Schule des Rades

Arnold Keyserling

Kreativer Frieden

Die neue Mathematik

Grundlage einer Sprache des Friedens ist die Mathematik, und in ihrem Bereich fand in den letzten Jahrzehnten die entscheidende Revolution des Denkens statt: die Entdeckung des Fraktals und des deterministischen Chaos mit seinen vier Attraktoren, die uns ermöglichen, die Brücke zwischen rationaler Freiheit und himmlischer Einstimmung zu schlagen.

Der Rationalismus begann einerseits mit der wissenschaftlichen Methode von Telesius im 16. Jahrhundert: das Kriterium der wissenschaftlichen Wahrheit sei das wiederholbare Experiment, nachgeprüft durch Mathematik und Logik, mit heuristischer Theorienbildung; das heißt den Verzicht, eine Theorie wie die Religionen für die einzig wahre zu erklären, sondern diese bei neuer Beweislage zu revidieren; andererseits mit den Worten von Galilei: das Buch der Natur ist in mathematischer Sprache geschrieben, und niemand kann das Geringste verstehen, der die Gesetze von Kreis, Dreieck und rechtem Winkel nicht begreift. Dazu Benoît Mandelbrot, der Begründer der neuen Mathematik: Es gibt keinen Berg, der ein Kegel ist, keine Wolke als Kugel, keine gerade Linie in der Wirklichkeit, sondern die Natur wird aus folgenden Prinzipien gesteuert: die Dimensionen von 1 bis 3 sind Attraktoren. Sie werden in der Natur nie erreicht, sondern alle Zahlenwerte, die den Algorithmus einer Gestalt ausmachen, liegen fraktal zwischen 0 und 1, 1 und 2 oder 2 und 3. Aber diese Algorithmen sind Vektoren der komplexen Zahlen, also in ewiger Wiederholung. Sie unterliegen dem Gesetz der Selbstähnlichkeit. Die Information des Mesokosmos bleibt sich aristotelisch gesprochen als Entelechie gleich. Jeder Abschnitt der Küste von England zeigt die gleiche Gestalt. Der Mathematiker Ralph Abraham sagte neulich in einem Vortrag: Galilei erfand das Teleskop, Mandelbrot das Chaosskop. Nicht der Kosmos ist die Grundlage des Chaos, sondern das Chaos ist ordnungsschaffend durch, seine vier Attraktoren:

  1. Der Fixpunk-Attraktor steuert eindimensional auf ein Ziel.
  2. Der Grenzzyklus-Attraktor hat zwei Dimensionen und erhält die zeitliche Wiederholung aufrecht.
  3. Der Torus-Attraktor umfasst in drei Dimensionen zahlreiche Grenzzyklen.
  4. Der seltsame Attraktor ist die Brücke zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit und bestimmt damit das Subjekt des Holon, das Ich des Menschen und die Null als Ursprung des pythagoräischen Zahlenkreuzes.

Der seltsame Attraktor umfasst eine Folge von binaren Entscheidungen mit der Reihe 0-1-2-4-8, wie bei der Oktave der Musik. Doch nach 8 muss er neu ansetzen.

F i x p u n k t
Fixpunktattraktor
G r e n z z y k l u s
Grenzzyklusattraktor
T o r u s
Torusattraktor
L o r e n z
seltsamer Attraktor

Die Selbstorganisation, Motor der Evolution durch alle Naturreiche, beruht auf dem seltsamen Attraktor. So war die Mathematik und Logik der Aufklärung nicht auf subjektive Wahrheit und den Sinn gerichtet, sondern auf wissenschaftliche Gewissheit, die letztlich auf den Regeln der mathematischen Wahrscheinlichkeit beruht. Die Welt ist physikalisch animistisch zu verstehen; in Wahrheit gibt es nur Punkte als Subjekte und das Kontinuum der vierten Dimension; 1., 2. und 3. Dimension sind Abstraktionen oder Gestaltungsprinzipien.

Die Attraktoren entsprechen in der menschlichen Motivation den vier großen Trieben, wie Konrad Lorenz gezeigt hat.

  • Der Fixpunkt-Attraktor ist die Grundlage des Sicherungstriebs, der Abhilfe bei Not, also Grundlage des praktisch materiellen Lebens. Als Funktion ist er das Empfinden, als Bereich die materielle Wirklichkeit.
  • Der Grenzzyklus-Attraktor entspricht dem Aggressionstrieb mit seinen beiden Zweigen des hierarchischen Instinkts und des Territorialinstinkts; er bestimmt die Weite des Denkens und der Seele. Jeder verstandene bedingte Reflex, jedes begriffene Wissen und auch jede erreichte seelische Integration wird in der Erinnerung vorbewusst und kann als Kreislauf beliebig abgerufen werden.
  • Der Torus-Attraktor der dritten Dimension vereint fühlen und Geist. Ihnen liegt der Nahrungstrieb zugrunde; Nahrung sowohl körperlich auf ein optimales Gleichgewicht, seelisch auf das Gleichgewicht der Verhaltensweisen und geistig auf die Adäquatheit aller Wissensinhalte bezogen.
  • Der seltsame Attraktor entspricht dem Geschlechtstrieb mit der Freude der Wahl, die Erfüllung findet. Er zeigt das wollende Subjekt im Augenblick der Entscheidung. Doch sobald eine Wahl getroffen ist, so fällt sie dimensional in den Bereich eines der Attraktoren.

Der früher zitierte Ralph Abraham erklärte: 1772 verwandelte die chaoskopische Sichtweise die Mathematik, 1973 das Weltbild der Astronomie, 1974 die Physik, 1975 die Biochemie und Biologie, 1976 immer andere Gebiete; 1995 die Politik als Metapolitik. Die rationale Welt von Newton, Galilei und Johannes Kepler, basierend auf der euklidischen Geometrie, betrifft nicht die Wirklichkeit, sondern die vom Menschen geschaffene strategische Umwelt der Wissenschaften, Künste und gesellschaftlichen Ordnungen.

Alle Kriege entstammen der Verselbständigung der drei Attraktoren, die die Individualität des vierten vergessen. Frieden kann nur erreicht werden, wenn die Ganzheit und Spontaneität des seltsamen Attraktor mit seiner unendlichen Allbezogenheit an die Stelle der Ideologien und Religionen tritt. Dies erfordert heute eine Verwandlung des öffentlichen Lebens durch Metapolitik, ausgehend von der Basis allen menschlichen Strebens in der Gattung Mensch. Die Gestaltungen des schöpferischen Menschen und seine Kommunion mit den Mitmenschen, den Naturwesen und dem Göttlichen muss wieder in die Mitte treten.

Arnold Keyserling
Kreativer Frieden · 1995
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD