Schule des Rades
Richard Wilhelm
I Ging · Das Buch der Wandlungen
Erstes Buch: Der Text — Erste Abteilung
22. Bi - Die Anmut
oben Gen, das Stillehalten, der Berg | |
unten Li, das Haftende, das Feuer |
Das Urteil
Im Kleinen ist es fördernd, etwas zu unternehmen.
Bemerkung: Das Zeichen zeigt die ruhende Schönheit: innen Klarheit und außen Stille. Das ist die Ruhe der reinen Betrachtung. Wenn das Begehren schweigt, der Wille zur Ruhe kommt, dann tritt die Welt als Vorstellung in die Erscheinung. Und als solche ist sie schön und dem Kampf des Daseins entnommen. Das ist die Welt der Kunst. Aber durch bloße Betrachtung wird der Wille nicht endgültig zur Ruhe gebracht. Er wird wieder erwachen, und alles Schöne war dann nur ein vorübergehender Moment der Erhebung. Darum ist dies noch nicht der eigentliche Weg zur Erlösung. Kungtse fühlte sich daher auch sehr unbehaglich, als er bei Gelegenheit einer Befragung des Orakels das Zeichen
Anmutbekam.
Das Bild
So verfährt der Edle bei der Klarstellung
der laufenden Angelegenheiten,
aber er wagt es nicht, danach große Streitfragen zu entscheiden.
Die einzelnen Linien
Anfangs eine Neun bedeutet:
- Macht seine Zehen anmutig, verlässt den Wagen und geht.
Die Stellung zu Beginn und an untergeordnetem Platze bringt es mit sich, dass man die Mühe des Vorankommens selbst auf sich nehmen muss. Man hätte Gelegenheit, sich unter der Hand eine Erleichterung dargestellt unter dem Bild des Wagens – zu verschaffen. Aber ein in sich geschlossener Mensch verschmäht solche auf zweifelhafte Weise erlangte Erleichterungen. Er findet es anmutiger, zu Fuß zu gehen, als unrechtmäßigerweise im Wagen zu fahren.
Sechs auf zweitem Platz bedeutet:
- Macht seinen Kinnbart anmutig.
Der Bart ist nichts Selbständiges. Er kann nur mit dem Kinn zusammen bewegt werden. Das Bild bedeutet daher, dass die Form nur im Gefolge und als Begleiterscheinung des Gehalts in Betracht kommt.
Der Bart ist eine überflüssige Zierde. Seine selbständige Pflege ohne Rücksicht auf den zu schmückenden inneren Gehalt – wäre daher ein Zeichen einer gewissen Eitelkeit.
Neun auf drittem Platz bedeutet:
- Anmutig und feucht.
Dauernde Beharrlichkeit bringt Heil.
Es ist eine höchst anmutige Lebenslage, in der man sich befindet. Anmut und feuchtverklärter Glanz umgeben einen. Diese Anmut kann wohl schmücken, sie kann aber auch versinken lassen. Daher die Warnung, nicht in der feuchten Bequemlichkeit zu versinken, sondern dauernd beharrlich zu bleiben. Darauf beruht das Heil.
Sechs auf viertem Platz bedeutet:
- Anmut oder Einfachheit?
Ein weißes Pferd kommt wie geflogen:
Nicht Räuber er ist, will freien zur Frist.
Man ist in einer Lage, in der sich Zweifel ergeben, ob man weiterhin die Anmut äußeren Glanzes suchen soll oder ob es nicht besser ist, zur Einfachheit zurückzukehren. In diesem Zweifel liegt schon die Antwort. Von außen naht sich eine Bestärkung. Es kommt heran wie ein weißes Flügelpferd. Die weiße Farbe deutet auf Einfachheit. Und wenn es auch im ersten Augenblick enttäuschend wirken könnte, dass man die Bequemlichkeiten, die man auf anderm Wege sich verschaffen könnte, entbehren muss: in der treuen Verbindung mit dem Freund und Freier findet man Beruhigung. Das fliegende Pferd ist das Bild der Gedanken, die alle Schranken des Raums und der Zeit überfliegen.
Sechs auf fünftem Platz bedeutet:
- Anmut in Hügeln und Gärten.
Das Seidenbündel ist ärmlich und klein.
Beschämung, doch schließlich Heil.
Man zieht sich aus dem Verkehr mit den Menschen der Tiefe, die nur Pracht und Luxus suchen, zurück in die Einsamkeit der Höhen. Da findet man einen Menschen, zu dem man aufblickt und den man sich zum Freunde machen möchte. Aber die Gastgeschenke, die man zu bieten hat, sind nur gering und dürftig, so dass man beschämt ist. Doch kommt es nicht auf die äußere Gabe an, sondern auf die wahre Gesinnung; darum geht schließlich alles gut.
Oben eine Neun bedeutet:
- Schlichte Anmut.
Kein Makel.
Hier auf der obersten Stufe wird aller Schmuck abgelegt. Die Form verdeckt nicht mehr den Gehalt, sondern lässt ihn zur vollen Geltung kommen. Die höchste Anmut besteht nicht in äußerer Verzierung des Materials, sondern in seiner schlichten, sachgemäßen Gestaltung.