Schule des Rades

Richard Wilhelm

I Ging · Das Buch der Wandlungen

Drittes Buch: Die Kommentare — Erste Abteilung

I D E O G R A M M

6. Sung - Der Streit

Kernzeichen:Sun und Li
Der Herr des Zeichens ist die Neun auf fünftem Platz. Alle andern Linien stellen Streitende dar, die Neun auf fünftem Platz ist der den Streit Anhörende. Darauf bezieht sich der Satz im Kommentar zur Entscheidung: Fördernd ist es, den großen Mann zu sehen; dadurch wird seine zentrale und korrekte Stellung geehrt.
Die Reihenfolge
Über Speise und Trank kommt es sicher zum Streit.
Darum folgt darauf das Zeichen: der Streit.
Vermischte Zeichen
Streit bedeutet: nicht lieben.
Das Urteil
Der Streit: Du bist wahrhaftig und wirst gehemmt.
Sorgliches Innehalten auf halbem Weg bringt Heil.
Zu Ende führen bringt Unheil.
Fördernd ist es, den großen Mann zu sehen.
Nicht fördernd ist es, das große Wasser zu durchqueren.
Kommentar zur Entscheidung
Der Streit: oben ist Stärke, unten Gefahr.
Gefahr und Stärke geben Streit.
Der Streitende ist wahrhaftig und wird gehemmt.
Das Feste kommt und erlangt die Mitte.
Zu Ende führen bringt Unheil.
Den Streit darf man nicht sich verfestigen lassen.
Fördernd ist es, den großen Mann zu sehen;
dadurch wird seine zentrale und korrekte Stellung geehrt.
Nicht fördernd ist es, das große Wasser zu durchqueren,
denn dadurch käme man in den Abgrund.
Aus den Eigenschaften der beiden Halbzeichen Kiën, Stärke, und Kan, Gefahr, wird der Name des Zeichens Streit abgeleitet; wenn Stärke oben und Hinterlist unten ist, so kommt es zum Streit zwischen den beiden so beschaffenen Gegnern. Ebenso aber wird jemand zum Streit mit andern geneigt sein, wenn er innerlich arglistig und äußerlich stark ist.
Der Streitende ist wahrhaftig und wird gehemmt. Dieser Streitende ist der zweite Strich. Er befindet sich im inneren Zeichen, darum heißt es: Er kommt. Indem er als Starker die Mitte einnimmt, deutet er auf Wahrhaftigkeit, denn er macht die Mitte reell; indem er zwischen den beiden Yinstrichen eingeschlossen ist, wird er gehemmt. Der große Mann ist der zentrale und korrekte Strich auf fünftem Platz. Der Richter, der zu entscheiden hat, weilt außerhalb der gefährlichen Situation. Nur indem er unparteiisch ist, kann er gerecht entscheiden. Der Abgrund, in den man durch Durchqueren des großen Wassers käme, wird angedeutet durch das Zeichen Kan, Gefahr. Das Durchqueren des großen Wassers wird angedeutet durch das Kernzeichen Sun, Holz, über dem unteren Halbzeichen Kan, Wasser.
Das Zeichen ist die Umkehr des vorigen: daher hier das Streiten, während dort die Geduld war. Aber obwohl das Zeichen als Zeitsinn den Streit hat, lehrt es doch auf Schritt und Tritt, den Streit zu vermeiden.
Das Bild
Himmel und Wasser gehen einander entgegengesetzt:
das Bild des Streites.
So überlegt der Edle bei allen Geschäften, die er tut, den Anfang.
Die Bewegung des oberen Zeichens, Himmel, geht nach oben, die des unteren Zeichens, Wasser, geht nach unten; so gehen sie immer weiter auseinander und bilden Streit. Um dem zu entgehen, ist bei allen Geschäften (angedeutet durch das Kernzeichen Sun, das Arbeit, Unternehmung bedeutet) Überlegung (Kan bedeutet besorgt sein, das Kernzeichen Li bedeutet Klarheit) des Anfangs (Kiën ist der Anfang aller Dinge) nötig.

Die einzelnen Linien

Anfangs eine Sechs bedeutet:
  1. Wenn man die Sache nicht verewigt,
    so gibt es ein kleines Gerede.
    Am Ende kommt Heil.
  2. Die Sache nicht verewigen.
    Den Streit darf man nicht verlängern.
    Obwohl es ein kleines Gerede gibt,
    wird die Sache endlich klar entschieden.

Die Sechs ist schwach und ganz unten. Obwohl sie daher mit der zunächststehenden Neun, die von außen her kommt, ein wenig Wortwechsel hat, kann sie nicht dauernd streiten, weil Platz und Art zu schwach dazu sind; doch hat das darüberstehende Kernzeichen Li Klarheit als Eigenschaft, weshalb sich doch schließlich alles gerecht entscheidet, was in einem Streitfall Glück bedeutet. Indem die Sechs sich wandelt, entsteht das Zeichen Dui, das Reden bedeutet.

