Schule des Rades

Richard Wilhelm

I Ging · Das Buch der Wandlungen

Drittes Buch: Die Kommentare — Zweite Abteilung

I D E O G R A M M

64. We Dsi - Vor der Vollendung

Kernzeichen:Kan und Li
Der Herr des Zeichens ist die Sechs auf fünftem Platz; denn die Zeit vor der Vollendung ist eine Zeit, da anfangs Wirren und am Ende Ordnung herrschen. Die Sechs auf fünftem Platz ist im äußeren Zeichen und eröffnet gerade die Zeit der Ordnung. Darum heißt es im Kommentar zur Entscheidung: Vor der Vollendung. Gelingen. Denn das Weiche erlangt die Mitte.
Die Reihenfolge
Die Dinge können sich nicht erschöpfen, darum folgt darauf das Zeichen Vor der Vollendung zum Schluss.
Vermischte Zeichen
Vor der Vollendung ist die Erschöpfung des Männlichen.
Das Zeichen ist gleichzeitig Umkehrung und Gegenstück zum vorigen. Ebenso sind die Kernzeichen Kan und Li vertauscht. Das Zeichen stellt den Übergang von Pi, Stockung, zu Tai, Friede, dar. Äußerlich betrachtet sind zwar alle Striche nicht auf ihrem Platz, aber sie stehen alle in Beziehung zueinander. Die Ordnung ist bei äußerer Erscheinung einer vollkommenen Unordnung innerlich schon präformiert. Der mittlere starke Strich ist von oben nach unten gegangen und hat damit die Verbindung hergestellt. Zwar steht noch nicht Kun oben und Kiën unten wie beim Zeichen Tai, aber ihre Vertreter, die mit dem mittelsten Strich ihren Geist und ihre Wirkung in sich haben: Li und Kan. Sie sind in der Welt der Sichtbarkeit (späterer Himmel) die Vertreter von Kun und Kiën und stehen an deren Platz im Süden (Li) und im Norden (Kan).
Das Urteil
Vor der Vollendung. Gelingen.
Wenn aber der kleine Fuchs,
wenn er beinahe den Übergang vollendet hat,
mit dem Schwanz ins Wasser kommt,
dann ist nichts, das fördernd wäre.
Kommentar zur Entscheidung
Vor der Vollendung. Gelingen.
Denn das Weiche erlangt die Mitte.
Der kleine Fuchs hat beinahe den Übergang vollendet.
Er ist noch nicht über die Mitte hinaus.
Er kommt mit dem Schwanz ins Wasser, dann ist nichts, das fördernd wäre.
Denn es geht nicht fort bis zum Ende.
Obwohl die Linien nicht auf den gebührenden Plätzen sind, so entsprechen sich doch feste und weiche.
Kan hat als Bild den Fuchs und ist andererseits das Wasser. Es ist Hoffnung auf Gelingen da, weil die festen und weichen Linien alle einander entsprechen. Der Herr des Zeichens, Sechs auf fünftem Platz, hat die Mitte erlangt, und damit ist die richtige Gesinnung für die Bewirkung der Vollendung gegeben. Die Neun auf zweitem Platz dagegen ist noch nicht über die Mitte hinaus, in ihrem Fall ist das gefährlich. Der starke Strich ist eingeklemmt zwischen die beiden Yinlinien. Er verlässt sich zu sehr auf seine Stärke – wie der unvorsichtige junge Fuchs, der blindlings übers Eis geht. Darum macht er seinen Schwanz naß, der Übergang gelingt nicht.
Das Bild
Das Feuer ist oberhalb des Wassers:
das Bild des Zustands vor dem Übergang.
So ist der Edle vorsichtig in der Unterscheidung der
Dinge, damit jedes auf seinen Platz kommt.
Das Feuer schlägt nach oben, das Wasser dringt nach unten, daher keine Vollendung. Wollte man sie gewaltsam durchführen, so entstünde Schaden. Darum muss man teilen, um zu verbinden. Man muss die Dinge so sorgfältig an ihren Platz stellen wie Feuer und Wasser, damit sie sich nicht bekämpfen.

Die einzelnen Linien

Anfangs eine Sechs bedeutet:
  1. Er kommt mit dem Schwanz ins Wasser.
    Beschämend.
  2. Er kommt mit dem Schwanz ins Wasser.
    Er kann eben nicht das Ende in Betracht ziehen.

