Schule des Rades

Richard Wilhelm

I Ging · Das Buch der Wandlungen

Einleitung: I. Der Gebrauch des Buchs der Wandlungen

b) Das Weisheitsbuch

Was jedoch weit wichtiger geworden ist, ist der andere Gebrauch des Buchs der Wandlungen als Weisheitsbuch. Lao Tse sah dieses Buch und wurde dadurch angeregt zu einigen seiner tiefsten Aphorismen. Ja seine ganze Gedankenwelt ist von den Lehren des Buchs durchdrungen. Kungtse sah das Buch der Wandlungen und gab sich dem Nachdenken darüber hin. Er schrieb wohl einige Erklärungen dazu auf und überlieferte andere in mündlicher Lehre seinen Schülern. Dieses von Kungtse herausgegebene und kommentierte Buch der Wandlungen ist es, das auf unsere Zeit gekommen ist.

Fragen wir nach den Grundanschauungen, die einheitlich das Buch durchdringen, so können wir uns auf ganz wenige, aber große Gedanken beschränken.

Der Grundgedanke des Ganzen ist der Gedanke der Wandlung. In den Gesprächen* wird einmal erzählt, wie der Meister Kung an einem Fluss stand und sprach: So fließt alles dahin wie dieser Fluss, ohne Aufhalten, Tag und Nacht. Damit ist der Gedanke der Wandlung ausgesprochen. Der Blick richtet sich für den, der die Wandlung erkannt hat, nicht mehr auf die vorüberfließenden Einzeldinge, sondern auf das unwandelbare ewige Gesetz, das in allem Wandel wirkt. Dieses Gesetz ist der SINN des Lao Tse, der Lauf, das Eine in allem Vielen. Um sich zu verwirklichen, bedarf es, einer Entscheidung, einer Setzung. Diese Grundsetzung ist der große Uranfang alles dessen, was ist: Tai Gi, eigentlich: der Firstbalken. Die spätere Philosophie hat sich mit diesem Uranfang viel beschäftigt. Man hat den Wu Gi, den Ururanfang, als Kreis gezeichnet, und Tai Gi war dann der in Licht und Dunkel, Yin und Yang, geteilte Kreis, der auch in Indien und Europa eine Rolle spielte: Tai Gi. Aber die Spekulationen gnostisch-dualistischer Art sind dem Urgedanken des I Ging fremd. Diese Setzung ist für ihn einfach der Firstbalken, die Linie. Mit dieser Linie, die an sich eins ist, kommt eine Zweiheit in die Welt. Zugleich mit ihr ist oben und unten, rechts und links, vorn und hinten — kurz die Welt der Gegensätze gesetzt.

Diese Gegensätze sind bekannt geworden unter dem Namen Yin und Yang und haben namentlich in den Wendezeiten der Tsin- und Handynastie in den Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung, als es eine ganze Schule der Yin-Yang-Lehre gab, viel Aufsehen erregt. Damals wurde das Buch der Wandlungen vielfach als Zauberbuch verwendet, und tausend Dinge wurden in das Buch hineingeheimnisst, von denen es ursprünglich nichts weiß. Natürlich hat diese Lehre vom Yin und Yang, vom Weiblichen und Männlichen als Urprinzipien, auch in der fremden Wissenschaft über China Aufsehen erregt. Man vermutete hier nach bewährten Mustern phallische Ursymbole und was damit zusammenhängt. Zur großen Enttäuschung solcher Entdecker muss gesagt werden, dass in dem Ursinn der Worte Yin und Yang nichts liegt, was darauf hinweist. Yin ist in seiner Urbedeutung das Wolkige, Trübe; Yang bedeutet eigentlich: in der Sonne wehende Banner**, also etwas Beleuchtetes, Helles. Übertragen wurden die beiden Begriffe auf die erleuchtete und die dunkle (d. h. südliche und nördliche) Seite eines Berges oder Flusses (wo aber die Südseite im Blick auf den Fluss dunkel, d. h. Yin, und die das Licht reflektierende Nordseite hell, d. h. Yang, ist). Von hier aus wurden die Ausdrücke dann auf das Buch der Wandlungen übertragen auf die beiden wechselnden Grundzustände des offenbaren Seins. Es verdient übrigens bemerkt zu werden, dass sie im eigentlichen Text des Buchs in diesem Sinn gar nicht vorkommen, ebensowenig in den ältesten Kommentaren, sondern erst in der großen Abhandlung, die ja in manchen ihrer Teile schon unter taoistischem Einfluss steht. Im Kommentar zur Entscheidung ist statt dessen von Festem und Weichem die Rede.

