Schule des Rades

Richard Wilhelm

I Ging · Das Buch der Wandlungen

Erstes Buch: Der Text — Erste Abteilung

I D E O G R A M M

19. Lin - Die Annäherung

oben Kun, das Empfangende, die Erde
unten Dui, das Heitere, der See
Das chinesische Wort Lin hat eine Reihe von Bedeutungen, die in einem einzigen deutschen Wort sich nicht erschöpfen lassen. Die alten Erklärungen des Buches der Wandlungen geben als erste Bedeutung Großwerden an. Was groß wird sind die beiden starken Striche, die von unten her in das Zeichen hineinwachsen. Mit ihnen dehnt sich die lichte Kraft aus. Von da aus geht der Gedanke weiter zu dem Begriff der Annäherung, und zwar der Annäherung des Starken, Höherstehenden an das Niedrige. Es bedeutet dann schließlich auch die Herablassung eines Höheren gegen das Volk, ferner die Inangriffnahme der Geschäfte. Das Zeichen ist dem zwölften Monat (Januar-Februar) zugeordnet, da nach der Sonnenwende die lichte Kraft schon wieder im Aufsteigen begriffen ist.
Das Urteil
Die Annäherung hat erhabenes Gelingen.
Fördernd ist Beharrlichkeit.
Kommt der achte Monat, so gibt’s Unheil.
Das Zeichen als Ganzes deutet auf eine Zeit hoffnungsfrohen Fortschritts. Der Frühling naht. Freude und Nachgiebigkeit bringen Hohe und Niedrige einander näher. Erfolg ist gewiss. Nur bedarf es der entschlossenen und beharrlichen Arbeit, um die Gunst der Zeit voll auszunützen. Und noch eins: Die Frühlingszeit dauert nicht ewig. Im achten Monat sind die Aspekten umgekehrt. Da sind nur noch zwei starke, lichte Linien übrig, die aber nicht im Vordringen, sondern im Rückzug sind (vgl. das nächste Zeichen). Diesen Umschlag gilt es rechtzeitig zu bedenken. Wenn man so dem Übel begegnet, ehe es noch in die Erscheinung getreten ist, ja noch ehe es sich zu regen begonnen hat, so wird man seiner Meister werden.
Das Bild
Oberhalb des Sees ist die Erde: das Bild der Annäherung.
So ist der Edle in seiner Absicht zu lehren unerschöpflich
und im Ertragen und Schützen des Volkes ohne Grenzen.
Die Erde grenzt von oben an den See, das ist das Bild der Annäherung und Herablassung des Höheren gegen die Tieferstehenden. Aus den beiden Teilen des Bildes ergibt sich sein Verhalten zu diesen Menschen. Wie der See unerschöpfliche Tiefe zeigt, so ist der Weise unerschöpflich in seiner Bereitschaft, die Menschen zu belehren; und wie die Erde grenzenlos weit ist und alle Geschöpfe trägt und hegt, so trägt und hegt der Weise die Menschen, ohne durch Grenzen irgendwelcher Art einen Teil der Menschheit auszuschließen.

Die einzelnen Linien

Anfangs eine Neun bedeutet:
  • Gemeinsame Annäherung. Beharrlichkeit bringt Heil.

Das Gute beginnt sich durchzusetzen und findet an einflussreicher Stelle Entgegenkommen. Von dort geht die Anregung an den tüchtigen Menschen aus herbeizukommen. Da mag man sich dem Zug nach aufwärts anschließen. Nur muss man darauf bedacht sein, in der Zeitströmung sich selbst nicht zu verlieren, sondern beharrlich im Rechten zu bleiben: das bringt Heil.

Neun auf zweitem Platz bedeutet:
  • Gemeinsame Annäherung. Heil! Alles ist fördernd.

Da man sich in der Lage befindet, von oben her zum Herbeikommen angeregt zu sein, und da man in sich selbst die Stärke und Konsequenz besitzt, die keiner Warnung bedarf, so hat man Heil. Auch die Zukunft braucht einem keine Sorge zu machen. Wohl weiß man, dass alles Irdische vergänglich ist und auf jeden Aufstieg ein Niedergang folgt: aber man lässt sich durch dieses allgemeine Schicksal nicht irremachen. Alles ist fördernd. Darum wird man rasch und brav und kühn die Lebenswege wandern.

Sechs auf drittem Platz bedeutet:
  • Behagliche Annäherung. Nichts, das fördernd wäre.
    Erreicht man Trauer darüber, so wird man ohne Makel.

Es geht fröhlich voran. Man kommt zu Macht und Einfluss. Aber das birgt die Gefahr, dass man im Vertrauen auf seine Stellung sich behaglich fühlt und diese behaglich-lässige Stimmung im Verkehr mit den Menschen hervortreten lässt. Das ist unter allen Umständen schädlich. Doch ist die Möglichkeit des Umschlags der Stimmung gegeben. Wenn man Trauer über diese verkehrte Haltung empfindet, wenn man die Verantwortung fühlt, die in einer einflussreichen Stellung beschlossen ist, so macht man sich frei von Fehlern.

Sechs auf viertem Platz bedeutet:
  • Vollkommene Annäherung. Kein Makel.

Während die drei unteren Linien das Aufsteigen zu Macht und Einfluss bezeichnen, zeigen die drei oberen das Verhalten der Höhergestellten zu den Niedrigen, denen sie Einfluss verschaffen. Hier ist vollkommen vorurteilslose Annäherung eines Höherstehenden an einen tüchtigen Mann gezeigt, den er ohne Rücksicht auf Standesvorurteile in seinen Verkehr zieht. Das ist sehr günstig.

Sechs auf fünftem Platz bedeutet:
  • Weise Annäherung. Das ist recht für
    einen großen Fürsten. Heil!

Ein Fürst oder jemand in leitender Stellung soll die Weisheit besitzen, in seine Umgebung tüchtige Menschen zu ziehen, die sachkundig sind in der Leitung der Geschäfte. Seine Weisheit besteht ebensowohl darin, dass er die rechten Leute auszuwählen versteht, als auch darin, dass er die, die er ausgewählt hat, gewähren lässt, dass er sich nicht selbst in die Geschäfte einmischt. Denn nur durch diese Zurückhaltung wird er für alle Anforderungen die Leute finden, die nötig sind, um sie sachgemäß zu erledigen.

Oben eine Sechs bedeutet:
  • Großherzige Annäherung. Heil. Kein Makel.

Ein Weiser, der die Welt überwunden hat und innerlich schon mit dem Leben fertig ist, kann unter Umständen in die Lage kommen, noch einmal ins Diesseits hereinzukommen und sich den andern Menschen anzunähern. Das ist für die andern Menschen, denen er seine Belehrung und Hilfe zuwendet, von großem Heil. Aber auch für ihn selbst ist diese großherzige Selbsterniedrigung kein Makel.