Schule des Rades
Richard Wilhelm
I Ging · Das Buch der Wandlungen
Erstes Buch: Der Text — Zweite Abteilung
52. Gen - Das Stillehalten, der Berg
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Auf den Menschen angewandt, ist das Problem gezeigt, die Ruhe des Herzens zu erlangen. Das Herz ist sehr schwer zur Ruhe zu bringen. Während der Buddhismus die Ruhe erstrebt durch Abklingen jeglicher Bewegung im Nirwana, ist der Standpunkt des Buchs der Wandlungen, dass Ruhe nur ein polarer Zustand ist, der als seine Ergänzung dauernd die Bewegung hat.
Vielleicht sind in den Worten des Textes Anweisungen zur Yogaübung enthalten.
Das Urteil
so dass er seinen Leib nicht mehr empfindet.
Er geht in seinen Hof und sieht nicht seine Menschen.
Kein Makel.
Das Zeichen ist Ende und Anfang aller Bewegung. Der Rücken wird genannt, weil im Rücken alle Nervenstränge sich befinden, die die Bewegung vermitteln. Wenn man die Bewegung dieser Rückenmarksnerven zum Stillstand bringt, so verschwindet sozusagen das Ich in seiner Unruhe. Wenn nun der Mensch innerlich so ruhig geworden ist, dann mag er sich der Außenwelt zuwenden. Er sieht in ihr nicht mehr den Kampf und das Gewühl der Einzelwesen und hat deshalb die wahre Ruhe, wie sie nötig ist, um die großen Gesetze des Weltgeschehens zu verstehen und dementsprechend zu handeln. Wer aus dieser Tiefenlage heraus handelt, der macht keinen Fehler.
Das Bild
So geht der Edle mit seinen Gedanken nicht über seine Lage hinaus.
Die einzelnen Linien
Anfangs eine Sechs bedeutet:
- Stillehalten seiner Zehen.
Kein Makel. Fördernd ist dauernde Beharrlichkeit.
Das Ruhigbleiben der Zehen bedeutet ein Stehenbleiben, noch ehe man angefangen hat, sich zu bewegen. Der Anfang ist die Zeit, da man wenig Fehler macht. Man ist noch in Übereinstimmung mit der ursprünglichen Unschuld. Man sieht die Dinge intuitiv, wie sie sind, noch unbeeinflusst von der Verdunkelung durch Interessen und Begehrlichkeit. Wer anfangs stillesteht, solange er die Wahrheit noch nicht verlassen hat, der findet das richtige. Nur ist dauernde Festigkeit nötig, damit man nicht in ein willenloses Sichtreibenlassen hineingerät.
Sechs auf zweitem Platz bedeutet:
- Stillehalten seiner Waden.
Er kann den nicht retten, dem er folgt.
Sein Herz ist nicht froh.
Das Bein kann sich nicht selbständig bewegen, sondern ist in seiner Bewegung abhängig von der Bewegung des Leibes. Wenn der Leib in starker Bewegung ist und das Bein wird plötzlich angehalten, so führt die weitergehende Bewegung des Leibes dazu, dass der Mensch fällt.
So ist es auch mit einem Menschen, der sich im Gefolge einer stärkeren Persönlichkeit befindet. Er wird mitgerissen. Selbst wenn er auf der Bahn des Unrechts einhält, so kann er doch den andern in seiner starken Bewegung nicht mehr aufhalten. Wo der Herr Vorwärts drängt, kann ihn der Diener, auch wenn er es noch so gut meint, nicht retten.
Neun auf drittem Platz bedeutet:
- Stillehalten seiner Hüften.
Steifmachen seines Kreuzbeins.
Gefährlich. Das Herz erstickt.
Es handelt sich hier um erzwungene Ruhe. Das Herz, das in der Unruhe ist, soll gewaltsam gebändigt werden. Aber das Feuer, das gewaltsam zurückgedrängt wird, wandelt sich zu beißendem Rauch, der erstickend sich ausbreitet.
Bei Meditations- und Konzentrationsübungen darf man daher nicht gewaltsam vorgehen. Sondern die Ruhe muss sich ganz natürlich aus einem Zustand innerer Sammlung heraus entwickeln. Wenn gewaltsam durch künstliches Steifhalten die Ruhe erzwungen werden soll, so wird die Meditation zu großen Unzuträglichkeiten führen.
Sechs auf viertem Platz bedeutet:
- Stillehalten seines Rumpfes.
Kein Makel.
Ruhighalten des Rückens, wie es in den Worten zum Gesamtzeichen erwähnt ist, bedeutet, dass man das Ich vergisst. Das ist die höchste Stufe der Ruhe. Hier ist diese Stufe der Ruhe noch nicht erreicht. Man vermag es zwar schon, das Ich mit seinen Gedanken und Regungen stillezuhalten. Aber man wird doch noch nicht ganz frei davon. Immerhin ist das Stillehalten des Herzens eine wichtige Funktion, die mit der Zeit zum völligen Ausschalten der egoistischen Triebe führt. Wenn man auch noch nicht von allen Gefahren des Zweifels und der Unruhe frei bleibt so ist dennoch diese Gemütshaltung, da sie auf dem Weg zu jener andern, höheren liegt, kein Fehler.
Sechs auf fünftem Platz bedeutet:
- Stillehalten seiner Kinnladen.
Die Worte haben Ordnung.
Die Reue schwindet.
In gefährlicher Lage, namentlich solange man der Lage nicht gewachsen ist, ist man sehr leicht mit Reden und vorlauten Scherzen bei der Hand. Aber durch unvorsichtiges Reden kommt man leicht in Situationen, da man nachher manches zu bereuen hat. Allein, wenn man sich im Reden zurückhält, so bekommen die Worte immer mehr eine feste Gestalt, und dann verschwindet jeder Anlass zur Reue.
Oben eine Neun bedeutet:
- Großzügiges Stillehalten. Heil!
Hier ist die Vollendung der Bemühung zur Ruhe gegeben. Man ist ruhig nicht in kleinlich abgezirkelter Weise im einzelnen, sondern eine allgemeine Resignation im ganzen gibt Ruhe und Heil für alles Einzelne.
Anmerkung:
* | Vgl. Goethe: Sehnsucht ins Ferne, Künftige zu beschwichtigen, |
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