Schule des Rades

Richard Wilhelm

I Ging · Das Buch der Wandlungen

Drittes Buch: Die Kommentare — Zweite Abteilung

I D E O G R A M M

57. Sun - Das Sanfte, (das Eindringliche, der Wind)

Kernzeichen:Li und Dui
Obwohl das Zeichen durch die beiden Yinstriche bestimmt wird, so ist unter den weiblichen Zeichen nur das eine Zeichen Li, das Haftende, in dem die Yinstriche die Herren sind, weil sie da in der Mitte sich befinden. Die beiden Yinstriche in dem Zeichen das Sanfte sind die konstituierenden Herren des Zeichens, aber sie können nicht als beherrschende Herren angesehen werden. Der beherrschende Herr ist vielmehr die Neun auf fünftem Platz; die Gebote verbreiten und seine Geschäfte wirken kann nur, wer auf geehrtem Platz ist. Wenn es darum im Kommentar zur Entscheidung heißt: Das Feste dringt in die Mitte und das Korrekte, und sein Wille geschieht, so bezieht sich das auf den fünften Strich.
Die Reihenfolge
Der Wanderer hat nichts, das ihn aufnehme, darum folgt darauf das Zeichen: das Sanfte, das Eindringliche. Das Sanfte bedeutet Hineingehen.
Der Sinn ist, dass der Wanderer nichts hat, da er in seiner Verlassenheit bleiben kann, und dass daher Sun folgt, das Zeichen der Heimkehr.
Vermischte Zeichen
Das Sanfte bedeutet sich ducken.
Der dunkle Strich ist unten, er duckt sich unter die lichten Striche, und eben durch dieses sanfte Ducken gelingt es ihm, einzudringen unter die starken Striche.
Beigefügte Urteile
Das Zeichen das Sanfte zeigt die Betätigung des Charakters. Durch das Sanfte vermag man die Dinge zu wägen und verborgen zu bleiben. Durch das Sanfte vermag man die besonderen Umstände zu berücksichtigen.
Das sanfte Eindringen verleiht dem Charakter die Fähigkeit, die Außenwelt zu beeinflussen und in die Hand zu bekommen. Denn man vermag auf diese Weise die Dinge ihrem inneren Wesen nach zu verstehen, ohne dass man selbst hervorzutreten braucht. Hier liegt die Macht des Einflusses. Von hier aus vermag man die Ausnahmen zu machen, die durch die Zeit erfordert sind, ohne dass man inkonsequent wäre.
Das Zeichen Sun hat unter den acht Zeichen den südöstlichen Platz zwischen Frühling und Sommer und bedeutet das Einströmen der Wesen in ihre Formen, Taufe und Belebung.
Das Urteil
Das Sanfte. Durch Kleines Gelingen.
Fördernd ist es, zu haben, wohin man geht.
Fördernd ist es, den großen Mann zu sehen.
Kommentar zur Entscheidung
Wiederholtes Eindringen, um Gebote zu verbreiten. Das Feste dringt ein in die Mitte und das Korrekte, und sein Wille geschieht.
Die Weichen fügen sich beide den Festen, darum heißt es: Durch Kleines Gelingen. Fördernd ist es, zu haben, wohin man geht. Fördernd ist es, den großen Mann zu sehen.
Das Zeichen setzt sich aus dem wiederholten Trigramm Sun zusammen. Sun bedeutet einerseits Sanftheit, Anpassung, andererseits Eindringen. Beim Erteilen von Geboten kommt alles darauf an, dass sie wirklich eindringen in das Bewusstsein der Untergebenen. Dies geschieht dadurch, dass sie ihrem Verständnis angepasst werden. Es handelt sich um ein doppeltes Eindringen. Zunächst das Eindringen des Befehls in das Gefühl des Untertanen, wo es das in verborgenen Falten wohnende Böse zerteilt wie der Wind die Wolken, und ein noch tieferes Eindringen in die Tiefen des Bewusstseins, wo das verborgene Gute geweckt werden soll. Die Befehle müssen wiederholt gegeben werden, damit sie so wirken*.
Im weiteren wird aus der Gestalt des Zeichens der Text erklärt. Der Starke, der in den zentralen und für ihn korrekten Platz eingedrungen ist, ist die Neun auf fünftem Platz; darum geschieht sein Wille, und es ist günstig, etwas zu unternehmen. Die weichen Linien auf dem Anfangs- und vierten Platz gehorchen dem festen Herrn des Zeichens über ihnen. Darum ist das Gelingen ans Kleine gebunden, für das es fördernd ist, den großen Mann zu sehen (Neun auf fünftem Platz).
Das Bild
Einander folgende Winde:
das Bild des sanft Eindringenden.
So verbreitet der Edle seine Gebote
und wirkt seine Geschäfte.
Von den beiden Winden vertreibt der erste die Widerstände: verbreitet die Gebote. Der zweite wirkt das Werk: wirkt seine Geschäfte.

Die einzelnen Linien

Anfangs eine Sechs bedeutet:
  1. Beim Vorgehen und Rückweichen
    ist fördernd die Beharrlichkeit eines Kriegers.
  2. Vorgehen und Rückweichen:
    der Wille ist im Zweifel.
    Fördernd ist die Beharrlichkeit eines Kriegers.
    Der Wille ist beherrscht.

