Schule des Rades
Richard Wilhelm
I Ging · Das Buch der Wandlungen
Erstes Buch: Der Text — Zweite Abteilung
48. Dsing - Der Brunnen
oben Kan, das Abgründige, das Wasser | |
unten Sun, das Sanfte, der Wind |
Das Urteil
aber kann nicht den Brunnen wechseln.
Er nimmt nicht ab und nimmt nicht zu.
Sie kommen und gehen und schöpfen aus dem Brunnen.
Wenn man beinahe das Brunnenwasser erreicht hat,
aber noch nicht mit dem Seil drunten ist
oder seinen Krug zerbricht, so bringt das Unheil.
Für eine gute staatliche oder gesellschaftliche Organisation der Menschen ist aber ein Doppeltes nötig. Man muss bis auf die Grundlagen des Lebens hinuntergehen. Alle Oberflächlichkeit in der Lebensordnung, die die tiefsten Lebensbedürfnisse unbefriedigt lässt, ist ebenso unvollkommen, als hätte man gar keinen Versuch zur Ordnung gemacht. Ebenso ist eine Fahrlässigkeit, durch die der Krug zerbricht, vom Übel. Wenn z. B. der militärische Schutz eines Staates so übertrieben wird, dass er Kriege hervorruft, durch die die Macht des Staates vernichtet wird, so ist das ein Zerbrechen des Krugs. Auch für den einzelnen Menschen kommt das Zeichen in Betracht. So verschieden die Anlagen und Bildungen der Menschen sind, die menschliche Natur in ihren Grundlagen ist bei jedem dieselbe. Und jeder Mensch kann bei seiner Bildung aus dem unerschöpflichen Born der göttlichen Natur des Menschenwesens schöpfen. Aber auch hier drohen zwei Gefahren: einmal, dass man in seiner Bildung nicht durchdringt bis zu den eigentlichen Wurzeln des Menschentums, sondern in Konvention steckenbleibt – eine solche Halbbildung ist ebenso schlimm wie Unbildung –, oder dass man plötzlich zusammenbricht und die Bildung seines Wesens vernachlässigt.
Das Bild
So ermuntert der Edle das Volk bei der Arbeit
und ermahnt es, einander zu helfen.
Die einzelnen Linien
Anfangs eine Sechs bedeutet:
- Der Schlamm des Brunnens wird nicht getrunken:
zu einem alten Brunnen kommen keine Tiere.
Wenn sich jemand in den sumpfigen Niederungen umhertreibt, so versinkt sein Leben im Schlamm. Ein solcher Mensch verliert seine Bedeutung für die Menschheit. Wer sich selbst wegwirft, zu dem kommen auch die andern nicht mehr. Niemand kümmert sich schließlich mehr um ihn.
Neun auf zweitem Platz bedeutet:
- Am Brunnenloch schießt man Fische.
Der Krug ist zerbrochen und rinnt.
Das Wasser ist an sich klar. Aber man gebraucht es nicht. So halten sich nur Fische im Brunnen auf, und wer kommt, kommt nur, um Fische zu fangen; aber der Krug ist zerbrochen, so dass man die Fische nicht darin aufbewahren kann.
Es wird eine Lage geschildert, da jemand an sich gute Gaben hätte; aber sie werden vernachlässigt. Niemand kümmert sich um ihn. Dadurch kommt er innerlich herunter. Er gibt sich mit gemeinen Menschen ab und kann nichts Tüchtiges mehr leisten.
Neun auf drittem Platz bedeutet:
- Der Brunnen ist gereinigt, aber man trinkt nicht daraus.
Das ist meines Herzens Leid;
denn man könnte daraus schöpfen.
Wäre der König klar, so genösse man gemeinsam das Glück.
Hier ist ein tüchtiger Mann vorhanden. Er gleicht einem gereinigten Brunnen, dessen Wasser man trinken könnte. Aber er wird nicht gebraucht. Das ist das Leid der Menschen, die ihn kennen. Der Wunsch besteht, dass der Fürst es erfahre; dann wäre es für alle Beteiligten ein Glück.
Sechs auf viertem Platz bedeutet:
- Der Brunnen wird ausgemauert, kein Makel.
Wenn der Brunnen ausgemauert wird, so kann man ihn zwar solange nicht benützen, aber die Arbeit ist nicht vergebens; sie bewirkt, dass das Wasser klar bleibt. So gibt es im Leben auch Zeiten, in denen man sich selbst in Ordnung bringen muss. Während dieser Zeit kann man zwar nichts für andere leisten, aber sie ist dennoch wertvoll, weil man durch innere Ausbildung seine Kraft und Fähigkeiten steigert, so dass man nachher um so mehr leistet.
Neun auf fünftem Platz bedeutet:
- Im Brunnen ist ein klarer, kühler Quell, den man trinken kann.
Das ist ein guter Brunnen, der auf seinem Grunde eine Quelle lebendigen Wassers hat. Ein Mann, der solche Tugenden hat, ist zum Retter und Führer der Menschen geboren. Er hat das Wasser des Lebens. Dennoch fehlt das Zeichen: Heil. Beim Brunnen kommt alles darauf an, dass das Wasser geschöpft wird. Das beste Wasser ist für die Erfrischung der Menschen nur als Möglichkeit da, solange es nicht gehoben ist. So kommt es auch bei Führern der Menschheit darauf an, dass man aus ihrer Quelle trinkt, ihre Worte ins Leben überführt.
Oben eine Sechs bedeutet:
- Man schöpft aus dem Brunnen ohne Hinderung.
Er ist zuverlässig. Erhabenes Heil!
Der Brunnen ist für alle da. Kein Verbot hemmt die Schöpfenden. Aber so viele auch kommen, sie finden, was sie brauchen; denn der Brunnen ist zuverlässig. Er hat eine Quelle und versiegt nicht; darum ist er für das ganze Land ein großes Heil: so der wirklich große Mann, der unerschöpflich reich ist an innerem Gut. Je mehr Menschen aus ihm schöpfen, desto größer wird sein Reichtum.