Schule des Rades

Arnold Keyserling

Der Traum vom Paradies

I. Einklang mit dem Ganzen

Der Weg des Altsteinzeitmenschen

Allen Vorstellungen des Paradieses liegt die Überzeugung zugrunde, dass es im menschlichen Leben einen Zustand der Freude und Beglückung gibt, der sich vom banalen und leidvollen Alltag unterscheidet. Viele Kulturen legen die Zeit, in der alle diesen Zustand ohne Mühe erreichen konnten, in eine vorgeschichtliche Epoche.

Aus ethnologischer Sicht hat es zweifellos in der Altsteinzeit Menschengruppen gegeben, die in Einklang mit den Instinkten gelebt haben, bei denen die Sprache nur zur Verkörperung der Visionen in Bild und Ritus diente und die die Entfremdung des ichhaften Menschen noch nicht kannten. So bezeichnen die nordamerikanischen Indianer, welche keine Schrift entwickelten, und bis ins vorige Jahrhundert als Jäger und Sammler lebten, den Menschen als das Tier, das zu Orgasmus und Vision begabt sei. Jeder muss seine eigene Vision finden, die ihren Niederschlag in seinem tierhaften Namen hat, wie großer Büffel, schleichende Eule. Dieser Name soll die Rolle im Naturganzen verdeutlichen, die dem einzelnen nach einer Fastenperiode als Vision zugänglich wurde.

Erreichen der Vision — als bewusste Erkenntnis der Instinktgeborgenheit — ist das Grundanliegen all dieser Völker. They lament for a vision, heißt es bei den Sioux. Ist die Vision gefunden und der Name angenommen, wird man zum Erwachsenen; wer dies nicht erreicht, bleibt sein Leben lang abhängig, als Kind oder gar Sklave des Stammes. Die indianischen Sprachen haben keinen Ausdruck für Zeitdauer und Planung, nur für den Gegensatz des Unmanifestierten und Manifestierten, des Nagual und Tonal in toltekischer Sprache, welche Begriffe durch Castaneda geläufig geworden sind. Der Durchschnittsmensch lebt nur im Tonal, in der Welt, die er sich sprachlich dauernd erklärt und in seiner Blase der Wahrnehmung aufrecht erhält. Der Schamane dagegen durchbricht sie, hat Zugang zum Nagual als substantieller Welt des Imaginalen, und lebte daher in einer vollen Existenz, ja kann durch entsprechende Läuterung bereits in diesem Leben den Körper verlassen und das große Wunder des Alls lebendig erfahren.

Diese Mentalität ist demokratisch-brüderlich, kennt weder Matriarchat als Heiligkeit einer Tradition noch Patriarchat als Hierarchie. Und in der Erinnerung vieler Völker wird sie im Vergleich zur jetzigen Welt verherrlicht, wie das Zeitalter des Chronos von den Griechen, als es noch keine Herren und Knechte gab. Für die altsteinzeitliche Mentalität gibt es keine geheiligte Interpretation, jeder hat seine eigenen Reisen; Religionen sind daher Reiseberichte, die richtig und falsch sein mögen.

Als der Ethnologe Michael Harner bei einer Initiation durch eine Schlingpflanzendroge in Südamerika eine Vision erlebte, in der Krokodilswesen ihm erklärten, sie seien die eigentlichen Herren der Welt, war er tief besorgt und ging zu einem berühmten blinden Schamanen, dem er sein Erleben erzählte. Darauf brach dieser in Gelächter aus und sagte: Das behaupten sie immer!

Für den Altsteinzeitmenschen ist nur sein Mut der Ratgeber, nie kann er auf Sicherheit rechnen; aber wie es im tierischen Leben keine Angst im Sinne des Verlustes eines gewohnten Rahmens gibt, sondern nur Wachsamkeit, ist für den Schamanen der Weg Schritt für Schritt bis zu einem freudigen Dasein vorgezeichnet. Er führt über Besiegung von vier Feinden:

  1. Ersetzen der Angst, dass der gewohnte Lebensrahmen zusammenbricht, durch die ewige Bereitschaft zum Neuen.
  2. Überwindung der Klarheit, dass man nicht mit gewohnten Begriffsmitteln an die Welt herangeht, sondern diese aus der Erfahrung neu sich bilden lässt.
  3. Kein Missbrauch der Macht, die dann entsteht, wenn man auf Grund seiner höheren Bewusstheit andere führen will und damit ihnen wieder zum Opfer fällt — man wird grausam und willkürhaft, wie es Don Juan beschreibt.
  4. Indem man als einzigen Feind die Trägheit und Müdigkeit erkennt, gegen die man bis zum letzten Atemzug kämpfen muss.

Wer diesen Durchbruch erreicht, hat bereits im Leben eine höhere Wachheit und Freude, die dem leidenden Durchschnittsmenschen als gleichsam höheres Wesen vorkommt, in Wirklichkeit aber, nach schamanischer Ansicht, die menschliche Norm bedeutet, die eben heute nur noch wenige erreichen, die aber jeder erringen könnte, da sie in ihm angelegt ist.

In ethnologischer Formulierung ist der Altsteinzeitmensch der homo faber, das werkzeugschaffende Tier. Der Verlust des Paradieses wird mit der neolithischen Revolution gleichgesetzt, dem Beginn von Besitz und Hierarchie, von Ackerbau und Viehzucht, vom homo sapiens. Die soziokulturelle Tradition tritt zuerst im Matriarchat gleichberechtigt neben die Instinkte. Mit dem Beginn des Lesens und Schreibens wird sie im Patriarchat diesen übergeordnet, führt zuerst noch in der Orakelpraxis ein Schattendasein, bis sie in der Neuzeit ganz verschwindet, und der Mensch nur noch — wie bei uns seit der Aufklärung — rational bestimmt wird. Für den Schamanen ist diese Begrenzung ein Irrtum: erst die Öffnung zum Nagual macht das Leben wieder ganz.

Wenn Traum und Tod nicht einbezogen werden, fehlt die Hälfte der menschlichen Existenz. Matriarchat und Patriarchat lassen sich der Erziehung vergleichen, des local cultural consensus, und der Bewährung im Rahmen der Gesellschaft. Aber erst wenn die Kultur zum Arbeitsrahmen wird ohne Eigenwert, dann gewinnt der Einzelne erneut jene Geborgenheit, die der Mensch der Altsteinzeit nach Finden seines Namens, seiner Medizin gehabt hatte.

Joseph Campbell meinte einmal in einer Eranos-Tagung, vielleicht wäre das jüdische Datum der Weltschöpfung 4004 vor Christi tatsächlich wörtlich zu verstehen, nämlich als Beginn der patriarchalischen Epoche — die ja von vielen Völkern als Errungenschaft gegenüber der matriarchalischen Mentalität gefeiert wurde. Heute nun gelte es, einen weiteren Schritt vorwärts zu machen, der gleichzeitig einer zurück ist. Ein Buschmannkind kann mit sieben Jahren in der Kalahariwüste überleben, weil es die Gesamtheit der Kultur besitzt. Vielleicht bedeutet die Revolution der Mikrocomputer das gleiche für unsere Gegenwart, dass nämlich der patriarchalische Experte seinen Wert verliert in einer Zeit, da alle Information jedem zugänglich wird, und nur jener überlebt, der wieder Vertrauen zu seinen eigenen Motiven findet!

Arnold Keyserling
Der Traum vom Paradies · 1995
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD