Schule des Rades

Richard Wilhelm

I Ging · Das Buch der Wandlungen

Zweites Buch: Das Material — Da Dschuan — Die große Abhandlung

Kapitel 5

Erklärung einiger Linien aus dem Buch der Wandlungen

§ 1
In den Wandlungen heißt es: Wenn man aufgeregt hin und her denkt, so folgen nur die Freunde, auf die man bewusste Gedanken richtet.
Der Meister sprach: Was bedarf die Natur des Denkens und Sorgens? In der Natur kehrt alles zum gemeinsamen Ursprung und verteilt sich auf die verschiedenen Pfade; durch eine Wirkung wird die Frucht von hundert Gedanken verwirklicht. Was bedarf die Natur des Denkens, was des Sorgens?
§ 2
Wenn die Sonne geht, so kommt der Mond. Wenn der Mond geht, so kommt die Sonne. Sonne und Mond wechseln ab, und so entsteht das Licht. Wenn die Kälte geht, so kommt die Hitze. Wenn die Hitze geht, so kommt die Kälte. Kälte und Hitze wechseln ab, und so vollendet sich das Jahr. Die Vergangenheit zieht sich zusammen. Die Zukunft dehnt sich aus. Zusammenziehen und Ausdehnen wirken aufeinander, und so entsteht das Förderliche.
§ 3
Die Spannerraupe zieht sich zusammen, wenn sie sich ausdehnen will. Die Drachen und Schlangen halten einen Winterschlaf, um ihr Leben zu erhalten. So dient das Eindringen des Samengedankens in den Geist zu seiner Wirkung. Indem man die Wirkung förderlich macht und sein Leben in Frieden bringt, erhöht man seine Art.
§ 4
Was darüber noch hinausgeht, das übersteigt wohl alles Wissen. Wenn man das Göttliche ermisst und die Umgestaltungen versteht, so steigert man seine Art ins Wunderbare.

In dieser Erklärung zur Neun auf viertem Platz des Zeichens Nr. 31, Hiën, die Einwirkung, (Buch III), wird eine Theorie der Macht des Unterbewussten gegeben. Die bewussten Wirkungen sind immer nur beschränkte, weil sie durch eine Absicht hervorgerufen werden. Die Natur kennt keine Absichten, und darum ist in ihr alles so groß. Auf der Einheitlichkeit des zugrunde liegenden Wesens beruht es, dass alle tausend Wege zu einem Ziel führen, das so vollkommen ist, als wäre es aufs genaueste durchdacht.

Es wird dann im Anschluss an den Lauf des Tages und Jahres gezeigt, wie Vergangenheit und Zukunft ineinander übergehen, wie Zusammenziehung und Ausdehnung die beiden Bewegungen sind, durch die die Vergangenheit die Zukunft vorbereitet und die Zukunft die Vergangenheit entfaltet.

In den beiden folgenden Paragraphen wird dann die Anwendung auf den Menschen gezogen, der durch höchste Konzentration sein inneres Wesen so steigert und festigt, dass objektive, geheimnisvolle Kraftströme von ihm ausgehen, so dass seine Wirkungen aus dem Unterbewussten hervorgehen und geheimnisvoll auf das Unterbewusstsein der andern wirken, so dass eine Breite und Tiefe der Wirkung erzielt wird, die über das Individuelle hinausgeht und in die kosmischen Erscheinungsformen übergeht.

§ 5
In den Wandlungen heißt es: Man lässt sich bedrängen durch Stein und stützt sich auf Dornen und Disteln. Man geht in sein Haus und sieht nicht seine Frau. Unheil! Der Meister sprach: Wenn jemand sich von etwas, das ihn nicht bedrängen sollte, bedrängen lässt, so wird sein Name sicher in Schande geraten. Wenn er sich auf Dinge stützt, auf die man sich nicht stützen kann, so wird sein Leben sicher in Gefahr geraten. Wer in Schande und Gefahr ist, dem naht die Todesstunde; wie kann er da noch seine Frau sehen?