Es finden sich hier dieselben Bilder wie beim vorigen Zeichen, wenn auch etwas anders verteilt. Die Anfangslinie ist der Schwanz. Sie ist schwach, ganz unten in gefährlicher Stellung, daher kennt sie die Konsequenzen der Handlungen nicht, will leichtsinnig übersetzen und hat Misslingen.

Neun auf zweitem Platz bedeutet:
  1. Er hemmt seine Räder.
    Beharrlichkeit bringt Heil.
  2. Die Neun auf zweitem Platz hat bei Beharrlichkeit Heil.
    Sie ist zentral und handelt so korrekt.

Hier ist das Bild des Rads und des Hemmens, das beim vorigen Zeichen dem ersten Strich vermöge seiner Stärke zugeteilt war, auf den starken zweiten Strich übertragen. Seine Stärke und Korrektheit gibt günstige Aspekte.

Sechs auf drittem Platz bedeutet:
  1. Vor der Vollendung bringt Angriff Unheil.
    Fördernd ist es, das große Wasser zu durchqueren.
  2. Vor der Vollendung bringt Angriff Unheil.
    Der Platz ist nicht der gebührende.

Der Platz ist am Ende des unteren Zeichens Gefahr, so dass Vollendung möglich wäre. Aber er ist schwach und andererseits am Anfang des Kernzeichens Kan, so dass sich eine neue Gefahr erhebt, die ihn bei seinem für den entscheidenden Platz zu schwachen Wesen hemmt. Man darf nicht die Vollendung erzwingen wollen, sondern es ist wichtig, aus den ganzen Verhältnissen herauszukommen. Eine Änderung des Wesens ist nötig.
Dadurch, dass der Strich aus einer Sechs zu einer Neun wird, entsteht unten das Zeichen Sun, das in Verbindung mit dem Urzeichen Kan das Bild des Schiffs über Wasser zeigt, daher Durchquerung des großen Wassers.

Neun auf viertem Platz bedeutet:
  1. Beharrlichkeit bringt Heil. Reue schwindet.
    Erschütterung, um das Teufelsland zu züchtigen.
    Drei Jahre lang gibt es Belohnung mit großen Reichen.
  2. Beharrlichkeit bringt Heil. Die Reue schwindet.
    Der Wille geschieht.

Entsprechend der Umkehrung der Zeichen ist die Züchtigung des Teufelslands, die beim letzten Zeichen beim dritten Strich erwähnt war, hier beim vierten genannt. Der Erfolg ist günstiger als dort. Dort gibt es drei Jahre lang Kämpfe, hier drei Jahre lang Belohnungen.
Der Strich ist ein starker Beamter, der dem weichen Herrn auf fünftem Platz hilft und daher dessen Willen durchsetzt.

Sechs auf fünftem Platz bedeutet:
  1. Beharrlichkeit bringt Heil. Keine Reue.
    Das Licht des Edlen ist wahrhaftig.
    Heil!
  2. Das Licht des Edlen ist wahrhaftig.
    Sein Licht bringt Heil.

Die Linie ist im Zentrum des Zeichens Li, Licht, daher ist alles günstig bei der Bewältigung des Übergangs zu einer neuen Zeit.

Oben eine Neun bedeutet:
  1. In wahrem Vertrauen trinkt man Wein.
    Kein Makel. Wenn man aber sein Haupt naß macht,
    so verliert man das in Wahrheit.
  2. Wenn man beim Weintrinken sein Haupt naß macht, so kennt man eben keine Mäßigkeit.

Der obere Strich ist stark und an sich günstig. Durch das Zeichen Kan, zu dessen oberem Strich er in Beziehung steht, wird das Bild des Weins gegeben. Auch hier kommt wie im vorigen Zeichen das Bild des Hauptes herein, das begossen wird. Aber es ist nur eine Möglichkeit, eine Gefahr, vor der man sich schützen kann.

So ist am Abschluss des Buchs der Wandlungen eine Verzahnung stehengelassen, die zu neuer Gestaltung und neuem Werden führt. Derselbe Gedanke kommt übrigens auch bei den vermischten Zeichen zum Ausdruck, wenn sie das Zeichen Guai der Durchbruch an den Schluss stellen und mit dem Satz schließen:
Der Durchbruch bedeutet Entschlossenheit. Das Starke wendet sich entschlossen gegen das Schwache. Des Edlen Weg ist im Aufsteigen, des Gemeinen Weg führt in Trauer.