Schule des Rades

Richard Wilhelm

I Ging · Das Buch der Wandlungen

Drittes Buch: Die Kommentare — Zweite Abteilung

I D E O G R A M M

62. Siau Go - Des Kleinen Übergewicht

Kernzeichen:Dui und Sun
Die Herren des Zeichens sind die zweite und fünfte Linie, deshalb, weil sie weich sind und die Mitte haben. Sie befinden sich in einer Zeit, da ein Übergang notwendig ist, ohne zu übertreiben.
Die Reihenfolge
Wenn man das Vertrauen der Wesen hat, so bringt man sie in Bewegung; darum folgt darauf das Zeichen: des Kleinen Übergewicht.
Vermischte Zeichen
Des Kleinen Übergewicht bedeutet einen Übergang.
Beigefügte Urteile
Die Herren spalteten ein Holz und machten einen Stößel daraus und höhlten die Erde als Mörser. Der Nutzen des Mörsers und Stößels kam allen Menschen zugut. Das entnahmen sie wohl dem Zeichen: des Kleinen Übergewicht.
Das chinesische Wort Go lässt sich nicht mit allen seinen Nebenbedeutungen ins Deutsche übersetzen. Es heißt vorübergehen, dann kommt der Gedanke des Übermaßes, Übergewichts dazu: alles, was darauf beruht, dass die Mitte überschritten ist. Es sind Übergangszustände, außerordentliche Zustände, um die es sich handelt. Die Struktur des Zeichens ist so, dass die Weichen außen sind. Wenn dabei die Starken in der Überzahl sind, so entsteht das Zeichen: des Großen Übergewicht (Nr. 28). Sind die Schwachen in der Überzahl, so entsteht des Kleinen Übergewicht. Aus den Kernzeichen unseres Zeichens ergibt sich dieselbe Struktur wie aus den Halbzeichen von Nr. 28.
Das Zeichen ist das Gegenstück des vorigen.
Das Urteil
Des Kleinen Übergewicht. Gelingen.
Fördernd ist Beharrlichkeit.
Man mag kleine Dinge tun, man soll nicht große Dinge tun.
Der fliegende Vogel bringt die Botschaft:
Es ist nicht gut, nach oben zu streben,
es ist gut, unten zu bleiben. Großes Heil!
Kommentar zur Entscheidung
Des Kleinen Übergewicht. Die Kleinen sind im Übergewicht und haben Gelingen. Beim Übergang gefördert werden durch Beharrlichkeit, das bedeutet, dass man mit der Zeit geht.
Das Weiche erhält die Mitte, darum Heil in kleinen Dingen. Das Harte hat seinen Platz verloren und ist nicht in der Mitte; darum soll man nicht große Dinge tun.
Das Zeichen hat die Form eines fliegenden Vogels. Der fliegende Vogel bringt die Botschaft: Es ist nicht gut, nach oben zu streben, es ist gut, unten zu bleiben. Großes Heil! Nach oben zu streben ist Empörung, nach unten ist Hingebung.
In Ausnahmezeiten sind Ausnahmemaßregeln notwendig, um die Regel wiederherzustellen. Hier handelt es sich darum, dass die Zeit eine scheinbar zu weitgehende Zurückhaltung verlangt. Es ist eine Zeit wie unter König Wen und dem Tyrannen Dschou Sin. Diese Zurückhaltung, die übertrieben erscheinen könnte, ist gerade das, was die Zeit erfordert. Dieses Kleine im Übergewicht wird auch dadurch angedeutet, dass es weiche, d. h. kleine Striche sind, die die Mittelplätze innehaben und dadurch Herren des Zeichens sind, während die starken Linien von der ausschlaggebenden Stellung außen ins Innere gedrängt sind, ohne zentral zu sein.
Das Große im Übergewicht ist wie ein Balken. Seine Gefahr ist zu große Schwere, darum muss er in der Mitte nach oben gestützt werden. Das Kleine im Übergewicht ist wie ein Vogel. Seine Gefahr ist, dass er zu weit nach oben steigt und den Boden unter den Füßen verliert.
Das Bild
Auf dem Berg ist der Donner:
das Bild von des Kleinen Übergewicht.
So legt der Edle im Wandel das Übergewicht auf die Ehrerbietung,
bei Trauerfällen legt er das Übergewicht auf die Trauer,
bei seinen Ausgaben legt er das Übergewicht auf die Sparsamkeit.
Der Donner, der aus der Ebene in die Höhe steigt, wird durch diesen Übergang immer kleiner. Der Gedanke des Übergewichts, des Ein-wenig-zu-viel-Tuns in der rechten Weise, wird dem entnommen; denn eben dadurch, dass man ein wenig zu viel tut nach der Seite des Kleinen hin, trifft man das Rechte; so beim Wandel in der Ehrerbietung, bei der Beerdigung in der Trauer, bei Ausgaben in der Sparsamkeit. Der Wandel wird nahegelegt durch das obere Zeichen Dschen, das Bewegung bedeutet, die Beerdigung durch die Stellung der Kernzeichen See über Holz. (Vgl. hierzu Nr. 28, wo ebenfalls der Gedanke der Beerdigung dieser Kombination entspricht.) Sparsame Ausgaben werden nahegelegt durch das Zeichen Gen, Berg, das Beschränkung andeutet.

Die einzelnen Linien

Anfangs eine Sechs bedeutet:
  1. Der Vogel kommt durch Fliegen ins Unheil.
  2. Der Vogel kommt durch Fliegen ins Unheil.
    Da lässt sich nichts machen.

