Schule des Rades

Hermann Keyserling

Zur Wiedergeburt der Seele

Das religiöse Problem

Geist ist reine Initiative

Das Pathos, das dem Ethos übergeordnet ist, ist also keinesfalls im Sinn moderner Pathiker und Analytiker zu verstehen. Das Christentum siegte über die spätantiken Naturreligionen ebendeshalb, weil es Pathos gegenüber einem höheren Geistigen, nicht dem Natürlichen meinte. Knüpfen wir hier noch einmal an Ludwig Klages an. Dieser ernsteste Geistfeind unserer Zeit — er ist der ernsteste, insofern er der geistigste ist — sieht im Geist ein lebensfeindliches Prinzip. Das ist zunächst nicht falsch, sondern wahr, insofern das Oberflächenethos, seinem natürlichen Gefälle nach, dem Bösen zuführt und der abgeschnürte Intellekt die vitalen Kräfte in der Verdrängung hält, wo sie nur mehr zerstörerisch wirken. Ebenso recht hat Klages zunächst mit seiner Lehre, der Geist gehöre nicht dem Zusammenhange des Lebens an und sei, von diesem her betrachtet, ein Prinzip des Todes. Dennoch ist Klages Akzentlegung nicht allein irrtümlich, sondern wesentlich falsch. Erstens ist, wie wir sahen, Geist lebensfeindlich nur, wo das Prinzip der Trägheit und nicht der Freiheit ihn beherrscht; was überhaupt nur vom Geist im oberflächlichsten Verstande gelten kann, dem Geist als Intellekt oder Moral; tieferer Geist wohnt jenseits möglicher Trägheit; er ist reine Initiative.

Dann aber gehört der Geist nur insofern nicht dem Zusammenhang des Lebens an, als dieses als Vitalität verstanden und in ihr sein Wesentliches gesehen wird. Sein Wesentliches nun ist es ganz unzweifelhaft nicht. Wie in meinen sämtlichen Schriften immer wieder von den verschiedensten Gesichtspunkten aus und auf die verschiedensten Erscheinungen hin gezeigt worden ist, ist Leben, soweit wir es fassen können, vielmehr letztlich Sinn. Hier schafft und erhält der Sinn, als das Geistig-Denkbare, allen Tatbestand, zu dem auch das Leben im Klagesschen Verstand gehört. Schon deshalb ist Klages Scheidung zwischen Geist und Leben, sobald man hinter die Oberfläche dringt, verfehlt. Gerade im Geist residiert das Prinzip und Wesen alles Lebens. Gerade der Geist ist das ursprünglich Lebendige. Und hieraus ergibt sich, dass Klages eigentlicher, alles Besondere erklärende Fehler in der Voraussetzung beschlossen liegt, dass die letzte Lebens-Instanz des Menschen im Erdenleben liegt. Nur insofern sie dort nicht liegt, kann Geist als solcher und jede auf das Geistige überhaupt den Nachdruck legende Weltanschauung und Religion als lebensfeindlich erscheinen, denn wer immer einen Wert relativiert, erscheint als dessen, der in ihm das Letzte sieht, Feind.

Nun ist freilich zuzugeben, dass manche Weltanschauung und Religion überdies in einem parteiischen Sinne lebensfeindlich war; hiervon später. Grundsätzlich aber hat jeder auf den Geist, im Unterschied von der Vitalität, den Nachdruck Legende gerade vom Standpunkt des Lebens recht. Denn dessen Ursprung und Sinn liegt nachweislich nicht im Vergänglichen. Nur von einem Absoluten und Ewig-Wirklichen her sind die Normen überhaupt verständlich, nach denen wir als Geister und Seelen leben und leben müssen. Nur vom Nicht- oder Überirdischen her erhält das Erdenleben überhaupt Sinn. Jede andere Auffassung wird von der bloßen Tatsache des Todes ad absurdum geführt. Die Dinge liegen nicht so, als stelle sich die Frage, ob nun der Mensch jenseits des Irdischen eine mögliche Heimat habe, sondern vom Selbstbewusstsein her betrachtet ist vielmehr Problem, wieso er so sehr an die Erde gebunden erscheinen kann1. Dass die Frage so richtig gestellt ist und so allein, erhellt schon daraus, dass das Erdenleben nur, wo es im Nicht- und Überirdischen verwurzelt ist, vitalisiert erscheint. Daher die einzigartige Vitalisiertheit der Zeiten wahrhaft bestimmender Religiosität im Sinn von Geistes-Religion. Daher die Tatsache, dass Stimmungen wie solche von Klages immer nur unter Entarteten oder Morituri vorgeherrscht haben.

