen und undegeneriert seit prähistorischen Zeiten erhalten, und dies, obgleich sie sich geistig zu aller Zeit als rerum novarum studens erwiesen. Dies kann auf nichts anderem beruhen als ihrem einzig dastehend festgegründeten, weil im Absoluten verwurzelten Ethos und ihrer auf diesem aufgebauten einzig dastehenden Moralität.
Mag einen die Sonderart der jüdischen Haltung ansprechen oder nicht — Haltung an sich im Sinn primären Ethos, also im Sinn der Grundbestimmung des Menschen überhaupt, hat kein Volk je in höherem Grad bewiesen. So erscheint denn ihr artreiner Typus auch heute noch sicherer und vom reinethischen Standpunkt sinngemäßer begründet als der des Christen. Dennoch ist der beste Juden-Typus dem des besten Christen, alles in allem, irgendwie unterlegen; hier darf der consensus gentium wohl als Beweis gelten. Und gleichsinnig hat die Geschichte den Beweis erbracht, dass der noch so vollendete antike Heidentypus dem noch so unvollendeten christlichen nicht gewachsen war. Der antike Mensch starb ja nicht deshalb aus, weil seine völkischen Träger entartet waren; beim Prestige, das sein Typus bis zuletzt genoß, hätte nichts nähergelegen, als dass nun jüngere Völker zu dessen Trägern würden. Der antike Mensch starb aus, weil gerade diese sich zum Christentum bekehrten. Diese historischen Tatsachen dürfen wir deshalb als beweiskräftige Illustrationen unserer These anführen, weil der Sinn alles Ethos und aller Ethik eben in der Erhaltung und Steigerung des Menschentumes liegt. Wo ein Ethos oder eine Ethik sich vom Standpunkt des Mehr- und Besser-Lebens nicht bewähren, dort sind sie vom Leben widerlegt. Und dies zwar nicht im Verstande des Pragmatismus oder gar Utilitarismus, sondern gerade dem der Sinnesverwirklichung. Das bloß Praktische hat niemals werbende Kraft bewiesen durch Generationen hindurch. Wie ist dieser Zusammenhang zu verstehen? Aus zweierlei Ursachen, die ich auf einmal anführe, weil es nicht möglich ist, sie gesondert zu behandeln. Die erste Ursache ist die, dass der Mensch sich selbst, nach innen zu, nicht letzte Instanz ist. Die zweite die, dass die eigene Tendenz aller Objektivierung des ethischen Prinzips nicht dem Guten, sondern dem Bösen zuführt.