Schule des Rades

Arnold Keyserling

Naturwissenschaft gegen Esoterik

Gespräch Teil 2

F. K.
Weil Sie die sehr schwierigen Begriffe verwendet haben, greifen wir vielleicht auf den größten aller österreichischen Philosophen des Jahrhunderts, Ludwig Wittgenstein, zurück. Ich glaube, der hat es sehr einfach gesagt, so, dass es jeder verstehen kann. Er unterscheidet nämlich — und ich, glaube, auf das haben Sie ja angespielt — zwischen dem, was man sagen und nicht definieren kann. Er polemisiert nicht gegen den nicht­natur­wissen­schaft­lichen Teil der Wissenschaft, sondern er schließt ihn aus, sagt eigentlich recht hart, was man nicht sagen kann. Darüber muss man schweigen. Da meint er aber in der Rationalität schweigen. Reden kann man in der Kunst, in der Esoterik, in der Religion sehr wohl. Diese Abgrenzung zwischen dem, was man sagen kann und was sich zeigt, ist ja eine der stärksten philosophischen Aussagen des Jahrhunderts. Sie wurde von Wittgenstein vor 1920 gemacht. Das ist doch ein ganz wesentlicher Beitrag und eine Abgrenzung dessen — auch eine Voraussetzung dieser annähernde Tendenz. Ich glaube, der zweite große Österreicher und Weltphilosoph des Jahrhunderts Karl Popper hat ebenso einen Beitrag zu dieser Verständigungsmöglichkeit geliefert, in dem er die nichtwissenschaftlichen Aussagen grundsätzlich als vorwissenschaftlich definiert hat. Vom Standpunkt der strengen exakten Wissenschaft ist nach Popper nichts verboten, was man sagt, auch wenn es metaphysisch ist. Es ist zumindest eine Aussage: eine vorwissenschaftliche. Wesentlich ist, dass man überprüfen kann, dass man sie widerlegen kann vom Standpunkt der reinen, exakten Naturwissenschaft. Das sind doch zwei Ansätze.
J. G.
Ich bin der letzte, der den Anspruch einer absoluten Wissenschaft verteidigt. Nur in dieser Hinsicht muss man sich klar darüber sein: Die Wissenschaft selber zum Beispiel hat nie einen Absolutheitsanspruch erhoben. Dieser Anspruch ist ihr zugeschoben worden, weil die Menschen nicht mehr zurecht gekommen sind mit den verschiedenen Lebenslagen. Dies meine ich damit, dass man hier vorsichtig sein muss. Es könnte als sehr angenehm angesehen werden, wenn man einen Disputanten hat, der die Wissenschaft angreift und verantwortlich macht für alles, was in der Welt an Unzulänglichem passiert. Man muss genau darauf achten, ob nicht die Wissenschaft, wie vieles andere auch, überfordert wird. Ich könnte ja auch umgekehrt vorgehen und sagen: Eine bestimmte religiöse Richtung beispielsweise, die Sie offerieren oder andere offerieren, befriedigt nicht im geringsten, denn ich bin trotzdem unglücklich, fürchte mich vor dem Tod etc. Worin besteht denn dieser angebliche Vorteil von Esoterik? Und jetzt könnten Sie wiederum umgekehrt sagen, ja aber die Wissenschaft führt mich nicht zum Glück, die Rationalität der europäischen Kultur hat verschiedene Unzulänglichkeiten. Die Frage ist anders zu stellen: Hat die neuzeitlich-europäische Rationalität das je beansprucht? Ist es legitim, dies von ihr zu beanspruchen oder ist die Wissenschaft einfach ein kleiner, aber verlässlicher Teil unseres kulturellen Geschehens? Dies ist im Kern die Popper’sche Philosophie und die Wittgenstein’sche Formulierung der Situation der Moderne.
A. K.
Wenn ich mich gegen einen Rationalitätsbegriff wehre, so ist das selbstverständlich nicht der Rationalitätsbegriff eines Varela oder der Evolutions-Erkenntnistheorie, mit denen ich übereinstimme. Sagen wir es einmal anders: Die große Wandlung im wissenschaftlichen Weltbild, die sie in gewisser Hinsicht mit der Esoterik zusammenfügt, ist die Erkenntnis der Evolutionstheorie, dass der Mensch sich von unten herauf entwickelt hat. Das gleiche behauptet die Esoterik schon immer. Die Feinde der Esoterik waren die etablierten Religionen, und jetzt ist es unterhaltsam, dass ein gewisser Zweifrontenkrieg da ist: auf der einen Seite die Kirchen, die sagen, sie können diese Fragen nicht beantworten, auf der anderen Seite die Vertreter der Aufklärung. Ich wehre mich dagegen, dass im Namen der Rationalität und des Demokratiebegriffes Menschen manipuliert werden.
Ich bekam zum Beispiel kurz vor den Wahlen von verschiedenen führenden Politikern Briefe, dass ich um Gottes Willen die Grünen nicht unterstützen sollte, weil ich müsste mich doch an die Zeit des Nationalsozialismus erinnern. Nun habe ich das Glück gehabt, dass ich bereits 1934 aus Deutschland ausgebürgert wurde, also dass bei mir die Gefahr faschistischer Infektion gering ist. Es gibt im Augenblick Menschen, die glauben, es könnte alles so weitergehen und es gibt Menschen, die glauben, man müsse alles umdenken. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich in der Mitte. Ich bin der Ansicht, dass es in vielen Fächern wie in der Pädagogik und in der Soziologie schon ganzheitliche Ansätze gibt. Wir müssen ernst mit der Vorstellung machen, dass der Mensch ein sehr reiches Wesen ist. Andere Kulturen sind nicht weniger wertvoll wie die europäischen. Der eurozentrische Gesichtspunkt ist zu klein. Ich habe viele Jahre in Asien gelebt, und wenn man dort arbeitet, bekommt man einen gewissermaßen etwas anderen Blick; dort ist die ganze Lebenswelt anders. Wie Max Weber zeigte, sind die Weltbilder und die Lebenswelt nie kritisch ganz erfassbar. Es ist der große Vorzug der Rationalität, dass Menschen darinnen übereinstimmen können. Heute wird Rationalität als Schlagwort verwendet gegen die New Age Bewegung. Kaum einer traut sich zu behaupten, er gehöre dazu: Capra zum Beispiel hat erklärt, er wäre schon längst nicht mehr in New Age… Ich dagegen rechne mich dazu. Ich bin der Überzeugung, dass ein ungeheurer Aufbruch stattfindet: dass wir von vielen Völkern, für die man sich bisher überhaupt nicht interessiert hatte, lernen können. Dieser Tage ist im Burgenland eine interessante Ausstellung über den Voodoo, wo das erste Mal von einem, der lange dort gelebt hat, gezeigt wird, was dieses Weltbild uns bedeuten kann. Ich selbst gehe den Weg der Rationalen Esoterik eigentlich in Übereinstimmung mit Wittgenstein. Ich bin der Überzeugung, dass man alles in normaler Sprache sagen kann.
Arnold Keyserling
Naturwissenschaft gegen Esoterik · 1989
im Gespräch mit Johann Götschl ·
Moderation Franz Kreuzer
© 1998- Schule des Rades
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