Schule des Rades

Richard Wilhelm

I Ging · Das Buch der Wandlungen

Drittes Buch: Die Kommentare — Erste Abteilung

I D E O G R A M M

15. Kiën - Die Bescheidenheit

Kernzeichen:Dschen und Kan
Der Herr des Zeichens ist die Neun auf drittem Platz. In dem Zeichen ist sie der einzige lichte Strich, der auf seinem Platz ist und im unteren Zeichen weilt. Das ist das Bild der Bescheidenheit, darum ist das Urteil über den Strich dasselbe wie das über das ganze Zeichen. Der Kommentar sagt von den dritten Strichen vielfach Unheilvolles aus, aber dieser Strich ist sehr heilvoll.
Die Reihenfolge
Wer Großes besitzt, darf es nicht zu voll machen, darum folgt darauf das Zeichen: die Bescheidenheit.
Vermischte Zeichen
Der Bescheidene hat es leicht.
Die Bewegungsrichtung der beiden Zeichen geht nach unten, und zwar so, dass die sinkende Tendenz des oberen Zeichens stärker ist als die des unteren. Dadurch bleibt der Zusammenhang zwischen beiden gesichert. Von den Kernzeichen sinkt das untere, während das obere eine steigende Richtung hat.
Beigefügte Urteile
Bescheidenheit zeigt die Handhabe des Charakters.
Bescheidenheit ehrt und ist leuchtend.
Bescheidenheit dient dazu, die Sitte zu ordnen.
Der gute Charakter hat die Bescheidenheit als seine Handhabe; durch sie kann der gute Charakter ergriffen und angeeignet werden. Sie ist bereit, andere zu ehren, und zeigt sich eben dadurch in schönstem Licht. Sie ist die Gesinnung, die der aufrichtigen Ausübung der Regeln der Sitte zugrunde liegt.
Das Urteil
Bescheidenheit schafft Gelingen.
Der Edle bringt zu Ende.
Kommentar zur Entscheidung
Bescheidenheit schafft Gelingen; denn der Weg des Himmels ist es, nach unten zu wirken und Licht und Helle zu schaffen. Der Weg der Erde ist es, niedrig zu sein und nach oben zu steigen.
Der Weg des Himmels ist es, das Volle leer zu machen und das Bescheidene zu mehren. Der Weg der Erde ist es, das Volle zu verändern und dem Bescheidenen zuzufließen. Die Geister und Götter schaden dem Vollen und beglücken das Bescheidene. Der Weg der Menschen ist es, das Volle zu hassen und das Bescheidene zu lieben.
Bescheidenheit, die geehrt ist, verbreitet Helle. Bescheidenheit, die niedrig ist, kann nicht übergangen werden. Das ist das Ende, das der Edle erreicht.
Es werden hier aus der Gestalt des Zeichens die Worte erklärt, dass Bescheidenheit Gelingen schafft. Die Neun auf drittem Platz ist der Repräsentant der Yangkraft, die sich nach unten gesenkt hat. Er wirkt Licht und Helle – Eigenschaften des Zeichens Gen, der Berg. Das obere Zeichen Kun zeigt die Erde emporgestiegen – das Kernzeichen Dschen hat eine nach oben gehende Bewegung. Auf vierfache Weise wird das Gesetz der Erniedrigung des Stolzen und Erhöhung des Bescheidenen gezeigt:
  1. Im Himmel: Wenn die Sonne kulminiert, wendet sie sich dem Untergang zu; wenn der Mond voll ist, nimmt er ab, und umgekehrt.
  2. Auf der Erde: Hohe Berge werden zu Tälern, Täler zu Hügeln. Das Wasser wendet sich gegen die Höhen und trägt sie ab. Das Wasser – das untere Kernzeichen ist Kan, Wasser – wendet sich der Tiefe zu und füllt sie auf.
  3. Wirkung der Schicksalsmächte: Mächtige Familien ziehen das Verderben auf sich, bescheidene werden groß.
  4. Unter den Menschen: Hochmut zieht Abneigung nach sich, Bescheidenheit gewinnt Liebe. Immer ist der letzte Grund nicht die Außenwelt, die vielmehr nach festen Gesetzen reagiert, sondern der Mensch selbst, der die guten oder bösen Wirkungen je nach seinem Verhalten auf sich zieht. Der Weg sich auszudehnen geht durch Zusammenziehen.
Das Bild
Inmitten der Erde ist ein Berg:
das Bild der Bescheidenheit.
So verringert der Edle, was zu viel ist,
und vermehrt, was zu wenig ist.
Er wägt die Dinge und macht sie gleich.
Die Aktion des Edlen zur Herstellung der durch das Zeichen gegebenen Lage besteht darin, dass er in der steigernden und verringernden Bewegung entsprechend den beiden Kernzeichen nach oben geht – Dschen –, wo das Niedrige (Kun, Erde) ist: Er vermehrt, was zu wenig ist, und umgekehrt nach unten geht – Kan –, wo das Hohe (Gen, Berg) ist. So schafft er Ausgleich.

Die einzelnen Linien

Anfangs eine Sechs bedeutet:
  1. Ein bescheiden-bescheidener Edler
    mag das große Wasser durchqueren. Heil!
  2. Ein bescheiden-bescheidener Edler ist niedrig, um sich sehr zu hüten.

Die doppelte Bescheidenheit ist durch die doppelte Weichheit, weich auf weichem Platz, angedeutet. Das Durchqueren des großen Wassers ist durch das untere Kernzeichen Kan, das vor dem Anfangsstrich liegt, angedeutet. Hier ist die Bescheidenheit an niedriger Stelle, die nicht übergangen werden kann.

Sechs auf zweitem Platz bedeutet:
  1. Sich äußernde Bescheidenheit. Beharrlichkeit bringt Heil.
  2. Sich äußernde Bescheidenheit. Beharrlichkeit bringt Heil.
    Er hat sie mitten im Herzen.

Der Herr des Zeichens, der den Ton angibt, ist Neun auf drittem Platz. Diese zweite Linie nun steht zu ihm in der Beziehung des Zusammenhaltens, darum antwortet sie diesem Ton, äußert sich. Die Linie ist zentral, daher hat sie die Bescheidenheit im Zentrum, im Herzen.

Neun auf drittem Platz bedeutet:
  1. Ein verdienstvoll-bescheidener Edler bringt zu Ende.
    Heil!
  2. Ein verdienstvoll-bescheidener Edler:
    Alles Volk fügt sich ihm.

Das Zeichen Gen, Berg, ist das Zeichen, wo Ende und Anfang sich berühren. Der Strich steht auf der Spitze dieses Zeichens, daher der Gedanke der Arbeit, die zu Ende führt. Die drei oberen Linien gehören zum Zeichen Kun, das die Massen und Hingebung bedeutet. Der Yangstrich auf dritter Stelle ist der dritte Strich des Zeichens Kiën, das Schöpferische, der sich auch durch unermüdliche Arbeit auszeichnet.
Der Meister sprach: Wenn man sich seiner Mühen nicht rühmt und seine Verdienste sich nicht zur Tugend anrechnet, das ist höchste Großzügigkeit. Das heißt, dass man sich mit seinen Verdiensten unter andere stellt. In seiner Art herrlich, in seinen Sitten ehrfurchtsvoll, ist der Bescheidene äußerst ehrfurchtsvoll, und deshalb vermag er seine Stellung zu wahren.

Sechs auf viertem Platz bedeutet:
  1. Nichts, das nicht fördernd wäre
    für Bescheidenheit in der Bewegung.
  2. Nichts, das nicht fördernd wäre für Bescheidenheit in der Bewegung.
    Er übertritt die Regel nicht.

Der Strich, weich auf weicher Stelle, ganz zu unterst des Zeichens Kun, dessen Eigenschaft Hingebung ist, vermittelt zwischen Neun auf drittem Platz und Sechs auf fünftem Platz. Er steht inmitten des Kernzeichens Dschen, die Bewegung, daher der Gedanke der Bewegung, wörtlich des Winkens.

Sechs auf fünftem Platz bedeutet:
  1. Nicht pochen auf Reichtum seinem Nächsten gegenüber.
    Fördernd ist es, mit Gewalt anzugreifen.
    Nichts, das nicht fördernd wäre.
  2. Fördernd ist es, mit Gewalt anzugreifen, um die Unfügsamen zu züchtigen.

Der Strich ist zentral und an geehrtem Platz, dennoch weich. Er vereinigt die Tugenden des Herrschers. Er ist leer, daher nicht pochend auf seinen Reichtum. Er ist im Zentrum des Zeichens Kun, das die Massen bedeutet, oberhalb des Kernzeichens Kan, das Gefahr bedeutet, daher der Gedanke der Züchtigung.

Oben eine Sechs bedeutet:
  1. Sich äußernde Bescheidenheit.
    Fördernd ist es, Heere marschieren zu lassen,
    um die eigene Stadt und das eigene Land zu züchtigen.
  2. Sich äußernde Bescheidenheit. Die Absicht ist noch nicht erreicht.
    Man mag Heere marschieren lassen, eben um die eigene Stadt und das eigene Land zu züchtigen.

Dieser Strich steht zum Herrn des Zeichens, Neun auf drittem Platz, im Verhältnis des Entsprechens; daher, aus ähnlichen Gründen wie bei Sechs auf zweitem Platz, sich äußernde Bescheidenheit. Das obere Zeichen, Kun, verbunden mit dem unteren Kernzeichen, Kan, gibt das Zeichen für Heer. Das Zeichen Kun deutet ferner die Stadt und das Land an. Der Wille ist noch nicht erreicht, weil die Linie von Neun auf drittem Platz, zu der sie strebt, sehr weit entfernt ist, daher das Züchtigen durch Heere, um zusammenzukommen.