Wie es sich aber auch im übrigen damit verhalten mag, soviel steht fest, dass aus dem Wandel und Übergang dieser Kräfte das Dasein sich aufbaut, wobei denn der Wandel teils ein dauernder Umschlag von einem ins andere ist, teils ein kreisförmig geschlossener Ablauf von in sich zusammenhängenden Ereigniskomplexen wie Tag und Nacht, Sommer und Winter. Dieser Wandel aber ist nicht sinnlos, sonst könnte es kein Wissen davon geben, sondern eben dem durchgehenden Gesetz, dem SINN (Tao), unterworfen.

Der zweite Grundgedanke des Buchs der Wandlungen ist seine Ideenlehre. Die acht Zeichen stellen Bilder vor — nicht sowohl von Gegenständen als von Wandlungszuständen. Damit verbindet sich die Auffassung, die sich in Lao Tses Lehren ebenso wie in denen Kungtses ausspricht, dass alles, was in der Sichtbarkeit geschieht, die Auswirkung eines Bildes, einer Idee im Unsichtbaren ist. Insofern ist alles irdische Geschehen nur gleichsam eine Nachbildung eines übersinnlichen Geschehens, die auch, was den zeitlichen Verlauf anlangt, später als jenes übersinnliche Geschehen sich ereignet. Diese Ideen sind den Heiligen und Weisen, die in Kontakt stehen mit jenen höheren Sphären, durch unmittelbare Intuition zugänglich. Dadurch sind diese Heiligen in den Stand gesetzt, in das Weltgeschehen bestimmend einzugreifen, und der Mensch bildet so mit dem Himmel, der übersinnlichen Welt der Ideen, und der Erde, der körperlichen Welt der Sichtbarkeit, eine Dreiheit der Urmächte. In doppeltem Sinn findet nun diese Ideenlehre ihre Anwendung. Das Buch der Wandlungen zeigt die Bilder des Geschehens und mit ihnen das Werden der Zustände in statu nascendi. Indem man nun durch seine Hilfe die eine erkennt, lernt man die Zukunft voraussehen, ebenso wie man die Vergangenheit verstehen lernt. So dienen die Bilder, die den Zeichen zugrunde liegen, eben dazu, Vorbilder zu sein für das zeitgemäße Handeln in den durch sie angedeuteten Situationen. Aber nicht nur die Anpassung an den Naturverlauf wird auf diese Weise ermöglicht, sondern es wird in der großen Abhandlung (II. Abteilung, Kapitel II) auch der sehr interessante Versuch gemacht, die Schaffung aller Kultureinrichtungen der Menschheit auf solche Ideen und Bilder zurückzuführen. Ganz einerlei, wie man sich zu der Durchführung im einzelnen stellt, dem Grundgedanken nach ist hier eine Wahrheit getroffen***.

Außer den Bildern kommen als dritter Hauptbestandteil noch die Urteile in Betracht. Hierdurch bekommen die Bilder gleichsam Worte. Die Urteile deuten an, ob eine Handlung Heil oder Unheil, Reue oder Beschämung mit sich bringt. Damit setzen sie den Menschen in die Lage, sich frei zu entscheiden, eine gegebene Richtung, die sich aus der Zeitsituation an sich ergeben würde, eventuell zu verlassen, wenn sie unheilvoll ist, und auf diese Weise sich vom Zwang der Ereignisse unabhängig zu machen. Indem das Buch der Wandlungen durch seine Urteile und seine Erklärungen, die sich seit Kungtse daran angeschlossen haben, dem Leser den reifsten Schatz chinesischer Lebensweisheit darbietet, gibt es eine umfassende Übersicht über die Gestaltungen des Lebens und setzt ihn in den Stand, an der Hand dieser Übersicht sein Leben organisch und souverän zu gestalten, so dass es in Einklang kommt mit dem letzten SINN, der allem, was ist, zugrunde liegt.

Anmerkung:
* Lun Yü IX, 16.
** Vgl. die sehr beachtenswerten Ausführungen von Liang Ki Tschau in der chinesischen Zeitschrift The Endeavor vom 15. und 22. Juli 1923, ferner den englischen Aufsatz von B. Schindler The Development of the Chinese Conceptions of Supreme Beings in Hirth Anniversary Volume von Asia Major.
*** Vgl. die überaus wichtigen Ausführungen von Hu Shih in The Development of the Logical Method in China, Shanghai 1922, und die noch ausführlicheren in seiner Geschichte der Philosophie, Band 1.
Richard Wilhelm
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