Schule des Rades

Richard Wilhelm

I Ging · Das Buch der Wandlungen

Drittes Buch: Die Kommentare — Erste Abteilung

I D E O G R A M M

9. Siau Tschu - Des Kleinen Zähmungskraft

Kernzeichen:Li und Dui
Die Sechs auf viertem Platz ist der konstituierende Herr des Zeichens, und die Neun auf fünftem Platz ist der beherrschende Herr des Zeichens. Die Sechs auf viertem Platz bezähmt als einzelne Yinlinie die Yangstriche; darauf bezieht sich der Satz des Kommentars zur Entscheidung: Das Weiche erhält den Platz, und Obere und Untere entsprechen ihm. Die Neun auf fünftem Platz stimmt in der Gesinnung mit ihm überein, um seine Zähmung zu vollenden; darum heißt es im Kommentar zur Entscheidung: Das Feste ist zentral, und sein Wille geschieht.
Die Reihenfolge
Durch Zusammenhalten kommt es sicher zur Zähmung. Darum folgt darauf: des Kleinen Zähmungskraft.
Vermischte Zeichen
Des Kleinen Zähmungskraft ist gering.
Das ist mit Rücksicht darauf gesagt, dass das Kleine hier auf dem Platze des Beamten ist; vgl. das Zeichen Da Yu, der Besitz von Großem, Nr. 14, wo das Kleine, Weiche auf dem Platz des Herrschers ist.
Das Urteil
Des Kleinen Zähmungskraft hat Gelingen.
Dichte Wolken, kein Regen von unserm westlichen Gebiet.
Kommentar zur Entscheidung
Des Kleinen Zähmungskraft: das Weiche erhält den entscheidenden Platz, und Obere und Untere entsprechen ihm: das heißt des Kleinen Zähmungskraft. Stark und sanft: das Starke ist zentral, und sein Wille geschieht, darum Gelingen.
Dichte Wolken, kein Regen: die Bewegung geht noch weiter. Von unserm westlichen Gebiet: die Wirkung ist noch nicht eingetreten.
Der kleine weiche Strich auf dem Platz des Ministers hat den entscheidenden Platz. Die festen Striche oben und unten entsprechen ihm alle: das ist die Gestalt des Zeichens, aus der sich der Name erklärt.
Das Gelingen hängt von dem Charakter der beiden Halbzeichen, innerer Stärke bei äußerer Sanftheit, ab. Das ist der Weg, etwas zu erreichen. Zudem ist der Herrscher zentral, und sein Wille geschieht. Das obere Zeichen Wind ist zwar stark genug, um die vom Zeichen Kiën aufsteigenden Dünste zu konzentrieren, so dass Wolken entstehen, aber seine Kraft reicht nicht aus, dass Regen entsteht. Das westliche Gebiet wird angedeutet durch die ursprüngliche Stellung von Sun, die im Westen war (in der Stellung der Zeichen des früheren Himmels. Im späteren Himmel hat Dui, der See, die Stellung im Westen). Wenn der See, Dui, über dem Schöpferischen steht, so entsteht das Zeichen: der Durchbruch. Da ist das Wasser bereits niedergeschlagen und wird mit Leichtigkeit herunterkommen. Hier ist Dui nur als Kernzeichen über Kiën, noch nicht getrennt. In China kommen die Regenwolken stets von Osten, vom Meer her, nicht von Westen.
Das Bild
Der Wind fährt über den Himmel hin:
das Bild der Zähmungskraft des Kleinen.
So verfeinert der Edle die äußere Form seines Wesens.
Der Wind dringt überall ein, das bedeutet die Verfeinerung. Das untere Zeichen ist der Himmel, das bedeutet das Wesen des Charakters. Das obere Kernzeichen ist Li, das bedeutet die Form. Diese Verfeinerung der äußeren Form ist gegenüber der Durchführung der Grundsätze das Kleine.

Die einzelnen Linien

Anfangs eine Neun bedeutet:
  1. Wiederkehr auf den Weg. Wie wäre das ein Makel! Heil!
  2. Wiederkehr auf den Weg.
    Das ist etwas, das von heilvoller Bedeutung ist.

Der starke Yangstrich, der zu dem aufsteigenden Zeichen Kiën gehört, strebt von Natur nach oben, wird aber von der weichen Linie auf viertem Platz aufgehalten. Da er zu ihr im Verhältnis des Entsprechens steht, zieht er sich ohne Widerspruch wieder zurück, so dass jeder Kampf vermieden wird. Darauf beruht das Heil.

Neun auf zweitem Platz bedeutet:
  1. Lässt sich mitziehen zur Wiederkehr. Heil!
  2. Das Mitgezogenwerden zur Wiederkehr beruht auf der zentralen Stellung. Er verliert sich auch nicht.