Ein Beispiel für einen ungünstigen Spruch. Erklärung zu Nr. 47, Kun, die Erschöpfung, Sechs auf drittem Platz (Buch I).

§ 6
In den Wandlungen heißt es: Der Fürst schießt nach einem Habicht auf hoher Mauer. Er erlegt ihn. Alles ist fördernd. Der Meister sprach: Der Habicht ist der Zweck der Jagd. Bogen und Pfeil sind Werkzeuge und Mittel. Der Schütze ist der Mensch (der die Mittel zum Zweck richtig gebrauchen muss). Der Edle birgt die Mittel in seiner Person. Er wartet die Zeit ab, und dann handelt er. Wie sollte da nicht alles gut gehen? Er handelt und ist frei. Darum braucht er nur auszugehen und erlegt die Beute. So steht es mit einem Menschen, der handelt, nachdem er seine Mittel fertig hat.

Ein Beispiel eines günstigen Strichs. Erklärung zu Nr. 40, Hië, die Befreiung, obere Sechs (Buch I).

§ 7
Der Meister sprach: Der Gemeine schämt sich nicht der Lieblosigkeit und scheut sich nicht vor Ungerechtigkeit. Wenn er keinen Vorteil winken sieht, so rührt er sich nicht. Wenn er nicht eingeschüchtert wird, so bessert er sich nicht. Doch wenn er im Kleinen zurechtgebracht wird, so nimmt er sich im Großen in acht. Das ist für den geringen Menschen ein Glück. Das ist damit gemeint, wenn es im Buch der Wandlungen heißt: Steckt mit den Füßen im Block, dass die Zehen verschwinden. Kein Makel.

Ein Beispiel eines Strichs, der durch Reue zum Guten führt. Erklärung zu Nr. 21, Schï Ho, das Durchbeißen, Anfangsneun (Buch I).

§ 8
Wenn das Gute sich nicht ansammelt, reicht es nicht aus, einem einen Namen zu machen. Wenn das Böse sich nicht ansammelt, ist es nicht stark genug, einen zu vernichten. Der Gemeine denkt deshalb, Gutes im Kleinen habe keinen Wert, darum unterlässt er es; er denkt, kleine Sünden schaden nichts, darum gewöhnt er sie sich nicht ab. So sammeln sich seine Sünden an, bis sie sich nicht mehr bedecken lassen, und seine Schuld wird so groß, dass sie sich nicht mehr lösen lässt.
In den Wandlungen heißt es: Steckt mit dem Hals im hölzernen Kragen, dass die Ohren verschwinden. Unheil!

Ein Beispiel eines Strichs, der zeigt, wie man durch Beschämung zum Unheil geführt wird. Erklärung zu Nr. 21, Schï Ho, das Durchbeißen, obere Neun (Buch I).

§ 9
Der Meister sprach: Gefahr entsteht, wo einer sich auf seinem Platz sicher fühlt. Untergang droht, wo einer seinen Bestand zu wahren sucht. Verwirrung entsteht, wo einer alles in Ordnung hat. Darum vergisst der Edle, wenn er sicher ist, nicht der Gefahr, und wenn er besteht, nicht des Untergangs, und wenn er Ordnung hat, nicht der Verwirrung. Dadurch kommt er persönlich in Sicherheit und vermag das Reich zu schützen. In den Wandlungen heißt es Wenn es misslänge! Wenn es misslänge! Dadurch bindet er es an ein Bündel von Maulbeerstauden.

Ein Beispiel eines Strichs, der zeigt, wie man ohne Makel ist und dadurch Gelingen hat. Erklärung zu Nr. 12, Pi, die Stockung, Neun auf fünftem Platz (Buch I).

§ 10
Der Meister sprach: Schwacher Charakter bei geehrter Stellung, geringes Wissen und große Pläne, kleine Kraft und schwere Verantwortung werden selten dem Unheil entgehen. In den Wandlungen heißt es: Der Tiegel bricht die Beine. Das Mahl des Fürsten wird verschüttet, und die Gestalt wird befleckt. Unheil! Das ist von jemand gesagt, der seiner Aufgabe nicht gewachsen ist.

