Schule des Rades
Richard Wilhelm
I Ging · Das Buch der Wandlungen
Zweites Buch: Das Material — Da Dschuan — Die große Abhandlung
Kapitel 2
Kulturgeschichte
Das Be Hu Tung gibt als Urzustand der menschlichen Gesellschaft folgendes an: In der Urzeit gab es noch keine sittlichen und gesellschaftlichen Ordnungen. Die Menschen kannten nur ihre Mutter, nicht ihren Vater. Hungrig suchten sie nach Nahrung, gesättigt warfen sie die Reste weg. Sie fraßen ihre Nahrung mit Haut und Haaren und tranken das Blut und hüllten sich in Felle und Schilf. Da kam Fu Hi und blickte empor und betrachtete die Bilder am Himmel, blickte nieder und betrachtete die Vorgänge auf Erden. Er vereinigte Mann und Frau, ordnete die fünf Wandelzustände und setzte die Gesetze des Menschentums fest. Er zeichnete die acht Zeichen, um die Welt zu beherrschen.
Der mythische Begründer der Kultur wird verschieden geschrieben. Die Bedeutung des Namens scheint auf einen Jäger oder Erfinder des Kochens zu gehen. Die Frage, ob die acht oder auch schon die 64 Zeichen auf ihn zurückgehen, wird verschieden entschieden. Da er selbst eine mythische Persönlichkeit ist, mag der Streit auf sich beruhen. Sicher dürfte sein, dass König Wen die 64 Zeichen schon vorfand.
Es ist in diesem Kapitel ausgeführt, wie die ganzen Kultureinrichtungen entstanden sind als Abbilder von ideellen Urbildern. Dieser Gedanke enthält in höherem Sinn eine Wahrheit. Jede Erfindung entsteht zuerst als Bild im Geist des Erfinders, ehe sie als Gerät
, als fertiges Ding
in die Erscheinung tritt. Da nun nach der Theorie der in den Hi Tsï vertretenen Schule die 64 Zeichen auf geheimnisvolle Weise Parallelbilder zur Natur geben, so kann hier der Versuch gemacht werden, aus ihnen die menschlichen Erfindungen abzuleiten, die zur Ausgestaltung der Kultur geführt haben. Dabei ist der Hergang nicht so gedacht, dass die Erfinder einfach die Zeichen des Buchs vorgenommen und danach die Erfindungen gemacht hätten, sondern dass aus Verhältnissen heraus, die in diesen Zeichen dargestellt waren, die Erfindungen sich im Geist ihrer Urheber gestalteten.
Das Netz besteht aus Maschen, die innen leer und außen von Fäden umgeben sind. Das Zeichen
stellt eine Vereinigung von solchen Maschen vor. Dazu kommt, dass das Zeichen die Bedeutung Haften, Hängenbleiben hat, wie denn im Buch der Lieder mehrfach erwähnt ist, dass die Wildgans oder der Fasan im Netz hängengeblieben seien (Li).
Der primitive Pflug bestand aus einer gekrümmten Stange, an der vorn ein zugespitztes Holz befestigt war, das die Erde aufritzte. Der Vorteil gegenüber dem Hacken war, dass man auf diese Weise die Zugkraft benützen und einen Teil der Arbeit auf das Rind abschieben konnte. Das Zeichen I, die Mehrung, besteht aus den beiden Zeichen Sun und Dschen, denen beiden das Holz zugeordnet ist. Sun bedeutet eindringen, Dschen bedeutet Bewegung. Die Kernzeichen sind Gen und Kun, denen die Erde zugeordnet ist. Daraus ergab sich der Gedanke, ein Instrument zu konstruieren aus Holz, das in die Erde eindringt und nach vorwärts bewegt wird und die Erde aufwühlt.
Das Zeichen Schï Ho, das Durchbeißen,
besteht aus der Sonne (Li) oben und Dschen, der Bewegung, unten. Dschen bedeutet auch einen großen Weg, während das obere Kernzeichen, Kan, strömendes Wasser und das untere, Gen, kleine Pfade bedeutet. Es ist also Bewegung unter der Sonne, Zusammenströmen ausgedrückt. Das reicht freilich noch nicht aus für den Gedanken eines Marktes. Die Worte Schï Ho können, anders geschrieben, auch Speise und Ware bedeuten, so dass daraus der Gedanke des Marktes sich ergäbe. Offenbar hatte das Zeichen früher die Nebenbedeutung des Marktes, vgl. auch die Erklärung Buch 1, Nr. 21, Das Durchbeißen.
Vom Himmel her wurden sie gesegnet. Heil! Nichts, das nicht fördernd ist!
Der Gelbe Herr, Yau und Schun ließen die Ober- und Unterkleider herabhängen, und die Welt war in Ordnung. Das entnahmen sie wohl den Zeichen: das Schöpferische und das Empfangende.
Es sind in diesem Paragraphen zwei Schichten zu unterscheiden. Die ältere Schicht scheint der Schluss zu sein. Es wird die Einführung der Kleider geschildert. Dschong Kang Tschong bemerkt dementsprechend: Der Himmel ist schwarzblau, die Erde gelb; darum machten sie die Obergewänder dunkelblau, die Untergewänder gelb.
Das Herabhängenlassen der Gewänder wurde dann später dahin verstanden, dass sie ruhig und ohne sich zu rühren dasaßen und alles von selber sich durch ihr Nichthandeln ordnete. Darauf wurde dann aus schon bekanntem Material eine Schilderung ihrer Kulturtätigkeit und des auf ihr beruhenden Segens beigefügt, von der der eingeklammerte Satz seinerseits wieder ein späterer Zusatz zu sein scheint. Der Sinn ihrer Tätigkeit war der, dass sie dauernd zeitgemäße Reformen durchführten.
Der eingeklammerte Satz wird von Dschu Hi beanstandet.
Das Zeichen Huan, die Auflösung,
besteht aus dem Zeichen Sun, Holz, über Kan, Wasser; darum steht auch im beigefügten Urteil: Günstig ist es, das große Wasser zu durchqueren
und im Kommentar zur Entscheidung: Sich auf das Holz verlassen, schafft Verdienste.
Das Schiff zur Vermittlung des Verkehrs über Flüsse und als Mittel zum Reisen in die Ferne wird hier dargestellt. Holz über dem Wasser: das ist der Sinn der Urzeichen. Die Kernzeichen Gen und Dschen bedeuten große und kleine Straßen.
Das Zeichen Sui, die Nachfolge,
besteht vorne aus Dui, Munterkeit, und hinten aus Dschen, Bewegung, ein Bild, wie Rind und Pferd vorne laufen und der Wagen sich hinten bewegt. Die Rinder waren für die schweren Wagen, die Pferde für die raschen Wagen und Kriegsfahrzeuge. Das Pferd als Reittier war im ältesten China unbekannt.
Das Zeichen Yü, die Begeisterung,
besteht oben aus dem Zeichen Dschen, Bewegung, unten aus dem Zeichen Kun, Erde. Die Kernzeichen sind Kan, das Gefährliche, und Gen, der Berg. Kun bedeutet eine geschlossene Tür, Gen bedeutet ebenfalls eine Tür, daher die Verdoppelung der Tore. Kan bedeutet den Dieb. Außer den Toren dient zur Vorbereitung (Yü bedeutet auch Vorbereitung) gegen ihn die Bewegung, das Holz (Dschen) in der Hand (Gen).
Das Zeichen Siau Go, des Kleinen Übergewicht,
besteht oben aus Dschen, Holz, Bewegung, und unten aus Gen, Stillstand, Stein. Go bedeutet auch Übergang. Der Mörser war die Urform der Mühle und bedeutet den Übergang vom Körneressen zum Backen.
Das Zeichen Kui, der Gegensatz,
besteht oben aus Li, das Haftende, und unten aus Dui, das Heitere. Die Kernzeichen sind Kan, Gefahr, und nochmals Li. Das ganze Zeichen deutet auf Streit. Li ist die Sonne, die aus der Ferne Pfeile schickt. Li bedeutet Waffen, Kan Gefahr. Die Gefahr ist von Waffen eingeschlossen, daher fürchtet man sich nicht.
Das Zeichen Da Dschuang, des Großen Macht,
besteht oben aus Dschen, Donner; das obere Kernzeichen Dui, der See, ist oben am Himmel, Kiën, dem unteren Kernzeichen. Das untere Zeichen ist Kiën, der Himmel, der Luftraum. Das Ganze bedeutet also einen Himmel, einen starken, geschützten Raum unter Donner und Regen. Das Zeichen Dschen bedeutet auch Holz und als ältester Sohn den Firstbalken oben. Die beiden weichen Striche oben werden dann als das abfallende Dach gedacht.
Das Zeichen Da Go, des Großen Übergewicht,
besteht aus dem Zeichen Dui, der See, oben und Sun, Holz, Eindringen, unten. In der Mitte ist als Kernzeichen zweimal Kiën, der Himmel. Das Zeichen muss als Ganzes genommen werden, die beiden Yinstriche oben und unten bedeuten die Erde, innerhalb derer der doppelte Sarg als Himmel eingeschlossen ist. Dadurch, dass die Toten so eingehen (Sun), werden sie heiter (Dui). Der Ahnenkult findet hier seine Verankerung.
Das Zeichen Guai, der Durchbruch,
besteht aus Dui, Worte, oben und Kiën, stark, unten und bedeutet Festmachen der Worte. Der Einschnitt oben deutet gleichzeitig die Form der ältesten Urkunden an, die, in Holz geschnitten, aus zwei Hälften bestanden, die zusammengehalten ineinander passten. Die alten Schriften waren in der Regel auf geglättete Bambustafeln geritzt. Hier ist die Schrift in ihrer Bedeutung für die Organisierung einer größeren Gemeinschaft hervorgehoben.
Anmerkung:
Die in diesem Kapitel gegebene kulturgeschichtliche Skizze stimmt in ihren Hauptzügen merkwürdig mit unseren Auffassungen überein. Der Grundgedanke, dass allen Kultureinrichtungen eine Entwicklung von bestimmten Ideen zugrunde liegt, ist ebenfalls zweifellos richtig. Es fällt nicht immer leicht, diese Ideen in den Ideenkomplexen, die durch die genannten Zeichen dargestellt sind, wiederzuerkennen. Es ist nicht unmöglich, dass hier gewisse Zusammenhänge vorlagen, die heute verwischt sind. Manche Spuren weisen darauf hin, dass die Zeichen in der Zeit vor der Dschou-Dynastie eine andere Bedeutung hatten als die heute überlieferte. Möglicherweise eröffnet dieses Kapitel Einblicke in jene Urbedeutungen. Dass ein Bedeutungswandel auch später noch stattgefunden hat, ergibt sich, wenn wir die Urteile mit den Bildern vergleichen. |