Die Linie ist höher als die erste und strebt von Natur ebenfalls nach oben. Aber sie schließt sich der ersten auf dem Weg des kampflosen Rückzugs an infolge ihrer zentralen und maßvollen Stellung im unteren Zeichen Kiën. Damit nimmt sie eine Haltung ein, in der sie sich nicht verliert bzw. wegwirft, was der Fall wäre, wenn sie trotz der Hemmung durch die vierte Linie sich anbieten wollte.

Neun auf drittem Platz bedeutet:
  1. Dem Wagen springen die Speichen ab.
    Mann und Frau verdrehen die Augen.
  2. Wenn Mann und Frau die Augen verdrehen, so ist das ein Zeichen, dass sie ihr Haus nicht in Ordnung halten können.

Dem Wagen springen die Speichen ab, das wird nahegelegt dadurch, dass Kiën rund, das Bild des Rades, ist; das untere Kernzeichen bedeutet zerbrechen. Das Verdrehen der Augen wird dadurch nahegelegt, dass das obere Kernzeichen Li die Augen bedeutet. Sun bedeutet: viel Weißes im Auge, d. h. verdrehte Augen.
Der Strich hat denselben Trieb nach oben wie die vorigen beiden, aber während jene auf den Kampf verzichten und sich freiwillig zurückziehen, sucht dieser Strich – zu stark, weil stark auf starkem Platz, unruhig, weil auf dem Platz des Überganges – gewaltsam vorzudringen. Die weiche vierte Linie repräsentiert die Frau, die dem dritten Strich, dem Mann, die Speichen seiner Räder zerbrechen lässt. Der Mann blickt sie in seinem Zorn grimmig an und erhält von ihr entsprechende Blicke. Indem so der dritte Strich seine Familie, die beiden unteren, verlassen hat, zeigt er, dass er seine Familie nicht in Ordnung halten kann.

Sechs auf viertem Platz bedeutet:
  1. Bist du wahrhaftig, so schwindet Blut und weicht Angst.
    Kein Makel.
  2. Bist du wahrhaftig, so weicht Angst;
    denn der Obere stimmt in der Gesinnung überein.

Die Linie ist inmitten der Starken innerlich leer, d. h. wahrhaftig (vgl. das Zeichen: Innere Wahrheit, Nr. 61). Das Kernzeichen Li, dessen Mittellinie die Sechs auf viertem Platz ist, ist der Gegensatz zu Kan, das Blut und Angst bedeutet, daher die Abwesenheit von Blut und Angst. Der vierte Platz ist der Platz des Ministers. Er hat die schwere Aufgabe, mit schwachen Kräften die nach oben strebenden unteren Striche zu zähmen. Das ist notwendig mit Gefahr und Angst verbunden. Aber da er wahrhaftig ist (weich auf weichem Platz, innerlich leer), hält der Fürst, Neun auf fünftem Platz, zu ihm und gibt ihm den nötigen Rückhalt.

Neun auf fünftem Platz bedeutet:
  1. Bist du wahrhaftig und treu verbunden,
    so bist du reich in deinem Nächsten.
  2. Bist du wahrhaftig und treu verbunden,
    so wirst du nicht allein sein in deinem Reichtum.

Der fünfte Strich ist auf dem Ehrenplatz inmitten des Reichtumszeichens Sun. Sun bedeutet auch Band, darum ist er verbunden mit der Sechs auf viertem Platz, die sein Nachbar ist. Indem die beiden einander ergänzen und ihren Reichtum teilen, sind sie wirklich reich.

Oben eine Neun bedeutet:
  1. Es kommt zum Regen, es kommt zur Ruhe.
    Das ist der dauernden Wirkung des Charakters zu verdanken.
    Die Frau kommt durch Beharrlichkeit in Gefahr.
    Der Mond ist fast voll. Macht der Edle fort,
    so kommt Unheil.
  2. Es kommt zum Regen, es kommt zur Ruhe.
    Das ist die dauernd häufende Wirkung des Charakters.
    Macht der Edle fort, so kommt Unheil; denn es könnte Verwechslungen geben.

Indem der Strich sich bewegt, was er ja tut, da er eine Neun ist, so wird aus dem Zeichen Sun, Wind, das Zeichen Kan, das Regen und Mond bedeutet. Der Strich steht an der Spitze des hingebenden, sanften Zeichens Sun, das die Kraft des Schöpferischen allmählich angehäuft hat, bis die ersehnte Wirkung eintrat. Wenn diese Wirkung des Sanften eingetreten ist, so muss man sich begnügen. Wollte es gewaltsam auf seinen Erfolg pochen, so brächte das Gefahr. Ein Weitermachen würde zu Verwechslungen führen, da es sich nicht mehr um Zähmung, sondern um Unterdrückung handeln würde, was das starke Kiën sich gewiss nicht gefallen ließe.