Schule des Rades

Arnold Keyserling

Das magische Rad Zentralasiens

Schlusswort

Das Rad

Das Erscheinen des Rades ist die Wiedergeburt, das Vermächtnis Gesar Khans. Wer sich persönlich und kollektiv zur neuen Zivilisation unter Anerkennung aller Traditionen und Kulturen entschließt, hat Teil an der Wassermannzeit und lebt im Rad. Auf der Erde gibt es künftig keine Klassen, keine Eliten. Denn alle Menschen, die das Urbild erkennen, bedürfen keiner Mittler.

Das Rad ist Systemik, nicht Systematik; es umfasst als Weltgrammatik alle Kriterien, wie sich das Chaos in den Kosmos verwandeln lässt. Wer sein Wesen gefunden hat, lebt an der Nahtstelle zwischen Traum und Wachen, zwischen Chaos und Kosmos. Im Chaos, ausgehend von der irrationalen Subjekthaftigkeit des Göttlichen sind es die vier Attraktoren, die Ordnung schaffen können.

Fraktal bedeutet den Zwischenraum der Chakras und Dimensionen. Wenn in einem der Vektoren in einem unendlichen unperiodischen, also irrationalen Bruch eine neue Ziffer auftaucht, dann schafft sie durch Iteration aus dem Chaos eine der vielfältigen Formen der Evolution in der Natur, ob es nun ein Lebewesen ist oder ein Stein.

Dimension bedeutet Grenze, Limes: Linie mit zwei Punkten, Fläche mit drei, Volumen mit vier und Raumzeit mit fünf Punkten, mit dem einen der nullten Dimension. Die vier Bewusstseinsschichten haben am Chaos teil, sind aber nur dem Entscheiden des Gewahrseins zugänglich. Sie sind nicht wie in der rationalen Mathematik bestimmbar und voraussagbar, sondern Ursprung der selbstähnlichen Kreativität. Betrachten wir nun die Attraktoren in tieferer Weise:

F i x p u n k t
Fixpunktattraktor
G r e n z z y k l u s
Grenzzyklusattraktor
T o r u s
Torusattraktor
L o r e n z
seltsamer Attraktor
  1. Der Fixpunkt-Attraktor, der von null zu eins strebt, ist die Voraussetzung der Energie. Kesar erreichte ihn, als er sich in seiner Mitte auf die Erdachse ortete. Nur um einen Punkt, verstanden als raumzeitliches Ereignis, als Sattelpunkt zwischen Anziehung und Abstoßung, lassen sich räumliche und zeitliche Gegebenheiten anordnen.
  2. Der Grenzzyklus-Attraktor bestimmt die fraktalen Iterationen zwischen erster und zweiter Dimension. Hier entsteht das Bewusstsein, die Beziehung vom Subjekt zum Objekt. Das Gedächtnis ist Verräumlichung der Zeit. So ist die Kategorie des Erinnerns die Verwandlung von Linie oder Gleichung in Fläche, von Kurve in Umlauf, und vom Raum in die Zeit, die nur als Dauer, als Erinnerung des Kreislaufes im Austausch besteht. Beide Punkte sind sich ihrer Subjekthaftigkeit bewusst und schaffen die Gegenwart, die Vergegenwärtigung.
  3. Der Torus-Attraktor bestimmt alle Beziehungen zwischen zweiter und dritter Dimension. Es ist die erfahrbare Materie in Raum und Zeit, die aus periodischen, miteinander verquickten spiralförmigen raumzeitlichen Abläufen unsere erfahrbare Wirklichkeit schafft.
  4. Der seltsame Attraktor als Schritt von der dritten zur vierten Dimension, von der reellen Zahl zur komplexen, findet die Null in der vierten als Mitte seiner Selbst und als göttliche Mitte des All. Die imaginäre Zahl in der Iteration ist das erscheinende Subjekt, die Turbulenz, die in fraktaler Selbstähnlichkeit als einzige mit der Ganzheit in Zusammenhang steht. Nur nullte und vierte Dimension sind, die anderen sind Wirkweisen. Daher handelt es sich darum im Leben, das Rad zum Werkzeug des Gewahrseins zu wollen, um es zur Mitte des seltsamen Attraktors zu erheben.

