Schule des Rades

Arnold Keyserling

Astrologie und Kriteriologie

Vorsokratiker

Ich habe die Unterscheidung von Lévi-Strauss zwischen abstraktem und konkretem Denken und die daraus resultierende integrative Bedeutung des künstlerischen Denkens an den Anfang dieses Heftes gesetzt, weil hier über den Umweg der anthropologischen Forschung ein Ansatz wieder dem Zeitgeist verständlich wurde, der die letzten Jahrhunderte nur in den esoterischen Bewegungen wachgehalten worden war. Doch hat dieser Ansatz die Erhebung der waagrechten Achse des Radkreuzes zur Grundlage der philosophischen Bemühung nicht nur einen mythischen, sondern auch einen logischen Zugang: er liegt im Werk des vorsokratischen Philosophen Pythagoras.

Der zeitgenössischen philosophischen Forschung erscheint Pythagoras als eine Mischung von genialem Wissenschaftler und wundertätigem Schamanen ähnlich wie Empedokles; und gerade mathematisch eingestellte Philosophen wie Bertrand Russell sahen ihre Aufgabe darin, die Grundlagen der Mathematik von pythagoräischem Beiwerk zu befreien. Tatsächlich sind viele Elemente seiner Lehre von Mitgliedern des pythagoräischen Bundes, und vor allem der Neupythagoräer wie Jamblichos, mythisch ergänzt worden, was von der Bewusstseinsentwicklung her einen Schritt zurück bedeutet. Doch wenn wir den Ansatz in seiner Reinheit herausschälen, so bietet gerade er die Möglichkeit, das Tor zum Unbewussten in erkenntniskritischer Klarheit zu überschreiten.

Pythagoras war der vierte in der Reihe der vorsokratischen Philosophen. Thales hatte als erster den mythischen Urgrund durch ein Urprinzip, das Wasser als Ursprung alles Lebendigen zu ersetzen versucht und beschränkte sich in seinen Kriterien auf geometrische und logische Mittel. Anaximander fügte dieser materialen Arché eine logische und genetische mit seinem Begriff des Apeiron, des Unendlichen im Gegensatz und als Ursprung des Endlichen hinzu: logisch besteht kein Zweifel, dass der negative Begriff des Unendlichen das Endliche umfasst; und genetisch wird der Lauf der Entwicklung nur verständlich als Spiel der Gegensätze, als Dialektik, wie dies im mythischen Denken die chinesische Yin-Yang-Philosophie durchgeführt hat. Anaximenes versuchte mit seinem Begriff einer luftigen Arché als allumfassendem Medium die verschiedenen Aggregatzustände fest, flüssig und gasförmig auf quantitative Unterschiede derselben zurückzuführen. Hieran schloss logisch Pythagoras mit wahrscheinlich folgendem Gedankengang an: wenn die Verschiedenheit der Qualitäten sich durch quantitative Unterschiede erklären lässt, dann muss ihr Ursprung weder im Wasser noch in der Luft, auch nicht im Unendlichen, sondern im Urprinzip der Quantität selbst, also der Zahl zu finden sein, sofern die Zahlen aus dem anaximandrischen Gegensatz von unendlich zu endlich, von nichts zu etwas, mathematisch von Null zu Eins hervorgehen können.

T e t r a k t y sDank Albert von Thimus und seinem Schüler Hans Kayser wissen wir, dass Pythagoras die geometrische Grundfigur der Gesetzlichkeit der Zahlen in ihrer Ableitung aus der Null im Rahmen des Tetraktys: 1 + 2 + 3 + 4 = 10 vollendet hatte und dass diese Figur, die Platon in seinem Dialog Timaios als das Werkzeug des Weltenschöpfers Chi beschrieben hatte, noch bei den Neupythagoräern den streng geheimgehaltenen Mittelpunkt ihrer Lehre bildete, obwohl diese Figur letztlich nichts anderes ist als eine Darstellung der zehn Ziffern in ihrem flächigen Verhältnis von Multiplikation und Division — also das Einmaleins, heute als die banalste Grundlage des Wissens betrachtet.

Zu dieser Figur trat die Lehre von den Dimensionen mit ihren jeweiligen Rechnungsarten. Die nullte Dimension, den Punkten entsprechend, beinhaltet die natürlichen Zahlen. Die erste mit der Linie Addition und Subtraktion, die zweite mit der Fläche Multiplikation und Division.

Mit der dritten Dimension weicht die pythagoräische Darstellung von der heute geläufigen ab: sie enthält die Proportionen, Reihen gleicher Vervielfachung im Multiplikationsfeld und gleicher Zahlenwertigkeit im Divisionsfeld in Rückbindung zum Nullpunkt. Die vierte Dimension nun — eine Vorwegnahme der einsteinschen Vorstellung — bestimmt die Zeit über die Welt der Töne und Intervalle, deren arithmetische Stimmung in der Obertonreihe und Untertonreihe, und deren geometrische im temperierten Quintenzirkel von Pythagoras ergründet wurde.

Wenn also der pythagoräische Ansatz sich bewahrheitet, dann müssten sämtliche primären Gesetze der Wirklichkeit von jener geometrisch-arithmetischen Grundfigur umfasst werden, die die vier Dimensionen in ihrer Gesetzlichkeit zum Nullpunkt zurückverbindet.

Arnold Keyserling
Astrologie und Kriteriologie · 1969
Studienkreis KRITERION
© 1998- Schule des Rades
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