Alle Werte, welche wir anerkennen müssen, alle Maßstäbe, mit denen wir als geistig-seelische Wesen messen, entstammen, so paradox dies dem Verstand erscheine, nichtirdischer Region. Dies erhellt allein schon aus der negativen Erwägung, dass sie im Erdenleben nie verwirklicht und nie ihre adäquate Anwendung finden können. Der Mensch ist letztlich nicht identisch mit dem, was wird und vergeht, so sehr alles, was er empirisch darstellt, erdverhaftet sei. Sein letzter Seinsgrund ruht, in der Sprache von Tod und Ewigkeit ausgedrückt, indem dem Ich übergeordneten Transsubjektiven. Diese Erkenntnis brach in der Westwelt erstmalig rein mit Jesus Christus durch. In ihm zum erstenmal in unserem Kulturkreis ward der geistige Ursprung des Lebens persönlich bewusst. Auf dieses rein Geistige nun bezog sich das christliche Pathos, nicht auf Natur, Schicksal, die Minus-Seite des empirischen Lebens im Sinn von Schmitz. Gewann dieses Pathos mit Jesu Kreuzestod den Anschein, als käme es auf eine überkompensierende Betonung des irdischen Minus gegenüber der irdischen Plusbetonung antiken Herrentums an, so lag das, vom Sinn her beurteilt, an einer Zufälligkeit: dem Umstand, dass das neue Geistbewusstsein der Konjunktur einer masochistischen Menschheitsphase bedurfte, um sich überhaupt zu manifestieren. Hätte Jesus sich als irdischer Sieger bewährt, nie wäre sein Gottes-Wissen als vom antiken und jüdischen wesensverschieden verstanden worden. Dennoch bezog sich das Pathos des Christen von Hause aus nicht auf die Natur, sondern den Geist, wie Jesus nie müde wurde, zu betonen, und nach ihm Paulus. So kam es denn, dass das echt-christliche Pathos im Menschen von Hause aus, sobald, so lange und sooft es nicht missverstanden wurde, ein Ethos extremster Souveränität auslöste, denn auf der reinmenschlichen Ebene machte es ja gerade dieses frei.

Es gab keinen auf der Erden-Ebene selbstbestimmteren Menschen als den frühchristlichen Asketen und Märtyrer; nur wusste er nicht, dass es so war, und die Diskrepanz zwischen Sein und Bewusstsein verdarb das erscheinende Bild. So lag es denn durchaus in der echten Logik der christlichen Entwicklung, dass der Impuls, der ihren Lebensquell bedeutet, nachdem die masochistische Phase überwunden war, eine nie dagewesene Weltgewaltigkeit zur Folge hatte. Gegenüber dieser war die antike Weltgewaltigkeit recht eigentlich ein Kinderspiel — so wie griechische Tempel schon neben gotischen Bauten winzig wirken. Der antike Mensch war eben ausschließlich Mensch. Daher seine unter Kulturvölkern einzig dastehende irdische Vollkommenheit; gleiche eignet sonst nur Tieren. Übermenschliche Kräfte hingegen wirkten durch sein Bewusstsein nicht hindurch. Dementsprechend war die ganze antike Welt grundsätzlich kleinen Formats, sogar noch in der Übergangsform des Römertums, in dem die hellenische Kalokagathie bereits zersprengt war und deshalb Maßlosigkeiten im einzelnen möglich wurden: auch ihre Grundform war nicht der Makrokosmos, sondern der Mikrokosmos, hier also nicht der Erdkreis, sondern die Stadt; gleichsinnig erschien das Göttliche im vergöttlichten Cäsar minimalisiert.

Ist jetzt nicht klar, warum das Christentum das Heidentum besiegen musste? Dem Menschen als Menschen beließ es das Ethos als letzte Instanz; ist dies fast immer verkannt worden, so lag es doch nicht an Christi Intention. Nie und nirgends befürwortete er Pathos gegenüber Natur und Schicksal. Nur um dieses der Spätantike so naheliegende Missverständnis seines Pathos vorzubeugen, stellte er, der seine Worte doch sonst in Gegenstellung zum Judentume wählte, den Sündbegriff so scharf heraus. Dafür schuf Christus eine Religio, eine Bindung an das schlechthin Überweltlich-Geistige, oder er machte sie bewusst. So war denn erst das Christentum, in der Westwelt, im höheren Sinne Religion. Das Judentum war dessen Keimzelle. Das Judentum ist wesentlich Gesetz, d. h. Ethos und Ethik. Dementsprechend waren die Juden von allen Völkern des Mittelmeerkreises allein dagegen gefeit, im Naturhaften zu versinken. Aber sie konnten als Volk keine Religion höchster Art hervorbringen, weil sie zu ethisch waren. Insofern waren sie ein extrem antikes Volk. Das Pathos gegenüber ihrem Gott war und blieb Spannung, nicht Lösung. Wo alle höchsten Religionen irgendein Äquivalent des Gnadebegriffs verwenden, bleibt das letzte Wort der Juden Versöhnung. Die ist nur dort möglich, wo keiner der Teile sich hin- und preisgibt. Dementsprechend musste das Judentum an eine im irdischen Sinn gerechte Weltordnung glauben, die es nicht gibt, musste es aufs Unmögliche verzichten, konnte es die Tragödie als letzte Erdeninstanz nicht akzeptieren. Das hier kurz Skizzierte erklärt allein schon, warum gerade der Jude den Christen nie versteht.

Der indische und ferne Osten kannte echte Religion allerdings von je. Er war von jeher kosmisch zentriert. Deshalb wurde dort der Sündenfall auch nie Problem. Doch ebendeshalb gab es für den Osten auch nie ein religiöses Problem überhaupt. Darum kommt er für unsere Fragestellung nicht in Betracht. Probleme erwachsen überall nur am Konflikte.

1 Man vergleiche die Ausführungen dieses Gedankengangs im Tagungs-Zyklus Mensch und Erde, Der Leuchter 1927.
Hermann Keyserling
Zur Wiedergeburt der Seele · 1927
Das religiöse Problem
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