Schule des Rades

Richard Wilhelm

I Ging · Das Buch der Wandlungen

Drittes Buch: Die Kommentare — Erste Abteilung

I D E O G R A M M

11. Tai - Der Friede

Kernzeichen:Dschen und Dui
Die Herren des Zeichens sind die Neun auf zweitem Platz und die Sechs auf fünftem Platz. Der Sinn des Zeichens ist, dass Obere und Untere vereinigt sind und gemeinsamen Willen haben. Die Neun auf zweitem Platz erfüllt vollkommen die Pflichten des Beamten in Beziehung zum Herrscher, und die Sechs auf fünftem Platz erfüllt vollkommen die Pflichten des Herrschers in Beziehung zu den Untergebenen. Die beiden Linien sind sowohl die konstituierenden als auch die beherrschenden Herren des Zeichens.
Die Reihenfolge
Sitte und Zufriedenheit, dann herrscht Ruhe, darum folgt darauf das Zeichen: der Friede. Friede bedeutet Verbindung, Zusammenhang.
Das chinesische Wort Tai ist nicht leicht zu übersetzen. Es bedeutet Zufriedenheit, Ruhe, Friede, und zwar im positiven Sinn dass eine ungehinderte durchgehende Verbindung da ist, die Blüte und Größe bewirkt. Die Bewegungsrichtung des unteren Zeichens Kiën geht nach oben, die des oberen Kun geht nach unten, so kommen sie einander entgegen.
Das Zeichen ist dem ersten Monat (Februar-März) beigeordnet.
Vermischte Zeichen
Die Zeichen Stockung und Frieden sind ihrer Art nach entgegengesetzt.
Das Urteil
Der Friede. Das Kleine geht hin, das Große kommt her.
Heil! Gelingen!
Kommentar zur Entscheidung
Der Friede: Das Kleine geht hin, das Große kommt her. Heil! Gelingen!
Auf diese Weise vereinigen sich Himmel und Erde, und alle Wesen kommen in Verbindung.
Obere und Untere vereinigen sich, und ihr Wille ist gemeinsam.
Innen ist das Lichte, außen das Schattige, innen Stärke und außen Hingebung, innen der Edle und außen der Gemeine. Der Weg des Edlen ist im Wachsen, der Weg des Gemeinen im Abnehmen.
Das Zeichen in seiner Gesamterscheinung als Monatszeichen wird so aufgefasst, dass die starken Striche, die von unten eingetreten sind, im Aufsteigen sind, während die schwachen Striche oben sich aus dem Zeichen zurückziehen. Daher das Kleine geht hin, das Große kommt her.
Eine andere Auffassung ergibt sich aus der Bewegung der beiden Halbzeichen gegeneinander. Das untere, aufsteigende ist Kiën, der Himmel. Das obere, sinkende ist Kun, die Erde. So vereinigen sich die beiden Urmächte, und alle Dinge kommen in Verbindung und Entwicklung – entsprechend dem Zustand zu Beginn des Jahres.
Auf das Gebiet der Menschenwelt übertragen, in besonderer Beziehung auf die beiden Striche auf dem fünften Platz, der den Fürsten darstellt, und dem zweiten Platz, der den Beamten darstellt, ergibt sich eine Einheit zwischen Hohen und Niedrigen, deren Willen auf ein gemeinsames Ziel gerichtet ist. Eine weitere Überlegung ergibt sich aus der Stellung der beiden Halbzeichen
innen (d. h. unten) und außen (d. h. oben). Innen ist die Yangkraft, außen die Yinkraft. Hier ist ein Gradunterschied zwischen der herrschenden Yangkraft im Zentrum und der abhängigen Yinkraft an der Peripherie angedeutet; das ist näher ausgeführt durch die respektiven Eigenschaften der Stärke und Hingebung. Auch diese Stellung ist für beide Teile heilvoll. Eine weitere Überlegung ergibt sich, aufs politische Gebiet übertragen, aus dem Wertunterschied der durch die lichten Striche symbolisierten Edlen und der durch die dunklen Striche symbolisierten Gemeinen. Die Guten sind im Zentrum der Macht und des Einflusses, die Gemeinen sind draußen, dem Einfluss der Guten unterstellt. Auch das ist zum Heil des Ganzen.
Von der Bewegung des Zeichens als Ganzem aus ergibt sich schließlich ein sieghaftes Aufsteigen der Prinzipien des Guten und ein Sichzurückziehen und Unterliegen der Prinzipien der Gemeinen.
Das alles ist nicht willkürlich gemacht, sondern liegt in der Zeit. Es ist Frühlingszeit im Jahr und in der Geschichte, die durch dieses Zeichen dargestellt wird.
Das Bild
Himmel und Erde vereinigen sich: das Bild des Friedens.
So teilt und vollendet der Herrscher
den Lauf von Himmel und Erde,
verwaltet und ordnet die Gaben von Himmel und Erde
und steht so dem Volke bei.
Die menschliche Tätigkeit muss in Zeiten des Blühens die Natur unterstützen. Sie muss eingeschränkt werden, wie die Erde die Wirkungen des Himmels einschränkt, um das Übermaß zu regeln. Auf der andern Seite muss sie gefördert werden, wie der Himmel die Gaben der Erde fördert, um Ungenügendes auszugleichen. Auf diese Weise kommt der Segen der Natur dem Volk zugute. Das Wort beistehen heißt wörtlich zur Linken und Rechten sein, was wiederum aus der Richtung von Yang (rechts) und Yin (links) hervorgeht.

