Schule des Rades

Arnold Keyserling

Der Traum vom Paradies

II. Samadhi

Der Weg des Yoga

Paradies als ein anderer Bewusstseinszustand, in dem der Mensch die totale Freudigkeit erreicht, ist von alters her Kennzeichen des Yogaweges im Samadhi. Einen erkenntnismäßigen Zugang gewann am Ende des 19. Jahrhunderts der kanadische Psychiater Maurice Bucke. Ihm war aufgefallen, dass viele Menschen seiner Zeit Augenblicke eines besonderen Gewahrseins erlebt hatten, in welchen sie eine unsägliche Seligkeit erfuhren — als Erleben der Naturschönheit, in der Liebe, als Gefühl überströmender Dankbarkeit, als Gotteserleben, als weißes Licht, als Kommunion mit allen Wesen. Bucke nannte diesen Zustand kosmisches Bewusstsein; alle, die ihn erlebt haben, erfuhren damit einen Lebenssinn, der ihnen wesentlicher erschien, als die bürgerliche Erfüllung in Beruf und Familie. Im zwanzigsten Jahrhundert wurde die Bezeichnung im Einklang mit der Existenzphilosophie als Gipfelerfahrung bestimmt, eines Sinnes mit vielen Erleuchtungserlebnissen von Philosophen, wie etwa Jean-Paul Sartre die Grundlage seiner Existenzphilosophie in den Wellen des brandenden Meeres erlebte. Im Yogasutra wird Samadhi als Ziel der bewussten Läuterung betrachtet; also nicht als Zufall, sondern als eigentliche Norm, die nur wenige Menschen erreichen. Und wer sie erreicht hat, sehnt sich danach, sie häufiger zu erleben; das Leben gleiche einer Lichterstraße, da in der Jugend die Erfahrungen des Sinnes nur selten auftreten, doch im Alter dann immer häufiger werden, bis sie in die Helle einer anderen Welt münden.

Diese Seligkeit hat aber eine Gefahr. Der Mensch kennt zwei Geborgenheiten, die infrapersonale, wo der Organismus sich als Einheit mit dem Mütterlichen empfindet und die transpersonale, wo er die höhere Einheit mit Gott und mit anderen in der Liebe erfährt, ohne dass seine Individualität ausgelöscht ist. Die erste nennt man Grundvertrauen, die zweite Urvertrauen, und vom Erleben sind sie nicht leicht zu unterscheiden. Anfangs der Sechzigerjahre kam es oft zur Verwechslung: Drogen können die erste Erfahrung des ozeanischen Fühlens, wie Karlfried Dürckheim es bezeichnet, vermitteln, doch der Mensch bleibt dabei unbeteiligter Zuschauer, kann nicht daraus handeln. Die transpersonale Erfahrung des Samadhi dagegen führt in eine soziale Handlung: eine künstlerische oder philosophische Gestaltung, eine politische Hingabe, die Gründung einer religiösen Gesellschaft.

Sowohl infrapersonale als auch transpersonale Zustände haben eine freudigere Komponente als das personale Bewusstsein, welches Abraham Maslow, der Begründer der humanistischen Psychologie, mit dem entfremdeten Bewusstsein des Durchschnittsmenschen gleichsetzt, und das vielleicht der patriarchalischen und matriarchalischen Phase der Menschheitsentwicklung entsprochen hat.

Immer mehr Menschen gelangen heute zu einer positiven Bewertung der transpersonalen Erlebnisse, weil sie den Sinn ihres Lebens aus ihnen herleiten können, während die personale Mentalität in den heute üblichen Prophezeiungen des unausweichlichen Weltuntergangs dem Ende zugeht. Menschliche, wahre Gemeinschaft kann nicht durch Vergesellschaftung selbständiger Individuen aus freiem Entschluss entstehen, sondern im Durchstoßen zum gemeinsamen nagualischen Grund.

Ich selbst habe solch einen Zustand einige Male erlebt: als Kind in der Erfahrung eines Heiligen, Ramana Maharshi. Mit 21 Jahren in einer spontanen Vision des Rades später durch Tiefenatmung, und einmal durch Erweiterung der Sinneserfahrung im Hören sämtlicher Geräusche. Aber erst viel später gelang es mir, den denkerischen Zusammenhang zu entschlüsseln und damit einen Weg zu finden, wie diese Erfahrungen dauernder gemacht werden können.

Alle Gipfelerfahrungen sind letztlich mit dem sexuellen Orgasmus zu vergleichen, dessen Seligkeit bei jedem Menschen verschiedene Intensitäten kennt. So unterscheidet auch der Yoga verschiedene Arten von Samadhi, vom gleichmütigen Gefühl einer Ruhe bis zur höchsten Ekstase. All diesen gemeinsam ist die Vereinigung von Nagual und Tonal, im Yoga Ida und Pingala, griechisch pneuma und soma, Geist und Körper, Licht und Kraft. Aus körperlicher Vereinigung entsteht vielleicht ein Kind; aus dem Erleben der Vereinigung von Vorstellung und Kraft, Himmel und Erde, bildet sich die Seele. Geist kann man im indianischen Sinne als höhere Verantwortung bezeichnen. So wie die Atome und Moleküle während der Zeit des Lebens durch ein Prinzip, den genetischen Schlüssel, zusammengehalten werden und sich stetig erneuern, kann der Mensch neue Verantwortungen für die Welt übernehmen, seelisch mehr werden. Und jedes Mehr-werden ist ein Samadhi, eine Gipfelerfahrung.

Im Mehr-werden steht der Mensch als Partner der inneren Einheit von Himmel und Erde, Geist und Körper gegenüber, und damit Gott. So erlebt er Gott unmittelbar in der Seligkeit der Liebe, die ebenfalls viele Stufen kennt. Hier hat die europäische Überlieferung der letzten zwei Jahrtausende einen Gegensatz zwischen Geist und Fleisch postuliert, welcher letztlich in den Bruch von Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft mündete, welche Einstellung eine unmittelbare Erfahrung ihrer Einheit sehr erschwert. So ist es auch kein Wunder, dass viel mehr Naturwissenschaftler als Geisteswissenschaftler den persönlichen Wegen zur Offenbarung gegenüber offen sind.

Das Göttliche in der menschlichen Seele, das Fünklein Meister Eckhart, ist die Nahtstelle von Körper und Geist, Erfahrung und Einbildungskraft. Sie ist unmittelbares Erleben, kann nicht durch Kultur und Lernen vermittelt werden. Aber es gibt eine phänomenologische Beschreibung, wie einzelne Stufen auf dem Weg der Vergottung — um die Bestimmung von Dionysius Areopagita zu verwenden — zu bewältigen wären.

Arnold Keyserling
Der Traum vom Paradies · 1995
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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