Schule des Rades

Arnold Keyserling

Evolutionstheorie und Religion

Gespräch Teil 8

F. K.
Nun die abschließende Frage, bezogen auf die Gottesvorstellung. In unseren bisherigen Gesprächsrunden hat eine Rolle gespielt, dass man bei Hochrechnung der Evolution im Wissenschaftsbereich, bei Bezugnahme des Evolutionsdenkens auf die Religion zur Überlegung kommen kann, den Jüngsten Tag, das Paradies, die Annäherung an die Gottesrealität könne man sich als die Erreichung des letztmöglichen kognitiven Horizonts, nämlich des Eins-Werdens der bewussten Welt mit der Welt selbst, vorstellen. Das klingt aber nach einem Vorgang, der hunderte Jahrmilliarden oder an die hundert Jahrmilliarden oder noch Dutzende Jahrmilliarden braucht. Das ist für uns als Menschheit nicht sehr tröstlich. Nach dem, was wir jetzt gesprochen haben, müsste es direkte Zugänge geben.
A. K.
Gott ist unmittelbar zugänglich, und zwar ist das Wesentliche dabei meiner Ansicht nach das Folgende: Das primäre Gotteserleben bezieht sich nicht auf den Mann, sondern auf die Frau, das heißt, die Wurzel der Welt ist nicht männlich, sondern weiblich.
F. K.
Wenn ich richtig verstehe: Eine andere Darstellungsweise des Gegensatzes Rechtshirn-Linkshirn. Dem Weiblichen ist die Verbindung mit dem archaischen, mit dem kindlich-kreativen Rechtshirn besser erhalten geblieben.
A. K.
Sobald das Weibliche nicht mehr dem Männlichen untergeordnet ist, sondern im kosmischen Sinne als Quell erkannt ist, stellt sich das Ganze richtig. Ich bin der Überzeugung, dass die neue Zeit bereits da ist, ob man sie jetzt Die Zeit des Wassermanns oder anders nennt. Gotteserfahrung ist immer dagewesen, weil zehntausend Jahre Geschichte nichts sind im Vergleich zu der menschlichen Struktur. Der Mensch hat seinen kognitiven Horizont entwickelt, aber in seiner Gehirnstruktur und in seiner Wahrnehmungs- und Liebesfähigkeit ist er der gleiche geblieben. Wir brauchen nun die gemeinsame Teilnahme an einer Vision. Wir sind in eine Zeit angekommen, in der die meisten Berufe ja sowieso obsolet werden. Was die Menschen lernen müssen, liegt jenseits der Berufe. Wir müssen das Wertvolle in uns selber entdecken.
F. K.
Also nicht Hoffnung auf ferne Ergebnisse einer neuen, einer weiteren Evolution, sondern Rückgriff auf das Frühere, auf das schon Vorhandene. Somit nicht eine Entwicklung über uns hinaus, sondern eine Entwicklung aus uns heraus.
A. K.
Wir sollten nicht vergessen, dass in unserer derzeitigen Kultur nur fünf Prozent unseres Gehirns wirklich ausgenutzt sind…
F. K.
Das bedeutet nach Gesichtspunkten der Evolutionstheorie — da ja nutzlose Organe im allgemeinen nicht durch Mutation und Selektion entwickelt werden — dass unser Hirn ein ganz besonderes Extremorgan ist, ein Organ, das sich auf Grund des nie zuvor dagewesenen Überlebens­erfolges durch Wechselwirkung mit der Sprache überschießend entwickelt hat. Das hieße aber auch dass in der kulturellen Evolution durch bloße Ausnutzung des vorhandenen Hirns ungeahnte Möglichkeiten enthalten sind, auch wenn die biologische Evolution gestoppt sein sollte.
A. K.
Tatsächlich liegen alle unsere Chancen in der Entwicklung unserer Kultur beziehungsweise, was noch wichtiger ist, in der Wiedererschließung von verschütteten, verdrängten, vergessenen Werten unserer Kultur. Die Konzentration der abendländischen Zivilisation auf den Rationalismus beansprucht unseren Geist völlig einseitig und lässt dessen größeren und wertvolleren Teil brachliegen. Vor allem die Fähigkeit des Empfindens, des Fühlens, der Körpererfahrung sind uns verlorengegangen. Darin ist unser kulturelles Leiden begründet, aber auch unsere kulturelle Rückständigkeit. Wir müssen Hirnbereiche, die in früheren Phasen der Geschichte bereits entwickelt waren, wieder in Betrieb nehmen.
F. K.
Ist das nicht Regression? Müssen wir damit nicht die Werte des zwar einseitigen, aber erfolgreichen rationellen Metamorphosestadiums hinter uns lassen?
A. K.
Keineswegs. Die Errungenschaften des technischen Zeitalters, die Fortschritte des gesellschaftlichen Lebens durch Demokratisierung müssen nicht verlorengehen, wenn wir zusätzlich die brachliegenden Hirnbereiche mobilisieren.
F. K.
Weil ich schon das Beispiel der Metamorphose anzuwenden versucht habe: Also nicht zurück zur Raupe, sondern voran zum Schmetterling…
A. K.
Ja, wir können uns verwandeln, entwickeln, ohne ein neues Lebewesen werden zu müssen. In uns liegt viel mehr an Chancen, als wir zur Zeit in der abendländischen Zivilisation wahrhaben wollen. Das lerne ich gerade in diesem Jahr mit verblüffender Eindringlichkeit von den letzten amerikanischen Schamanen. Wir brauchen nicht aus unserer humanen Welt hinausfallen. Wir brauchen uns nur einfallen zu lassen, was ohnedies in uns verborgen liegt.
F. K.
Ich danke, Herr Professor.
Arnold Keyserling
Evolutionstheorie und Religion · 1999
im Gespräch mit Franz Kreuzer
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD