Schule des Rades

Arnold Keyserling

Kreativer Frieden

Das Weltenjahr

Der menschliche Gattungsbegriff erweiterte sich im Laufe der letzten elftausend Jahre seit der neolithischen Revolution, dem Beginn von Ackerbau und Viehzucht. Sein Maßstab ist das Weltenjahr, die Präzession des Frühlingspunktes. Sie beträgt im Tierkreis 72 Jahre für 1°, 2.160 Jahre für ein Zeichen, und 25.920 Jahre für den ganzen Tierkreis. Dieser Rhythmus war auf der ganzen Erde seit zehntausend Jahren bekannt, wie Santillana nachgewiesen hat. Beim Übergang von einem Abschnitt zum nächsten wird in einer Katastrophe die frühere Mentalität zerstört. Nach der tibetischen Überlieferung ist es ein Sechzigjahresabschnitt, von Holzhundjahr zu Holzhundjahr. Die letzte Katastrophe dauerte von 1934 bis 1994, jetzt beginnt wieder eine Aufbauperiode.

W e l t e n j a h r

Das Weltenjahr bestimmt im Holon den Gemeinschaftshorizont, der folgende Stufen hatte:

I
II
III
IV
V
VI
Krebszeit
Zwillingszeit
Stierzeit
Widderzeit
Fischezeit
Wassermannzeit
Klan
Stamm
Stadt
Volk
Reich
Menschheit

Die Übergänge sind Katastrophen, geschildert in der Offenbarung des Johannes für das Ende der Fischezeit. Die Zeiten sind total voneinander getrennt. Damit kommen wir zum Hauptgrund von Kriegen; dem Festhalten von vergangenen Mentalitäten, wie heute am Nationalismus der Widderzeit und den Ideologien der Fischezeit. Wir brauchen heute eine kollektive Vision, die die zerstörenden kleineren Mentalitäten wie etwa Nationen oder Bekenntnisse ersetzt. Die achtundzwanzig Kriege, die 1995 stattfinden, stammen alle aus dieser Wurzel. Aber ein wesentlicher Zusammenhang ist den Kritikern nicht bewusst, nämlich die Tatsache, dass mit Erkenntnis der Selbstorganisation das Verhältnis zur Transzendenz sich umgekehrt hat. Der geistige Weg beruht nicht mehr auf der Nachfolge eines himmlischen patriarchalischen Gottes oder Propheten, sondern auf dem Aufstieg des einzelnen durch Selbstorganisation durch alle Reiche der Natur und Schichten der Gesellschaft. Der Weg geht nicht mehr vom Licht zum Dunkel wie in der christlichen Offenbarung, sondern vom Dunkel zum Licht. Damit ist politische Geschichte nicht mehr ein Kampf zur Befreiung des Ich von den Repräsentanten der übermächtigen Gattung, sondern er bedeutet, dass die wirtschaftliche technologische rationale Welt der Computerzivilisation der allgemeine Nenner ist, von dem aus jeder einzelne seine Selbstbestimmung und seinen Sinn im Reichtum der Kulturen finden könnte.

Das irrationale, auf Glauben gegründete Bekenntnis der Weltreligionen und Ideologien ist Ursache aller Kriege, weil es immer auf dem elitären Bewusstsein, also auf Ausschließlichkeit gegründet war. Schwerpunkt der Religion ist heute nicht der Vatergott, sondern die mütterliche Erde, die von unten her jedem sowohl die Kraft als auch das Vertrauen gibt, seinen Weg in Liebe vollenden zu können. Der beschränkte Rationalismus hat die hierarchische Ordnung der Ganzheit zerstört, doch dabei das Ich befreit. Von seiner Basis aus muss heute ein neuer Zugang zum Gewahrsein der Ganzheit gefunden werden.

Wissenschaft ist Vorstufe der Weisheit. Sie richtet sich auf Erfolg, Weisheit auf Sinn. Daher gilt es, den Sinn des Wissens zum Ausgangspunkt zu machen. Das Urwissen ist der semiotische Code der Weltweisheit, das Rad als die Weltgrammatik, die nicht über Meinung und Bedeutung, sondern über Sinn und Unsinn entscheidet.

Die Sprache des All gründet nicht auf dem Wort sondern auf der Zahl. Diese kennt keinen Widerspruch, sondern Ergänzung. Eins ist die kleinste und größte Zahl, und die fraktale Selbstähnlichkeit bei den komplexen Zahlen der vierten Dimension, also des Aufstiegs durch alle Reiche, ist das Abenteuer des Wesens. So könnte man eine friedliche Zivilisation, die die gleiche oder höhere Intensität hat als der Kampf ums Dasein, erreichen, wenn man die Ebene der Diskussion verlässt und stattdessen den Schwerpunkt auf die künstlerische Darstellung verlegt; sich zu seinem Werk zu bekennen und damit auch andere in ihrer Lebensgestaltung zu bejahen und zu bestätigen.

Wie können wir Mythos, Magie und Ritus auf die Ebene des kritischen Wortes erheben, und somit den Reichtum der Zivilisation zur Grundlage des geistigen Lebens erheben? Hierzu bedarf es folgender Postulate, die an die Stelle der moralischen Imperative der patriarchalischen Religion und Ideologien traten.

  1. Grundlage aller Entfaltung ist die Erde, die von unten her also sobald man seine Mitte gefunden hat — einem immer den Schritt zur nächsten Wahl ermöglicht, weshalb sie in allen Traditionen als Mutter bezeichnet wurde; denn einer guten Mutter liegt daran, dass jedes ihrer Kinder sich nach seinem Gesetz entfalte.
  2. Rahmen der Entfaltung ist die Menschheit oberhalb aller Rassen, Traditionen und Begabungen. Kein kleinerer Horizont darf mehr anerkannt werden, die Patriotismen sind genauso negativ wie die Bekenntnisse; wenn etwas wahr ist, versteht es sich von selbst, und falsches zu bekennen ist Unsinn.
  3. Jeder Mensch, der seinen Namen, sein Wort als Medizin fand, ist potentiell Teil Gottes. Wenn er zu dieser Erkenntnis durchstößt, gibt es keine Schranken mehr zu anderen Lebewesen.
  4. Um diese drei Postulate zu erfüllen, gilt es die Riten von Raum und Zeit zu verstehen und durchzufahren. Alle Wesen des Universums wollen uns wohl; wir dürfen uns ihrer Hilfe nicht verschließen.
  5. Die Gemeinsamkeit aller Menschen ist der Körper und das Denken; es schwankt nicht zwischen gut und böse, sondern unterscheidet sinnvoll und sinnlos. Sinnlose Sätze und Behauptungen können nicht verstanden und erinnert werden. So wird gerade die rationale Entfaltung der letzten Jahrhunderte zum Ansatz der Befreiung und des Friedens, wenn der Dialog nie verlassen wird.
  6. Gott ist die himmlische Potentialität des menschlichen Körpers, der Seele und des Geistes, zu schauen im Tierkreis, der der kollektiven und persönlichen Entfaltung den Maßstab gibt. In gemeinsamen Festen gilt es sich immer wieder daran zu erinnern und beharrlich zu streben, dass jedes Wesen seine Aufgabe und seinen Platz im All in Freude findet.
Arnold Keyserling
Kreativer Frieden · 1995
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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