Schule des Rades

Arnold Keyserling

Der Wiener Denkstil

Ludwig Wittgenstein

Bei gleichem Ansatz wie Mach und der Wiener Kreis bezeichnete Wittgenstein seine Richtung später in England als die Common Language School (Schule der Umgangssprache). Sie wurzelt nicht in der Struktur, sondern im freien Sprachgebrauch, oder, wie er es nannte, im Sprachspiel.

Der wesentliche Satz, in dem Wittgenstein sowohl mit Carnap als auch mit Mach übereinstimmt, lautet:

Was man Überhaupt sagen kann, das müsse man klar sagen, und worüber man nicht reden könne, davon müsse man schweigen.

Wie die beiden anderen Denker glaubte demnach auch Wittgenstein an die fundamentale Lösbarkeit aller sprachlich-philosophischen Probleme. Doch sah er die Lösung nicht, wie Carnap, in einer methodisch bis zur äußersten Strenge durchgebildeten Begriffssprache: im Gegenteil, eine vollständig erschöpfende Definition und Erklärung mache es einem Zuhörer sogar unmöglich, das Gesagte wirklich zu verstehen. Echtes Verständnis sei nur möglich, wenn der erste Redner dem zweiten viele Dinge zur Ergänzung überlasse und ihn somit zur Eigentätigkeit, also zum Denken, anrege.

Wittgenstein verstand das Denken als Bewegung, und Verstehen als gemeinsame Bewegung, als Wanderung im geistigen Raum, wobei einmal der eine, ein andermal der andere Gesprächspartner den Faden weiterknüpft. Doch dieses Denken zielt weder auf einen Einklang mit einer qualitativen Urform noch auf ein überreden und In-die-Enge-Treiben des Gegners, wie in der Dialektik des Sokrates, auch nicht auf eine bewusst erstrebte Verwandlung der Wirklichkeit, wie bei der marx’schen Dialektik: Wittgenstein erlebte die Urform des Denkens im Spiel, d. h. in einem geordneten raumzeitlichen Vorgang, dessen Regeln sich alle Gesprächspartner freiwillig unterordnen. Doch sah er nicht das Spiel, das Sprachspiel, als eine menschliche Geistestätigkeit unter anderen; im Gegenteil, er sah im Sprachspiel die einzige freie menschliche Tätigkeit, ja das Wesen des Philosophierens überhaupt. Und er maß der wissenschaftlichen Genauigkeit, ja selbst der Mathematik keine größere Wirklichkeitsgemäßheit zu, als etwa dem Schachspiel oder dem Damespiel. Auch unsere genauesten Rechnungen und mathematischen Operationen sind nur dann möglich, wenn wir gemeinsam irgendwelche Regeln anerkennen, wobei aber diese Regeln um nichts bindender sind, als etwa die Regeln des Fußballspiels. Doch das heißt nicht, dass sie nicht gültig seien: im Gegenteil, das jeweilige Spiel wird nur dadurch gekennzeichnet, dass in ihm eben diese bestimmten Regeln und keine anderen absolute Geltung haben.

Politik, Wissenschaft und Kunst, aber auch Logik, Mathematik und Recht sind somit für Wittgenstein nichts anderes als verschiedene Arten von ganz bestimmten Spielen; und die Freiheit des Menschen besteht einzig darin, sich das Spiel auszuwählen, welches er nun gerade zu spielen beabsichtigt. Hierin liegt aber auch seine positive Entschlusskraft: im Unterschied zum Tier ist er frei, seine Spiele zu wählen, während sie jenem durch seine Instinkte vorgeschrieben sind.

Spiel ist somit das Kennzeichen der freien Menschlichkeit, das wahre Philosophieren: zwischen Kind und Mann besteht kein wesensmäßiger Unterschied. Erst wenn der Mensch sein Spiel als bitteren Ernst missversteht, dann geht er seiner Freiheit und seiner Selbstbestimmung verlustig. Die Griechen unterschieden zwischen den Göttern und den Menschen, wie Kerényi es beschreibt, so, dass dem Sterblichen bitterer Ernst sei, was den unsterblichen Göttern nur Spiel bedeute: allein in dieser Auffassung lässt sich die Erlernung des Wittgenstein’schen Sprachspiels einem antiken Einweihungsweg und mit gewissem Recht einer mystischen Praktik vergleichen.

Doch hier bedeutet Mystik nur das, was der andere nicht versteht, bevor er nicht selbst den gleichen Weg eingeschlagen hat. Die Erkenntnis des Sprachspiels ist nur ein möglicher Weg zur Erlangung dieser inneren Freiheit, der wahren menschlichen Würde, die den Kindeszustand auf einer höheren Ebene wiederherstellt.

Derselbe Gedanke hat in Wien auch noch andere Ausprägungen gefunden: Josef Matthias Hauer, der Musiker, erwartete die gleiche befreiende Wirkung, die sich Wittgenstein vom Sprachspiel erhoffte, vom Erlernen seines Zwölftonspiels, welches ebenfalls dem Außenstehenden esoterisch und unverständlich vorkam; und der Verhaltenspsychologe Konrad Lorenz schließlich wies auf die Gleichartigkeit tierischer Verhaltensweisen und menschlicher Riten und Kulturformen hin: auch er sieht den Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier einzig darin, dass das Tier dem gebildeten Verhaltensmechanismus, der Spielregel, bedingungslos ausgeliefert sei, während der Mensch gleichsam über ein Parlament der Instinkte und Triebkräfte verfüge, die er im frei gewählten Spiel bewusst ordnen und einsetzen könne. Jedoch sei dieses Ordnen ein fernes Ziel der menschlichen Befreiung; Lorenz bezeichnete launig den jetzigen Menschen der Erde als das von Charles Darwin gesuchte berühmte missing link, das fehlende Zwischenglied zwischen dem Schimpansen und dem wahren Menschen der Zukunft.

Arnold Keyserling
Der Wiener Denkstil · 1965
Studienkreis KRITERION
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