Die Linie befindet sich unten am Zeichen des Berges. Sie sollte stillehalten. Aber da dem Sinn des Zeichens nach das Schwache im Übergewicht ist, lässt sie sich nicht festhalten, sondern sucht – da eine geheime Beziehung zur Neun auf viertem Platz da ist – aufzusteigen wie ein fliegender Vogel. Damit aber bringt sich der Vogel selbst in Gefahr; denn wenn es für einen Vogel Zeit ist, sich stillezuhalten, und er fliegt auf, so gerät er sicher dem Jäger in die Hände.

Sechs auf zweitem Platz bedeutet:
  1. Sie geht an ihrem Ahnherrn vorbei und trifft die Ahnfrau.
    Er erreicht nicht seinen Fürsten und trifft den Beamten.
    Kein Makel.
  2. Er erreicht nicht seinen Fürsten.
    Der Beamte darf (den Fürsten) nicht übertreffen wollen.

Die Neun auf drittem Platz ist der Vater, die Neun auf viertem Platz der Großvater, die Sechs auf fünftem Platz die Großmutter. Es besteht zur Sechs auf fünftem Platz die Beziehung der Gleichartigkeit. Da das Zeichen unter der Bestimmung steht, dass das Kleine am Großen vorbeigeht und es übersteigt, da ferner die Sechs auf fünftem Platz Herr des Zeichens ist, ist das Bild der Ahnfrau gewählt. Auf der anderen Seite ist der Strich Beamter, der den weichen Fürsten, Sechs auf fünftem Platz, nicht übertrifft, weil er selbst weich ist. Er trifft in der Neun auf drittem Platz einen Beamten, mit dem er durch die Beziehung des Zusammenhaltens vereinigt ist.

Neun auf drittem Platz bedeutet:
  1. Wenn man sich nicht außerordentlich vorsieht,
    so kommt etwa einer von hinten und schlägt einen.
    Unheil!
  2. Es kommt etwa einer von hinten und schlägt einen.
    Was ist das für ein Unheil!

Die Linie ist zwar stark, aber die Sechs auf zweitem Platz ist in günstigerer Position, weil sie zentral und Herr des Zeichens ist. Die Neun auf drittem Platz als auf der Spitze des Zeichens Gen, Berg, befindlich hat die Möglichkeit, sich vorzusehen vor unerwarteten Zufällen. Tut sie es nicht, so kommt das Unheil von hinten.

Neun auf viertem Platz bedeutet:
  1. Kein Makel. Ohne vorbeizugehen, trifft er ihn.
    Hingehen bringt Gefahr. Man muss sich hüten.
    Handle nicht. Sei dauernd beharrlich.
  2. Ohne vorbeizugehen, trifft er ihn.
    Der Platz ist nicht der gebührende.
    Hingehen bringt Gefahr. Man muss sich hüten.
    Man darf so durchaus nicht fortmachen.

Die Stärke der Neun auf viertem Platz ist durch die Weichheit des Platzes gemäßigt. Es ist der Platz des Ministers. Er sucht nicht seinen Fürsten zu übertreffen und begegnet ihm so, dass alles gut ist. Nur ist der Strich als Herr des oberen Zeichens Dschen zu leicht geneigt, sich zu einer übermäßigen Bewegung hinreißen zu lassen, die gefährlich wäre. Daher die Warnung vor dem Handeln.

Sechs auf fünftem Platz bedeutet:
  1. Dichte Wolken, kein Regen von unserm westlichen Gebiet.
    Der Fürst schießt und trifft jenen in der Höhle.
  2. Dichte Wolken, kein Regen:
    er ist schon oben.

Das Orakel: Dichte Wolken, kein Regen steht auch bei dem Zeichen Des Kleinen Zähmungskraft, Nr. 9, das gewissermaßen eine ähnliche Situation zeigt. Aber dort sind die starken Striche oben, die die Wolken schließlich zu Regen verdichten. Hier, wo das Kleine am Großen vorübergeht, ist die Sechs auf fünftem Platz zu weit oben. Es ist kein starker Strich mehr über ihr, der die Wolken verdichten könnte. Der Westen wird angedeutet durch das obere Kernzeichen Dui, das den Westen bedeutet. Es bedeutet auch Metall, darum das Bild des Schießens. Der in der Höhle ist die Sechs auf zweitem Platz. Das Wort für Schießen bedeutet das Schießen mit einem Pfeil, der eine Leine hatte, so dass man das getroffene Wild herbeiziehen konnte. Diese Verbindung beruht auf dem Umstand, dass die Sechs auf fünftem Platz und die Sechs auf zweitem Platz in der Beziehung der Gleichartigkeit zueinander stehen.

Oben eine Sechs bedeutet:
  1. Ohne ihn zu treffen, geht er an ihm vorbei.
    Der fliegende Vogel verlässt ihn. Unheil!
    Das bedeutet Unglück und Schaden.
  2. Ohne ihn zu treffen, geht er an ihm vorbei. Er ist schon hochmütig.

Die obere Sechs steht eigentlich zur Neun auf drittem Platz in der Beziehung des Entsprechens. Aber zur Zeit, da das Kleine am Großen vorübergeht, kommt diese Beziehung nicht in Betracht. Die obere Sechs ist nur nach oben gerichtet. So ist auch hier wieder das Bild des Vogels. Aber während bei der Anfangssechs das Unheil darin bestand, dass sie nicht abwarten konnte, besteht es hier darin, dass die Linie zu hoch und hochmütig ist und nicht mehr zurück will. Damit verirrt sie sich, verlässt die übrigen und zieht sich Unheil von Göttern und Menschen zu.