Schule des Rades

Richard Wilhelm

I Ging · Das Buch der Wandlungen

Drittes Buch: Die Kommentare — Zweite Abteilung

I D E O G R A M M

48. Dsing - Der Brunnen

Kernzeichen:Li und Dui
Der Herr des Zeichens ist die Neun auf fünftem Platz. Die Wirkung des Brunnens beruht auf dem Wasser, und die Neun auf fünftem Platz ist der Herr des Halbzeichens Kan (Wasser). Der Sinn des Zeichens Brunnen ist die Ernährung des Volks, und die Neun auf fünftem Platz ist der Fürst, der das Volk ernährt.
Die Reihenfolge
Wer oben bedrängt wird, der wendet sich sicher nach unten.
Darum folgt darauf das Zeichen: der Brunnen.
Vermischte Zeichen
Der Brunnen bedeutet Zusammenhang.
Beigefügte Urteile
Der Brunnen zeigt das Feld des Charakters. Der Brunnen weilt an seinem Platz und hat doch Einfluss auf anderes. Der Brunnen bewirkt Unterscheidung dessen, was das Rechte ist.
Der Brunnen bleibt an seinem Platz. Er hat eine feste, unerschöpfliche Grundlage, so muss auch der Charakter tiefgründig sein und feste Verbindung mit dem Grundwasser des Lebens haben. Der Brunnen verändert sich nicht; aber durch das Wasser, das man aus ihm schöpft, übt er weitreichende Wirkungen aus. Der Brunnen zeigt das Bild der ruhigen Spende für alle, die sich ihm nahen; so muss der Charakter ruhig und klar sein, damit die Vorstellungen dessen, was das Rechte ist, abgeklärt sein können.
Das Zeichen bezieht sich ebenfalls auf die Ernährung wie die Zeichen Nr. 5, Sü, das Warten, Nr. 27, I, die Mundwinkel, und Nr. 50, Ding, der Tiegel. Das Zeichen Brunnen bezieht sich auf das zur Nahrung nötige Wasser als Lebensnotwendigkeit.
Die beiden Kernzeichen haben aufsteigende Tendenz. So zeigen denn die Worte bei den einzelnen Strichen von unten nach oben zu eine immer weitergehende Reinigung und Gunst der Situation im Gegensatz zu der Gefahr, die in dem Urteil zum Gesamtzeichen angedeutet ist.
Das Urteil
Der Brunnen. Man mag die Stadt wechseln,
aber kann nicht den Brunnen wechseln.
Er nimmt nicht ab und nimmt nicht zu.
Sie kommen und gehen und schöpfen aus dem Brunnen.
Wenn man beinahe das Brunnenwasser erreicht hat,
aber noch nicht mit dem Seil drunten ist
oder seinen Krug zerbricht, so bringt das Unheil.
Kommentar zur Entscheidung
Eindringen unter das Wasser und Heraufbringen des Wassers, das ist der Brunnen. Der Brunnen nährt und erschöpft sich nicht.
Man mag die Stadt wechseln, aber kann nicht den Brunnen wechseln;
denn mit Festigkeit verbindet sich zentrale Stellung.
Wenn man beinahe das Brunnenwasser erreicht hat, aber doch noch nicht mit dem Seil drunten ist:
dann hat man noch keine Leistung vollbracht.
Wenn man seinen Krug zerbricht:
das bringt Unheil.
Es scheint, als ob die Worte des Kommentars am Anfang etwas defekt wären. Doch ist vom Sinn nichts Wesentliches verlorengegangen. Die erste Hälfte des Urteils bezieht sich auf die Art des Brunnens. Er ist das Unveränderliche im Wechsel. Das obere Zeichen, Kan, deutet dabei den Brunnen an, das untere, Sun, hat als Bild eine Stadt. Der Herr des Zeichens ist im oberen Zeichen, daher kein Wechsel. Die zweite Hälfte des Textes bezieht sich auf die Gefahren des Gebrauchs des Brunnens. Das Zeichen Sun bedeutet ein Seil, das Kernzeichen Li bedeutet einen hohlen Topf, das Kernzeichen Dui bedeutet zerbrechen. Dadurch ist die Gefahr des Zerbrechens des Kruges angedeutet.
Eine symbolische Bedeutung ist in dem Zeichen noch enthalten. Wie das Wasser in seiner Unerschöpflichkeit die Grundbedingung des Lebens ist, so ist der Weg der Könige, die gute Regierung, die unerlässliche Grundlage des Lebens des Staates. Ort und Zeit mögen wechseln, aber die Methoden, die das Zusammenleben der Menschen regeln, bleiben stets dieselben. Missstände entstehen nur, wenn nicht die rechten Leute da sind, um diese Ordnung durchzuführen. Das ist symbolisiert durch das Zerbrechen des Krugs, ehe er das Wasser erreicht hat.
Das Bild
Über dem Holz ist Wasser: das Bild des Brunnens.
So ermuntert der Edle das Volk bei der Arbeit
und ermahnt es, einander zu helfen.
Das Bild des Brunnens wird auch hier auf die Regierung angewandt. Der Brunnen kommt dabei in Betracht als Zentrum der gesellschaftlichen Organisation. Es liegt hier zugleich eine Anspielung vor auf die dem höchsten Altertum zugeschriebene Agrarverfassung. Die Felder waren so eingeteilt, dass acht Familien mit ihren Lehnsfeldern um ein Zentrum lagen, auf dem sich der Brunnen und die Siedlung befanden und das gemeinsam bebaut werden musste für Rechnung der Zentralregierung. Die Form dieser Ansiedlung war durch das Zeichen für Dsing angedeutet:
quadartDie Felder verteilten sich folgendermaßen:quadart
1-8 waren für den Familiengebrauch, 9 enthielt den Brunnen mit der Siedlung und den öffentlichen Feldern. Dabei waren natürlich die Zusammenwohnenden auf soziale Zusammenarbeit angewiesen.
Die Einwirkung der Regierung auf das Volk wird nun den beiden Einzelzeichen entnommen. Die Ermunterung bei der Arbeit entspricht dem Zeichen Kan, das das Zeichen der Arbeit bzw. Mühsal (Lau) ist. Die Ermahnung entspricht dem Zeichen Sun, das die Ausbreitung der Befehle zum Symbol hat.

