Schule des Rades
Richard Wilhelm
I Ging · Das Buch der Wandlungen
Zweites Buch: Das Material — Da Dschuan — Die große Abhandlung
Kapitel 1
II. Abteilung
Über Zeichen und Linien, Schaffen und Wirken
Vgl. Abt. I, Kap. 2, § 1. Die Reihenfolge nach der Vollendung ist
1. Kiën, 2. Dui, 3. Li, 4. Dschen, 5. Sun, 6. Kan, 7. Gen, 8. Kun.
Die Einzelzeichen enthalten nur die Bilder (Ideen) dessen, das sie vorstellen. Die Einzelstriche kommen erst bei den Doppelzeichen in Betracht, weil erst in den Doppelzeichen der ganze Organismus von oben und unten, innen und außen usw. hervortritt.
Vgl. Abt. I, Kap. 2, § 2. Durch den Wechsel der festen und weichen Striche erscheint die Veränderung (und Umgestaltung). Die Urteile geben ihre Anweisungen durch die beigefügten Orakel: Heil und Unheil usw.
Vgl. Abt. I, Kap. 2, § 3. Heil und Unheil, Reue und Beschämung treten in die Erscheinung erst dadurch, dass man entsprechend handelt.
Es gibt einen Gleichgewichtszustand, wenn die festen Striche auf festem Platz, die weichen auf weichem Platz stehen. Allein dieser abstrakte Gleichgewichtszustand muss der Veränderung und Neuorganisierung weichen, wenn es die Zeit erfordert. Die Zeit, d. h. die durch ein Zeichen dargestellte Gesamtsituation spielt eine wichtige Rolle für die Stellung der einzelnen Striche.
Das Geheimnis der Wirkung liegt in der Dauer. Heil und Unheil bereiten sich langsam vor. Nur indem dauernd eine Richtung befolgt wird, häufen sich allmählich die Einzelwirkungen so an, dass sie nach außen hin als Heil oder Unheil in die Erscheinung treten. Ebenso sind Himmel und Erde Wirkungen von dauernden Zuständen. Indem alle lichten, klaren Kräfte dauernd nach oben steigen, alle festen und trüben Bestandteile dauernd nach unten sinken, sondert sich aus dem Chaos der Kosmos, der Himmel oben und die Erde unten, ab. Ebenso ist es mit dem Lauf von Sonne und Mond; ihre Verhältnisse des Leuchtens sind Wirkungen von dauernden Bewegungen und Gleichgewichtszuständen; und so fahren sich für alle Bewegungen und Handlungen, die dauernd fortgesetzt werden, bestimmte Geleise ein, die dann zu Gesetzen werden. Naturgesetze sind demnach nicht etwas, das ein für allemal abstrakt feststünde, sondern sie sind Dauerwirkungen, die das Gesetzmäßige je länger, desto deutlicher hervortreten lassen.
Die beiden Grundprinzipien bewegen sich je nach den Erfordernissen der Zeit, so dass sie sich in dauerndem Wandel befinden. Aber die Art ihrer Bewegungen ist in sich einheitlich und konsequent. Das Schöpferische ist immer stark, entschieden, wirklich, und darum hat es keine Schwierigkeiten. Es bleibt sich selber immer treu, und darauf beruht seine Leichtigkeit. Schwierigkeiten sind immer Unklarheiten und Schwankungen. Ebenso ist das Empfangende in seiner Art immer sich gleichbleibend nachgiebig, der Linie des geringsten Widerstands folgend und darum einfach. Kompliziertheiten entstehen nur aus innerlich einander widerstrebenden Motiven.
Es wird hier eine Wortdefinition von Strichen und Bildern gegeben. Strich heißt chinesisch Hiau, nachahmen heißt ebenfalls Hiau (nur anders geschrieben). Bild und nachbilden heißt Siang (ebenfalls verschieden geschrieben). Die Striche ahmen in ihren Änderungen es nach, wie Heil und Unheil in der Bewegung durch die Dauer entsteht. Die Bilder bilden ab, wie alle Veränderungen und Zusammenhänge des Festen und Weichen im Leichten und Einfachen münden.
Die Bewegungen der Striche und Bilder und der durch sie symbolisierten kleinsten Geschehenskeime sind unsichtbar, aber ihre Wirkungen zeigen sich in Heil und Unheil in der sichtbaren Welt. Ebenso sind die Veränderungen, die sich auf Werk und Wirkungsfeld beziehen, unsichtbar, werden aber geoffenbart durch die Worte der Urteile.
Wodurch bewahrt man diesen Platz? Durch die Menschen. Wodurch sammelt man die Menschen um sich? Durch Güter. Die Ordnung der Güter und Richtigstellung der Urteile, die die Menschen abhalten, Böses zu tun, ist die Gerechtigkeit.
Es wird hier der Zusammenhang der drei Mächte gezeigt: Himmel und Erde spenden Leben. Der heilige Weise hat dieselbe Gesinnung. Um sie aber durchführen zu können, bedarf er der Stellung als Herrscher. Diese Stellung wird bewahrt durch die Menschen, die sich unter einem sammeln. Die Menschen werden angezogen durch die Güter. Die Güter werden verwaltet und geschützt gegen Unrecht durch Gerechtigkeit.
Es ist hier eine Staatstheorie auf kosmischer Grundlage gegeben, die den Anschauungen der konfuzianischen Schule entspricht. Manche Kommentare wollen diesen Paragraphen als Einleitung zum nächsten Kapitel stellen, was insofern eine gewisse Berechtigung hat, als das nächste Kapitel an der Hand des Buchs der Wandlungen einen Überblick über die Entwicklung der Kulturgeschichte gibt.
(Die Lesart Gütigkeit
für Menschen
in dem Satz: Wodurch bewahrt man diesen Platz? Durch Menschen
wird durch den Zusammenhang widerlegt.)