Die Linie ist weich und ganz unten im Zeichen des Sanften, daher die Unentschlossenheit, aber indem sie sich der starken Linie über ihr unterwirft, bekommt sie den Halt militärischer Disziplin.

Neun auf zweitem Platz bedeutet:
  1. Eindringen unter das Bett.
    Man benützt Priester und Magier in großer Zahl.
    Heil! Kein Makel.
  2. Das Heil der großen Zahl beruht darauf, dass man die Mitte erlangt hat.

Die Linie ist stark, aber zentral, daher hat sie Heil. Das Zeichen Sun bedeutet Holz, der geteilte Strich unten die Beine, daher das Bild des Bettes. Das Kernzeichen Dui bedeutet Mund und Magier. Indem der Strich sich dem starken, gleichgearteten Herrn des Zeichens fügt, kann er ihm behilflich sein, die Befehle auszubreiten, indem er eindringt in die geheimsten Winkel. Die Priester sind die Vermittler der Menschen den Göttern gegenüber, die Magier die Vermittler der Götter den Menschen gegenüber. So ist hier eine Durchdringung der Gebiete der sichtbaren und der unsichtbaren Welt, die es ermöglicht, dass alles zurechtkommt.

Neun auf drittem Platz bedeutet:
  1. Wiederholtes Eindringen. Beschämung.
  2. Die Beschämung des wiederholten Eindringens kommt davon, dass der Wille sich erschöpft.

Der dritte Platz ist inmitten der beiden Sunzeichen: das eine ist zu Ende, das andere beginnt eben; daher das wiederholte Eindringen. Die Neun auf drittem Platz ist zu hart und nicht zentral. Obwohl diese Art nicht geeignet ist zu sanftem Eindringen in den Kern der Dinge, versucht man es doch. Dabei kommt es zu keinem Resultat, es bleibt bei unentschlossenem Schwanken.

Sechs auf viertem Platz bedeutet:
  1. Reue schwindet.
    Auf der Jagd fangt man drei Arten von Wild.
  2. Auf der Jagd fängt man drei Arten von Wild.
    Das ist verdienstvoll.

Das Kernzeichen Li bedeutet Waffen und daher Jagd. Die Sechs auf viertem Platz ist korrekt, unterwirft sich dem Herrscher und bringt ihm die drei unteren Striche zu, dadurch erwirbt sie sich Verdienst, und die Reue, die durch übermäßige Schwäche bedingt sein könnte, schwindet.

Neun auf fünftem Platz bedeutet:
  1. Beharrlichkeit bringt Heil. Reue schwindet.
    Nichts, das nicht fördernd ist.
    Kein Anfang, aber ein Ende.
    Vor der Änderung drei Tage,
    nach der Änderung drei Tage. Heil!
  2. Das Heil der Neun auf fünftem Platz beruht darauf, dass der Platz korrekt und zentral ist.

Der Strich ist im Zentrum als Herr des Zeichens, darum geht von ihm die Beeinflussung durch Befehle aus, die für das Zeichen die charakteristische Handlung ist. Im Unterschied zu dem Zeichen Gu (die Arbeit am Verdorbenen, Nr. 18), wo es sich um Ausgleich des von Vater und Mutter Verdorbenen handelt, ist hier die Arbeit an der Öffentlichkeit gezeichnet. Dafür ist charakteristisch nicht sowohl die Mängel deckende Liebe, als die richtende Gerechtigkeit, wie sie charakterisiert ist durch den Westen (Metall, Herbst), dem das Zeichen Gong (übersetzt mit Änderung, das siebente der zyklischen Zeichen) beigeordnet ist. Um Befehle durchzusetzen, muss erst der falsche Anfang beseitigt, dann das gute Ende erreicht werden, daher der Ausdruck Kein Anfang, aber ein Ende. Dieser Satz wird ausgeführt durch die Worte: Vor dem Zeichen Gong drei Tage, nach dem Zeichen Gong drei Tage. Es handelt sich also um ein richtendes Beseitigen dessen, was als falscher Anfang sich entwickelt hat. Drei Tage vor Gong ist der Sommer im Absteigen; dann kommt das Ende. Drei Tage nach Gong ist der Winter als Abschluss. Während also nach vorne der Anfang nicht erreicht ist, ist wenigstens das Ende in Reichweite. (Anders als bei dem Zeichen Gu, Nr. 18, das eben im Zentrum zwischen Ende und Anfang liegt.)

Oben eine Neun bedeutet:
  1. Eindringen unter das Bett.
    Er verliert seinen Besitz und seine Axt.
    Beharrlichkeit bringt Unheil.
  2. Eindringen unter das Bett.
    Oben ist es zu Ende.
    Er verliert seinen Besitz und seine Axt.
    Ist das recht?
    Es ist von Unheil.

Während der zweite Strich bei seinem Eindringen unter das Bett die Verbindung zwischen oben und unten herstellt, so dass alles in Ordnung kommt, ist das Eindringen unter das Bett hier nur Unselbständigkeit und Haltlosigkeit. Dadurch verliert er seinen Besitz an Festigkeit (der an sich starke Strich verliert seine Stärke, weil er auf dem Gipfel der Sanftheit ist) und seine Axt (das Kernzeichen Dui bedeutet Metall), so dass er keine Entscheidung mehr fällen kann. Diese Haltung beharrlich beibehalten ist entschieden vom Übel.

Anmerkung:
*Vgl. die modernen Theorien über das Wesen der Suggestion.