Die einzelnen Linien

Anfangs eine Neun bedeutet:
  1. Zieht man Bandgras aus, so geht der Rasen mit.
    Jeder nach seiner Art. Unternehmungen bringen Heil.
  2. Zieht man Bandgras aus... Unternehmungen bringen Heil.
    Der Wille ist nach außen gerichtet.

Die drei Striche des unteren Zeichens Kiën gehören zusammen und schreiten miteinander fort. Der unterste Platz legt den Gedanken des Rasens nahe. Die Sechs auf viertem Platz vereinigt sich mit der Anfangsneun, daher bringt Hingehen – Unternehmungen – Heil.

Neun auf zweitem Platz bedeutet:
  1. Die Ungebildeten in Milde tragen,
    entschlossen den Fluss durchschreiten,
    das Ferne nicht vernachlässigen,
    die Genossen nicht berücksichtigen:
    so mag man es fertigbringen, in der Mitte zu wandeln.
  2. Die Ungebildeten in Milde tragen...
    So mag man es fertigbringen, in der Mitte zu wandeln
    , weil das Licht groß ist.

Das Zeichen Kiën umfasst Kun, trägt das Ungebildete in Milde. Entschlossen den Fluss durchschreiten muss der Strich als unterster des Kernzeichens Dui, das Wasser bedeutet. Der Strich muss die dazwischenliegenden überschreiten, um mit Sechs auf fünftem Platz sich zu vereinigen. Die Fernen sind symbolisiert durch die obere Sechs, die Freunde sind die beiden starken Striche von Kiën. Sie werden nicht berücksichtigt, weil Neun auf zweitem Platz sich mit Sechs auf fünftem Platz vereinigt. So mag man es fertigbringen, in der Mitte zu wandeln. Nach einer besonderen Erklärung: So erhält man Hilfe – nämlich von Sechs auf fünftem Platz –, in der Mitte zu wandeln.

Neun auf drittem Platz bedeutet:
  1. Keine Ebene, auf die nicht ein Abhang folgt,
    kein Hingang, auf den nicht die Wiederkehr folgt.
    Ohne Makel ist, wer beharrlich bleibt in Gefahr.
    Beklage dich nicht über diese Wahrheit,
    genieße das Glück, das du noch hast.
  2. Kein Hingang, auf den nicht die Wiederkehr folgt: das ist die Grenze von Himmel und Erde.

Der Strich ist in der Mitte des Zeichens, auf der Grenze zwischen Himmel und Erde, zwischen Yang und Yin. Da legt sich der Gedanke des Rückschlags nahe. Aber der Strich ist sehr stark. Daher soll er nicht traurig sein, sondern nur stark und das Glück genießen (das Kernzeichen Dui, in dessen Mitte der Strich steht, bedeutet Mund, daher genießen, essen), das jetzt noch da ist.

Sechs auf viertem Platz bedeutet:
  1. Er flattert hernieder, nicht pochend auf Reichtum,
    zusammen mit seinem Nächsten, arglos und wahrhaftig.
  2. Er flattert hernieder, nicht pochend auf Reichtum, alle haben sie das Wirkliche verloren.
    Arglos und wahrhaftig,
    im innersten Herzen wünscht er es.

Wie die drei unteren Striche zusammen aufsteigen, so senken sich die drei oberen zusammen flatternd nieder. Nicht will einer allein den Reichtum für sich haben. Er hat das Wirkliche verloren, d. h. auf reellen Vorteil verzichtet, wie er winken würde, wenn der Strich sich egoistisch mit der Anfangssechs verbinden würde.

Sechs auf fünftem Platz bedeutet:
  1. Der Herrscher I gibt seine Tochter in die Ehe.
    Das bringt Segen und erhabenes Heil.
  2. Das bringt Segen und erhabenes Heil,
    weil er zentral ist in der Ausführung dessen, was er wünscht.

Das Kernzeichen Dschen bedeutet das Hervortreten des Herrschers (Gott tritt hervor im Zeichen Dschen). Der Strich steht über dem Kernzeichen Dui, das die jüngste Tochter ist, daher die Tochter, die in die Ehe gebracht wird – mit der an Rang niedrigeren Neun auf zweitem Platz –. Durch sein zentrales Wesen erlangt er die Erfüllung aller seiner Wünsche.

Oben eine Sechs bedeutet:
  1. Der Wall fällt wieder in den Graben.
    Jetzt brauche keine Heere.
    In der eigenen Stadt verkünde deine Befehle.
    Beharrlichkeit bringt Beschämung.
  2. Der Wall fällt wieder in den Graben. Seine Ordnungen geraten in Verwirrung.

Die Erde auf dem höchsten Platz deutet den Wall an. Der Strich hat wie die andern Yinstriche die Richtung nach unten, daher symbolisiert er das Fallen in den Graben. Kun bedeutet die Masse, das Heer. Das Kernzeichen Dui (Mund) legt Befehle nahe.
Der Strich steht in Verbindung zu dem unruhigen Strich Neun auf drittem Platz. So wird er auch in die dort prophezeiten Verwirrungen hineingezogen. Aber wenn man sich innerlich frei hält und für den engsten Kreis sorgt, so kann man sich vor dem bevorstehenden Ruin schützen – freilich nur im stillen.
Im allgemeinen erfüllt sich die Zeit mit Notwendigkeit.