Neun auf zweitem Platz bedeutet:
  1. Man kann nicht streiten, kehrt heim und weicht aus.
    Die Menschen seiner Stadt, dreihundert Häuser,
    bleiben frei von Schuld.
  2. Man kann nicht streiten, kehrt heim und weicht aus. So entkommt man.
    Von unten zu streiten mit einem Oberen bringt selbstverschuldetes Leid.

Man kann nicht streiten, obwohl bei dem harten Strich inmitten des Zeichens das Abgründige die Absicht, mit der Neun auf fünftem Platz zu streiten, an sich vorliegt. Der Strich – als Neunbewegt sich, d. h. verwandelt sich in einen Yinstrich; damit verbirgt er sich, und mit den andern beiden Yinstrichen bildet er die Stadt von dreihundert Familien, die ohne Verwicklung bleibt.

Sechs auf drittem Platz bedeutet:
  1. Von alter Tugend sich nähren gibt Beharrlichkeit.
    Gefahr, am Ende kommt Heil.
    Folgst du etwa eines Königs Diensten,
    so suche nicht Werke.
  2. Von alter Tugend sich nähren. Dem Oberen folgen bringt Heil.

Der Strich ist schwach, nicht korrekt, weil auf starkem Platz. Oben und unten sind starke Striche, die ihn einschließen. Zudem ist er am Platz des Überganges, also innerlich unruhig. Das alles sind Gefahrmomente. Doch geht alles gut, wenn er sich mit dem von den Ahnen her ehrlich Erworbenen begnügt. Der Strich entspricht dem dritten Strich des Mutterzeichens Kun, dessen Orakel daher hier auch teilweise wiederholt ist.

Neun auf viertem Platz bedeutet:
  1. Man kann nicht streiten,
    kehrt um und fügt sich dem Geschick,
    ändert sich und findet Frieden in Beharrlichkeit.
    Heil!
  2. Man kehrt um und fügt sich dem Geschick, ändert sich und findet Frieden in Beharrlichkeit. Damit ist nichts verloren.

Der Strich ist nicht zentral und nicht korrekt, also hat er ursprünglich die Absicht zu streiten. Aber er kann nicht. Über ihm ist der starke Richter auf fünftem Platz, mit dem es nicht angeht zu streiten. Unter ihm ist die schwache Linie auf drittem Platz, und in Beziehung des Entsprechens zu ihm ist die schwache Linie auf dem Anfangsplatz, die beide keinen Anlass zum Streiten geben. Durch seine Stellung auf weichem Platz ist für den Strich die Möglichkeit gegeben zur Bekehrung und zur Abkehrung vom Streit.

Neun auf fünftem Platz bedeutet:
  1. Streiten vor ihm bringt erhabenes Heil.
  2. Streiten vor ihm bringt erhabenes Heil,
    weil er zentral und korrekt ist.

Hier ist der Herr des Zeichens, der auf geehrter Stelle, zentral, korrekt und stark ist. Das alles macht ihn geeignet für die Aufgabe, den Streit zu schlichten, so dass von ihm großes Heil ausgeht.

Oben eine Neun bedeutet:
  1. Wenn einem etwa auch ein Ledergürtel verliehen wird,
    am Ende eines Morgens wird er ihm dreimal entrissen.
  2. Durch Streit Auszeichnung zu erlangen, ist dennoch nichts Verehrenswertes.

Ein starker Strich auf der Höhe des Streits sucht durch Streit sich Auszeichnungen zu gewinnen. Allein das hält nicht vor.

Anmerkung:
Die Neun auf fünftem Platz ist der Richter, die andern Striche sind die Streitenden. Aber nur die starken Striche streiten wirklich. Die schwachen Linien auf dem ersten und dritten Platz halten sich zurück. Die Striche auf zweitem und viertem Platz sind stark und daher von Natur zum Streiten aufgelegt. Aber mit dem Richter auf fünftem Platz können sie nicht streiten, und die schwachen Striche unter ihnen leisten keinen Widerstand. Darum ziehen auch sie sich aus dem Streit rechtzeitig zurück. Nur der obere starke Strich führt den Streit bis zu Ende, und da er zu der schwachen Linie auf drittem Platz in Beziehung des Entsprechens steht, behält er recht und erhält eine Auszeichnung. Doch ist der Strich dem oberen Strich des Zeichens Kiën, dem hochmütigen Drachen, analog. Er wird es zu bereuen haben. Was durch Gewalt gewonnen wird, wird durch Gewalt entrissen.