Die einzelnen Linien

Anfangs eine Sechs bedeutet:
  1. Der Schlamm des Brunnens wird nicht getrunken:
    zu einem alten Brunnen kommen keine Tiere.
  2. Der Schlamm des Brunnens wird nicht getrunken: er ist zu weit unten.
    Zu einem alten Brunnen kommen keine Tiere: Die Zeit verlässt ihn.

Der Strich ist schwach und ganz unten, daher der Gedanke des Schlamms im Brunnen. Er wird von dem festen Strich an zweiter Stelle verdeckt, daher der Gedanke, dass keine Tiere kommen. Er bleibt ganz außerhalb der Bewegung. Die Zeit geht an ihm vorbei.

Neun auf zweitem Platz bedeutet:
  1. Am Brunnenloch schießt man Fische.
    Der Krug ist zerbrochen und rinnt.
  2. Am Brunnenloch schießt man Fische: er hat niemand, der mittut.

Der Strich ist an sich stark und zentral, aber er steht nicht in der Verbindung des Entsprechens zum Herrn des Zeichens. Das Zeichen Sun bedeutet Fische. Das obere Kernzeichen, Li, bedeutet einen Krug, das untere, Dui, bedeutet zerbrechen, daher der zerbrochene Krug.
Dieser Strich ist sozusagen der Gegenpol zum Herrn des Zeichens. Er repräsentiert die Stelle, auf die sich die zweite Hälfte des Gesamttextes bezieht (vom zerbrochenen Krug).
Der Ausdruck: Am Brunnenloch schießt man Fische, der den alten Kommentaren entsprechend übersetzt ist, wird später auch gedeutet: Das Wasser der Brunnenquelle sprudelt nur für Fische. Das Zeichen schë für schießen bedeutet auch in übertragenem Sinn das Schießen eines Strahls. Auf jeden Fall ist der Sinn der, dass das Wasser nicht von Menschen zum Trinken benutzt wird.

Neun auf drittem Platz bedeutet:
  1. Der Brunnen ist gereinigt, aber man trinkt nicht daraus.
    Das ist meines Herzens Leid;
    denn man könnte daraus schöpfen.
    Wäre der König klar, so genösse man gemeinsam das Glück.
  2. Der Brunnen ist gereinigt,
    aber man trinkt nicht daraus.

    Das ist das Leid des Handelnden.
    Sie flehen, dass der König klar wäre, um das Glück zu erlangen.

Der Strich steht als starker an der Spitze des unteren Zeichens, darum ist der Brunnen gereinigt. Es besteht keine Beziehung des unteren zum oberen Zeichen, daher die Isoliertheit. Aber innerlich sind durch die Kernzeichen verbindende Tendenzen vorhanden: sowohl das Kernzeichen Dui als das Kernzeichen Li weisen in ihrer Bewegung nach oben. Daher das Bedauern der Handelnden, d. h. der nach oben weisenden Kernzeichen, und die Hoffnung, dass der König klar werde. Der König ist der Herr des Zeichens Neun auf fünftem Platz, der mit Neun auf drittem Platz durch das obere Kernzeichen Li, Klarheit, verbunden ist.

Sechs auf viertem Platz bedeutet:
  1. Der Brunnen wird ausgemauert, kein Makel.
  2. Der Brunnen wird ausgemauert. Kein Makel: denn es ist eine Instandsetzung des Brunnens.

Der Strich steht in Beziehung des Zusammenhaltens mit dem Herrn des Zeichens auf fünftem Platz, daher der Gedanke, dass der Brunnen instand gesetzt wird, so dass er das Quellwasser von der Neun auf fünftem Platz aufzunehmen imstande ist. Hier ist der Minister in unmittelbarer Nähe des Fürsten, der mit ihm zum Heil des Ganzen zusammenwirkt.

Neun auf fünftem Platz bedeutet:
  1. Im Brunnen ist ein klarer, kühler Quell, den man trinken kann.
  2. Das Trinken des klaren, kühlen Quells beruht auf seiner zentralen und korrekten Stellung.

Hier ist der Herr des Zeichens. Im oberen Zeichen ist es der lichte Strich zwischen den beiden schattigen, der das Wasser zwischen den Rändern darstellt; daher der Gedanke des klaren, kalten Quells. Als Herr des Zeichens steht er den übrigen zur Verfügung infolge seiner zentralen und korrekten Stellung.

Oben eine Sechs bedeutet:
  1. Man schöpft aus dem Brunnen ohne Hinderung.
    Er ist zuverlässig. Erhabenes Heil!
  2. Erhabenes Heil
    auf dem oberen Platz, das bedeutet große Vollendung.

Der Strich ist ganz oben, also da, wo das Wasser des Brunnens von den Menschen benützt werden kann. Der Gebrauch des Brunnens wird eben dadurch, dass das Wasser nach oben kommt, ermöglicht. Daher ist in diesem Strich die Vollendung des Zeichens gegeben; deshalb die Hinzufügung des großen Heils*.

Anmerkung:
*Weil der Gedanke des Brunnens darauf beruht, dass das Wasser nach oben gebracht wird, darum werden die einzelnen Linien, je weiter sie oben sind, desto günstiger in ihrer Bedeutung.