Ein Beispiel eines Strichs, der zeigt, wie man Unheil hat, weil man den Verhältnissen nicht gewachsen ist. Erklärung zu Nr. 50, Ding, der Tiegel, Neun auf viertem Platz (Buch I).

§ 11
Der Meister sprach: Die Keime zu erkennen, das ist wohl göttlich. Der Edle ist in seinem Verkehr nach oben nicht schmeichelnd, im Verkehr nach unten nicht anmaßend. Er kennt wohl die Keime. Die Keime sind der erste, unmerkliche Beginn der Bewegung, das, was von Heil (und Unheil) zuerst sich zeigt. Der Edle sieht die Keime und handelt sofort. Er wartet nicht erst den ganzen Tag.
In den Wandlungen heißt es: Fest wie ein Stein. Kein ganzer Tag. Beharrlichkeit bringt Heil.
Fest wie ein Stein,
Wozu ein ganzer Tag?
Das Urteil kann man wissen.
Der Edle kennt Geheim- und Offenbares,
Er kennt das Schwache, kennt das Starke auch,
Drum schauen die Myriaden zu ihm auf.

Ein Beispiel eines Strichs, der zeigt, wie man durch Vorherwissen dem Unheil rechtzeitig zu entgehen vermag. Erklärung von Nr. 16, Yü, die Begeisterung, Sechs auf zweitem Platz (Buch I).

§ 12
Der Meister sprach: Yen Hui, der wird es wohl erreichen. Wenn er eine Unvollkommenheit hat, so kommt es nie vor, dass er sie nicht erkennt. Wenn er sie erkannt hat, kommt es nie vor, dass er sie zum zweitenmal begeht.
In den Wandlungen heißt es: Wiederkehr aus geringer Entfernung. Es bedarf keiner Reue. Großes Heil!

Ein Beispiel eines Strichs, der zeigt, wie man aus den Ereignissen lernen kann. Yen Hui, von dem hier gesprochen wird, ist der Lieblingsjünger KUNGS, von dem auch in den Gesprächen gesagt ist, dass er nie einen Fehler wiederholt habe. Erklärung zu Nr. 24, Fu, die Wiederkehr, Anfangsneun (Buch III).

§ 13
Der Meister sprach: Himmel und Erde kommen in Berührung, und alle Dinge gestalten sich und gewinnen Form. Das Männliche und Weibliche mischt seinen Samen, und alle Wesen gestalten sich und werden geboren.
In den Wandlungen heißt es: Wenn drei Menschen miteinander wandern, so vermindern sie sich um einen Menschen. Wenn ein Mensch wandert, so findet er seinen Gefährten.

Ein Beispiel eines Strichs, der günstig ist, durch Einheit. Erklärung zu Nr. 41, Sun, die Minderung, Sechs auf drittem Platz (Buch III).

§ 14
Der Meister sprach: Der Edle bringt seine Person in Ruhe, ehe er sich bewegt. Er fasst sich in seinem Sinn, ehe er redet. Er festigt seine Beziehungen, ehe er um etwas bittet. Indem der Edle diese drei Stücke in Ordnung bringt, ist er in völliger Sicherheit. Wenn man aber unvermittelt ist in seinen Bewegungen, so tun die Leute nicht mit. Wenn man aufgeregt ist in seinen Worten, so finden sie keinen Widerhall bei den Leuten. Wenn man ohne vorherige Beziehungen etwas verlangt, so geben es einem die Leute nicht. Wenn niemand mit einem ist, dann kommen die Schädiger herbei.
In den Wandlungen heißt es: Er gereicht niemand zur Mehrung. Es schlägt ihn wohl gar jemand. Er hält sein Herz nicht dauernd fest. Unheil!

Ein Beispiel eines Strichs, der zeigt, wie auf die Vorbereitung alles ankommt. Erklärung zu Nr. 42, I, die Mehrung, obere Neun (Buch I).

Richard Wilhelm
I Ging · Das Buch der Wandlungen
Da Dschuan — Die große Abhandlung
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