Die Wiederkehr Kesars und des Rades, in der Mongolei für die Gegenwart erwartet, wird als Krieg verstanden, indem die Feinde der Religion ihre Kraft verlieren und mit Hilfe der befreiten Menschen den Weg über die Meditation zurück zu Sunya, zur Null, zum donnernden Schweigen Bodhi-Dharmas finden.

Es gibt keine Methode des Lehrens der Magie im historisch-systematischen Sinn. Der seltsame Attraktor verlangt den Mut zu sich selbst und zur Kosmisierung. Gott ist Urgrund als das Einende Eine aus der Mitte des Rades. Aber Gott ist auch Demiurg, Ichorgan des Menschen im All. Nur aus beiden Wurzeln — der geometrischen und arithmetischen Mitte, null und eins — kann das Wesen geschaffen werden. Dieses Wesen ist in der systemischen Ordnung, nicht der systematischen der Wissenschaft.

Alles Verstandene wird zum Gedächtnis; vergessen, muss es später wiedererweckt zu werden, wenn man es zur Aktualisierung braucht. Darum sind die beiden Methoden des Unterweisens im Rad die sokratischen: Anamnese und Maieutik.

  • Anamnese bedeutet alle Erfahrung und alle Gestaltung auf die neun Ziffern, die sieben Grundbegriffe, die zwölf Inbegriffspaare und die acht Raumrichtungen zu eichen. Der entstehende gemeinsame Grund ist die wahrheitsgemäße Sprache des Sinnes, die allen Bedeutungen nicht nur gerecht wird, sondern auch deren Verbindung mit allen anderen ermöglicht: die Liebe als Resonanz.
  • Maieutik heißt Geburtshilfe; aber nicht, wie es die akademische Philosophie missverstand zum selbständigen Denken, sondern ganz im Gegenteil zum Erwachen des Wesens durch Mut und Wagnis. Man erkennt, dass nichts vorbestimmt ist, sondern durch die Gesetze des Rades geschaffen werden kann: die kierkegaardsche Verzweiflung als Voraussetzung der Auferstehung zur Neuen Erde.

Die räumlichen politischen Strukturen der Kultur haben keinen Eigenwert, da die Erde einmal untergehen wird. Sie sind allesamt Material der Verwirklichung der Wesen. Die bekannte Geschichte muss aus der falschen Kausalität in das kollektive Gedächtnis verwandelt werden, woraus jeder das Material seiner Selbstaktualisierung schöpft. So bedeutet die Arbeit des Rades die freie Schöpfung aus dem Chaos und damit die Magie.

Magier sein heißt anstelle der kleinen Ordnung der Zivilisation, die immer wieder periodisch ins Chaos zurückfallen muss, die große Ordnung des Himmels zu erreichen, worin jede Handlung mündet, wenn ihre zahlenmäßigen Kriterien erkannt sind. Der Egoismus der neun Gefahren fällt vom erwachten Menschen ab. Er muss zum Mitmenschen durch den Dialog der gemeinsamen Sprache reifen.

Die menschliche Umwelt besteht zwischen Seele und denken in der sprachlichen Noosphäre der Erde. Aber ihr Gefängnis ist zu überwinden; der einzelne, der seine Todesschwelle weiß und an ihr lebt, erreicht das Gewahrsein; anstatt egoistisch für sich selbst zu streben, findet er wie Dschuang Tse die Zauberperle der Selbstvergessenheit. Denn nur wer sein Selbst vergisst und verliert, sich also kein Selbstwertgefühl zuspricht, kann es finden und aktualisieren.

Das Erdheiligtum, die Riten der zwölf Rauhnächte, das gemeinsame Besprechen der neuentstehenden Welt unter Anerkennung aller Kulturen, die als Wege zum Himmel führen, wird eine Vielzahl von Zentren entstehen lassen, wo durch Entdeckung der Parameter und Kriterien das jeweilige Geschehen auf die Ganzheit abgestimmt wird. Tao und Te gehören zusammen, Ich und Selbst schaffen das freudige Wesen, das zu seiner Entfaltung keiner romantischen Liturgie, Ethik, Moral und Erziehungsform bedarf. Die echten zeitgeborenen Riten sind selbstverständlich die Öffnung zum All. Sie sprengen das Ichgefängnis und überwinden so allmählich die falsche Todesangst.

Arnold Keyserling
Das magische Rad Zentralasiens · 1993
Schlüssel der Urreligion
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD