Schule des Rades
Dago Vlasits
Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades
Teil – Einführung
Die Begriffe Sinn und Zusammenhang werden oft synonym verwendet, sie sind jedoch nicht bedeutungsgleich. Der französische Philosoph und Sinologe François Jullien betont nicht nur ihren Unterschied, sondern erklärt sie gar zu einem Gegensatz und macht daran die wesentliche kulturelle Differenz zwischen Europa und China fest. Sinn wird im europäischen, Zusammenhang im chinesischen Denken angestrebt, meint dieser zurzeit vielgelesene Vermittler chinesischer Geistigkeit. Der Unterschied würde vom unterschiedlichen Bau der verwendeten Sprachen auf diesen zwei geistigen Kontinenten herrühren. Demnach bestimmt die Sprache auf tiefgreifende Weise das Realitätsverständnis, das in einer Kultur vorherrscht, und die Strukturen, die maßgebend sind für Kohärenz in sprachlichen Aussagen, sind es auch beim Herstellen von Sinn, bzw. Zusammenhang für das Leben insgesamt.
Wie bestimmt Jullien den Unterschied von Sinn und Zusammenhang? Eine Aussage hat Sinn, wenn sie logisch kohärent ist, wenn sie in sich, bzw. mit anderen, denselben Kontext betreffende Aussagen stimmig ist. Und ein Leben hat Sinn, wenn Lebensentwürfe, Ziele und Erwartungen erreicht und erfüllt werden, und natürlich auch dann, wenn man sein Leben in einem Kontext begreift, welcher den der individuellen Wünsche und Entwürfe übersteigt – wenn man etwa seinen Lebenslauf im Rahmen der umfassenderen Geschichte verortet, welche die Religion, der man anhängt, dem Weltganzen zuschreibt. In dieser Geschichte nimmt sich das Leben des Einzelnen dann aus wie die Erfüllung einer Bestimmung oder Aufgabe (oder wie das Scheitern an ihr).
Doch solche Konzepte des Lebenssinns sind laut Jullien vornehmlich in Europa vorherrschend. Denn hier wird jeglicher Sinn immer nach dem Modell des grammatikalisch und syntaktisch richtig durchgebildeten Satzes, bzw. in Form prädikativer Aussagen konstruiert, und ist immer eindeutig – so Julliens These. Was man aber traditionellerweise in China unter sprachlicher Kohärenz und unter gelingendem Leben versteht, wäre etwas ganz anderes. Auch in China folgt die Realisierung „sinnvollen“ Lebens zwangsläufig dem Modell der Sprache, doch diese ist völlig anders aufgebaut als die europäischen. In einem Satz des klassischen Chinesisch, in welchem die alte Weisheitsliteratur verfasst ist, wäre nicht logisch stringenter Sinn formuliert, der in einer eindeutigen Aussage über eine eindeutig feststellbare Wirklichkeit dargestellt ist, sondern mehrdeutiger Zusammenhang. Er kommt in Wendungen zum Ausdruck, die Ähnlichkeit mit unseren Sprichwörtern haben, ein solcher Satz ist also immer Träger verschiedener Auslegungsoptionen. Denn klassisches Chinesisch besitzt praktisch keine Grammatik, die Wörter sind nicht dekliniert und konjugiert, ihnen ist daher keine eindeutige syntaktische Funktion im Satz zugeordnet, weshalb er verschiedene Bedeutungen haben kann. Für Jullien bedingt diese Eigenart der chinesischen Sprache die in China vorherrschende Auffassung der Realität. Diese ist nicht eindeutig definierbar, darf nicht etwa als Summe der feststehenden, feststellbaren Dinge begriffen werden, sondern als die Wandlungen des Moments. Realität ist der „Prozess“, in welchem ein „Moment“ fließend in einen nächsten übergeht, wobei der Moment nicht als ein ausdehnungsloser Augenblick zu verstehen ist, sondern als eine „Dauer“. Auf diesen Prozess soll sich der Mensch einstimmen, sich anpassen an das, was sich im „Moment“ wandelt. „Disponibilität/Aufnahmefähigkeit“ spielt daher laut Jullien eine überragende Rolle im chinesischen Denken: es ist „der eigentliche Seinsgrund des Verhaltens eines Weisen“. Disponibilität/Aufnahmefähigkeit, die ja auf nichts Bestimmtes abzielt, dieses „prinzipienlose Prinzip“ wäre in Europa aber philosophisch unterbelichtet, „disponibel sein“, „aufnahmefähig sein“, kommt dort höchstens als eine pragmatische Ermahnung zu realitätskonformer Flexibilität daher. Dieser Begriff hat keinen Eingang in die Theorie gefunden, nur in Freuds Forderung an den Psychoanalytiker, dem Patienten mit einer freischwebenden Aufmerksamkeit zu begegnen, sieht Jullien eine theoretische Annäherung an dieses Konzept. Wie Jullien in China und die Psychoanalyse schreibt, gilt hingegen im Reich der Mitte: „Weise ist, wer zu Disponibilität gelangt – das ist genug“ (Jullien 2013). Streben nach Zusammenhang ist kein Sich-Einfügen in irgendein vorgegebenes Narrativ, in einen Mythos, in eine Heilsgeschichte, auch nicht die Erfüllung eines Ideals oder eigenen Entwurfs, sondern heißt zu erspüren, was „gangbar“ ist. Es gilt, in Harmonie mit einem Prozess zu sein, der einerseits zyklisch verstanden wird, und andererseits als „Vorwärtsbewegung und Entfaltung“, der sich aber durch keine Finalität und Zielgerichtetheit auszeichnet. Die Quelle dieses Prozesses, die eigentliche Wirkkraft alles Erscheinenden, ist in jedem Moment präsent, ist aber der Sprache entzogen, kann durch sie nur angedeutet werden. Ihre sprachliche Chiffre heißt Dao, und ihre dynamische Natur wird über die Zweiheit der Wandlungspole Yin und Yang begriffen. Diesem Prozess-Paradigma, das Jullien im chinesischen Denken realisiert sieht, ist keine Sprache angemessen, die an die Welt als einen Bestand von abgegrenzt existierenden, klar definierten Dingen oder Wesen herangeht, was ja für die europäischen Idiome zutrifft. Der fließende Charakter, die dauernde Wandlung der Wirklichkeit entgeht einem solchen Sprachgefüge.
Allerdings kann natürlich nichts als Sprache fungieren, was überhaupt keine beständigen Strukturen aufweist. Daher besitzt selbstverständlich nicht nur die chinesische Alltagssprache, sondern auch die chinesische Weisheitsliteratur über gleichbleibende, die Wirklichkeit repräsentierende Strukturen, die mit dem realen Geschehen in einer gewissen Entsprechung stehen. Sie bestehen aber eben nicht aus klar definierten Begriffen, die dann zu Sätzen zusammengefügt werden, sondern sind Bilder, die ganze Szenen, Geschichten oder Situationen abbilden. Im Laufe der Zeit haben sie in stereotypen Formulierungen und poetischen Wendungen einen Ausdruck gefunden, die Jullien als „Formeln“ bezeichnet. Sie erfassen die situative Wirklichkeit als einen nicht zerlegbaren Zusammenhang, und gelten für alle Variationen einer ähnlich gelagerten Situation, und zwar in den verschiedensten Lebenssphären. Eine solche Formel beschreibt also nicht eine abgezirkelte Einzelheit, sondern eine Konstellation von Umständen, die in ihrer Grundstruktur auf verschiedene Lebenslagen passen. Vor allem würden sich diese chinesischen Formeln dadurch auszeichnen und von europäischen Sätzen abheben, dass in ihnen kein bestimmtes Subjekt explizit betont wird. Sie sind unpersönlich, können daher niemals parteiisch, niemals partikularisierend, niemals ideologisch sein, wozu prädikative Aussagen, wie sie von europäischen Sprachen produziert werden, seiner Ansicht nach immer tendieren. Ein nüchterner, ideologiefreier Charakter ist daher auch das herausragende Kennzeichen der chinesischen Weisheitstexte. Laut Jullien sind die dort vorfindlichen Formeln nicht einmal so etwas wie europäische Sinnsprüche oder Aphorismen. Sie würden nicht in pointierter, konzentrierter Weise „tiefe“ Einsichten ausdrücken, sondern wären schlichte Bemerkungen zum So-Sein des Wirklichen, im Tonfall der Beiläufigkeit ausgesprochen. Sie sind „oberflächlich“, sie offenbaren nichts Verbogenes, vielmehr reden sie vom eigentlich Selbstverständlichem, vom „Nahen“, das dem gewöhnlichen Bewusstsein aber dennoch entgeht – und das gerade wegen seiner Evidenz und Offenkundigkeit. Das „Nahe“ wird zum Trivialen, zum Selbstverständlichen, dessen wir nicht gewahr werden, weil es ja nicht mehr auffällt. So wie man einen Wasserfall nicht mehr hört, wenn man dauernd neben ihm lebt. (Und es entgeht uns wohl auch deswegen, weil das gewöhnliche Bewusstsein durch ideologische Fixierungen und Vorlieben geprägt ist.)
Jullien ist davon überzeugt, dass die Eindeutigkeit der europäischen Sprachen das Wirkliche beschneidet und reduziert, und dass deren Satzbau dem Subjekt eine falsche Prominenz verleiht. Chinesisch jedoch, insbesondere das alte Chinesisch der Weisheitsliteratur, würde sich durch ihre Formelhaftigkeit dieser verfälschenden Reduktion enthalten und außerdem kein handelndes Subjekt, kein Ich betonen. Dass es sich mit den alten chinesischen Texten tatsächlich so verhält, wird aber nicht jeder Fachmann uneingeschränkt bestätigen, wie wir am Beispiel des Schweizer Sinologen und Julliens schärfstem Kritiker François Billeter noch sehen werden.
Unbestritten aber ist, dass China mit dem I Ging, dem berühmten Buch der Wandlungen, einen formalen Code für die phänomenale Wirklichkeit geschaffen hat, dem in Europa nichts Vergleichbares gegenübersteht. Mit der vollen und der gebrochenen Linie, die hart/weich, hoch/niedrig und hell/dunkel repräsentieren; den vier Doppellinien als den Symbolen zweier Maxima und zweier Übergänge; den acht Trigrammen, die für acht elementare Naturerscheinungen bzw. Bewusstseinskomponenten stehen; und den 64 Hexagrammen, welche Grundsituationen darstellen, in denen sich der Mensch befinden kann, wurde ein System entdeckt und sichtbar gemacht, nach dem sich alle Wandlungen des „Prozesses“ vollziehen. China hat uns damit ein System der Veränderungen und Umwandlungen beschert, dargestellt durch an sich bedeutungsleere Linien, die verschiedene Bedeutungen tragen können, und die so etwas wie Gelenkstellen und das sich dauernd wandelnde Flussbett des allgegenwärtigen Prozesses repräsentieren, welcher einerseits selbstreguliert, andererseits durch den Menschen einigermaßen beeinflussbar ist.
Bei einer Einstellung, die auf die flexible Anpassung an die jeweiligen Umstände abzielt, wird auch das Konzept von Wahrheit, welches in Europa eine so prominente Rolle spielt, weitgehend bedeutungslos, meint Jullien. Wenn Wahrheit das ist, was immer und unter allen Umständen, also absolut richtig ist – und in einem eindeutigen Satz festgehalten werden kann – muss man feststellen, dass eine solche Wahrheit China herzlich wenig interessiert hat. Die uralten Formeln, welche die chinesischen Weisen einst aus manchen historischen Situationen oder Naturerscheinungen extrahiert haben, sollen nur Typen des Zusammenhangs, Typen von „Moment-Strukturen“ aufzeigen. Sie können und müssen nicht formal bewiesen werden, sie bewähren sich, wenn es dem Menschen gelingt, mit ihrer Hilfe in Resonanz mit dem Welt-Prozess zu sein.
Im Rahmen einer Realitätsauffassung, in der man die Welt als einen dauernd in natürlicher „Regulierung“ befindlichen Prozess erfährt, ist auch die Idee der politischen Revolution, als Vernichtung des Alten und völliger Neubeginn, ein unzulängliches Konzept, weiß Jullien zu berichten. Es gilt vielmehr, immer wieder zur natürlich regulierten Ordnung zurückzukehren. Denn es gibt zwar Zeiten, wo diese verloren geht, doch dann ist es an dem Weisen, wieder an sie zu erinnern, um den Einklang wiederherzustellen. Politische Geschichte ist daher eine Abfolge von Phasen, in denen Achtung und Missachtung des natürlichen „Laufs“ einander folgen. Zur Zeit der ersten Herrscher, als eine große Flut die Menschen bedrängte, war Yu der Große, der sechste mythische Kaiser, beauftragt, die Wassermassen zu regulieren und die wilden Tiere zurückzudrängen. Und als die ersten Könige starben und die Fürsten nur mehr ihren egoistischen Neigungen folgten, wurde die alte Weisheit vergessen, wonach dann der Aufstieg des Geschlechts der Dschou ihr wieder zum Durchbruch verhalf und die schlechten Fürsten bestraft wurden. Als die Sitten wieder verfielen, „verquere Lehren“ und „grausames Verhalten“ (Jullien 2013) an der Tagesordnung waren, schuf Konfuzius (um 551 - 479) – über die Situation „erschrocken“ – die Frühlings- und Herbstannalen, um dem entgegenzusteuern. Und Menzius (um 370 - 290), der solcherart den Lauf der chinesische Geschichte als Perioden der Ordnung und Unordnung wiedergibt, findet sich mehr als hundert Jahre nach Konfuzius in einer vergleichbaren Situation. Wieder folgten die Fürsten nur ihren Begierden, und die Gebildeten, „ohne ein Amt innezuhaben“, gaben sich spitzfindigen Diskussionen und einseitigen Lehren hin. „Alle redeten ins Blaue hinein und erfüllten die Welt mit ihren Debatten, die einen, die Mohisten (Anhänger um Mozi), um einen verallgemeinerten Altruismus zu predigen, der die privilegierten Verwandschaftsbeziehungen in den Wind schlägt, die anderen (Yang Zhu) um einen bedingungslosen Egoismus zu predigen, der die Pflichten gegenüber dem Herrscher vom Tisch fegt.“ (Jullien 2013)
Zusammenfassend merkt Jullien an, dass die mit klaren Begriffen operierenden europäischen Sprachen ein planvolles, konstruierendes Vorgehen begünstigen, die chinesischen Formeln hingegen die Einstimmung auf den Prozess. Ist es aber nicht erstrebenswert, beides zu können? Oder ist das nur ein vergeblicher Wunsch, da ja die zwei Sprachen bzw. Denkzugänge so unterschiedlich sind? Laut Jullien schließen sie sich sogar gegenseitig aus. Es könne von uns nur der Unterschied dieser Zugänge „verstehbar gemacht“ werden. Auf den Punkt gebracht könnte man sagen, dass der eine Weg zur Weisheit führt, der andere zum Wissen. Oder anders gewendet: Entweder man schmiegt sich (ichlos) an den Weltprozess an, oder man konstruiert die Welt und das Ich. Auf die gleiche simplifizierende Weise könnte man dem erwidern: Wenn das typisch chinesisch und typisch europäisch ist, dann waren wir immer schon beides, denn das Leben hat uns immer schon beides abverlangt. Mussten die Menschen denn nicht überall und immer schon sich einstimmen und anpassen, aber auch konstruieren und durchsetzen? Solch „gleichmachendes“ Vergleichen würde Jullien sicher als unzutreffend zurückweisen, er sieht den europäischen und den chinesischen Denkzugang als unvereinbar: entweder geht man den einen Weg oder den anderen – man ist in der einen Sprache oder der anderen, es gibt nichts Vereinigendes, das beidem zugrunde liegt. Aber man kann von einer Kultur in eine andere reisen, man kann Brücken bauen, man kann übersetzen! – davon ist er überzeugt. Aber wo befinden wir uns denn, wenn wir auf der Reise, wenn wir auf der Brücke sind, wenn wir von einer Kultur in die andere über-setzen? Was trägt uns da eigentlich? Und zwar beständig, ohne dass unser Verstehen des Anderen scheitert, auch wenn wir seine Anschauungen als ein Fremdes und ganz Anderes erkennen und anerkennen, und nicht bloß – im schnöden Vergleichen und Einordnen – auf schon Gewusstes oder Ähnliches zurückführen. Darauf wird Jullien antworten: Was uns trägt, ist die allgemeine menschliche Intelligenz, das grundsätzliche Verstehen-können und Mitteilen-können, welches sich der unerschöpflichen Quelle verdankt.
Im vorliegenden Text kommt Julliens Position in ihren Grundzügen zur Darstellung, konterkariert durch die Forschungen und Einsichten von Jean François Billeter, der Jullien ein konstruiertes Chinabild vorwirft. Besonderes Augenmerk werden wir dabei auf Julliens Auffassung zum Gemeinsamen, Universellen legen. Wie schon erwähnt, behauptet er, es gäbe selbstverständlich das Gemeinsame, Universelle, nämlich den Urquell selbst, welcher der besagten „gemeinsamen Intelligenz“ zugänglich ist. Doch dieses Gemeinsame ist undefinierbar, daher liegt auch nichts begrifflich Fassbares als Basis der europäischen und der chinesischen Vernunft zugrunde. Vielmehr wäre die menschliche Intelligenz dauernd „unterwegs“, besteht im ständigen Sich-Wandeln und Überschreiten von Grenzen, ist dauernd nur „im Kommen“. Sie würde nicht mit universellen Denk-Kategorien operieren, wie sie in der europäischen Philosophie vorausgesetzt bzw. erforscht werden.
Julliens strikter Ablehnung der Idee, hinter allen Sprachen und Kulturen gäbe es universelle Kategorien der Erkenntnis zu entdecken, möchte ich den Ansatz des Religionsphilosophen Arnold Keyserling (1922 - 2005) gegenüberstellen. Von der Erkennbarkeit einer solchen Ordnung überzeugt, schuf er eine „Klaviatur des Denkens“, die von ihm als Rad bezeichnet wurde. Dabei erkannte er in den Zahlen, die inhaltlich leer sind – also an sich keine Bedeutung haben, aber verschiedene Bedeutungen oder Inhalte tragen können – die Möglichkeit der Begründung einer solchen Systemik. Keyserlings Entwurf knüpft am Pythagoräismus an und liefert unter anderem eine Universalgrammatik, deren Kategorien den „Fältigkeiten“ der ersten neun Zahlen entsprechen: einfältig ist das Bindewort (und/oder), da es durch Einschließung und Ausschließung Einheit schafft; zweifältig sind die Hauptwörter, die immer als Zweiheit von Name und Begriff (das Besondere und das Allgemeine), bzw. Singular und Plural auftreten; dreifältig die Verben, die entweder transitiv, intransitiv oder modal sind; usw. Die Zahlen haben in der Systemik des Rades aber nicht nur linguistische Bedeutung als eine neue Begründung der grammatikalischen Wortarten und syntaktischen Kategorien, sondern repräsentieren die allgemeinen Prinzipien aller Kognition und Vorstellungsbildung. Die Fältigkeiten sind der Sinn, der sich in verschiedensten Wörtern auszudrücken vermag, d.h., dass der gleiche Sinn auf unterschiedlichen Bedeutungsebene wirksam ist. Die Fältigkeiten der Zahlen sind gleichsam die Ur-Gestalten des Verstehens – noch „vor“ der Sprache. Sie erfassen sowohl eindeutigen Sinn, als auch durch Formeln dargestellten Zusammenhang. (Das Einfältige z. Bsp., also die Eins, die Einheit, bedeutet „kleinstes Element“, aber auch „größter Zusammenhang“.) Da also Grammatik alle sprachlichen Aussagen bedingt, erachtete sie Keyserling als die einzig gültige Metaphysik.
Metaphorisch gesprochen gleicht das Rad der Farbpalette eines Malers. So wie diese die möglichen Farben und Farbmischungen für ein Bild enthält, zeigt das Rad das Spektrum an Konzepten und Konstanten, aus denen sich Theorien, Weltanschauungen und Weltbilder aufbauen. In einem Weltbild können bestimmte „Farben“, sprich: Kategorien, Konzepte, Formen, Ideen, „dick aufgetragen“ sein, in einem anderen werden diese vielleicht überhaupt nicht verwendet, sondern eine andere Auswahl getroffen und andere Akzente gesetzt (was aber nicht bedeutet, dass das Ausgeschlossene und Ungedachte überhaupt keine Wirkung hat. Es kann auch völlig unbewusst, als eine unreflektierte Selbstverständlichkeit das Handeln und Verstehen mitbestimmen). In dieser Farbpaletten-Metapher verdanken sich alle Theorien, Philosophien, Religionen und Kulturen einem allgemeinen menschlichen Grundvermögen der Kombinatorik, deren Prinzipien und Elemente im Rad veranschaulicht sind.
Als einen seiner geistigen Ahnen betrachtete Keyserling auch den katalanischen Philosophen und Theologen Ramon Llull (1232 - 1316), der neben der christlichen und jüdischen auch von der islamischen Kultur stark beeinflusst war. Dieser schuf eine „logische Maschine“, bestehend aus konzentrischen Scheiben, versehen mit verschieden Grundbegriffen und drehbar um einen Mittelpunkt, der den göttlichen Ursprung repräsentierte. Durch Drehung kam es zu verschiedenen Wortkombinationen, die logischen Schlüssen gleichkamen und theologische und philosophische Einsichten erlaubten. Ganz so mechanistisch darf die Kombinatorik des Rades nicht verstanden werden, die Metapher von der Farbpalette trifft seine Natur schon eher. Es ist also kein von einem Algorithmus, von einer Mechanik geleiteter Urteils- bzw. Textgenerator, aber es umfasst die Grundelemente der menschlichen Theorie- und Textproduktion. Doch insofern es nur eine Karte, ein Diagramm ist, braucht es selber einen Text, eine Theorie, die erklärt, wofür die Linien stehen, wie also die Grafik zu lesen ist, was Keyserling in seinen Büchern immer wieder unternommen hat. Weiß man diese Karte zu lesen, wird das Raddiagramm dann zu etwas, das tatsächlich neuen Text, neue Erkenntnisse generieren kann, bzw. neue, bisher nicht gesehene Beziehungen zwischen scheinbar unzusammenhängenden Phänomenen sichtbar macht. Dann wird die erkenntnisleitende und erkenntnisschaffende Funktion des Rades einsehbar, und jede Theorie, jede philosophische Aussage, die im Laufe der Menschheitsgeschichte hervorgebracht wurde, erweist sich in ihren Grundzügen als eine mögliche Versprachlichung bestimmter Strukturen des Rades. Aber das Rad ist nicht nur eine Hilfe, um einen Überblick zu gewinnen über die Fülle an Theorien und Weltbildern, die Menschen hervorgebracht haben. Mit einer spezifischen Lesart des Tierkreises liefert es die Matrix des Geschichtsverlaufs in Gestalt der Abfolge der Weltenmonate im sogenannten platonischen Jahr oder Weltenjahr (der rund 26tausenjährigen Präzession der Erdachse), wodurch die Kulturentwicklung der Menschheit mit all ihren Religionen und Weltanschauungen als ein schrittweiser Reifungsprozess einsichtig wird. Zugleich bietet es Erkenntniswerkzeuge und Orientierung für die individuelle Entwicklung im Bild des Tierkreises, welcher von Keyserling im Sinne des Astralmythos als das Bild des „großen Menschen“, der Menschheit, verstanden wurde. Stimmt man sich auf dieses Urbild der Menschwerdung ein, hat man teil am Werk der Erde, wird zum Mitarbeiter der Evolution.
Beim Rad handelt es sich also um ein Werkzeug, das uns befähigt, jede Theorie als eine Synthese unter vielen anderen möglichen zu begreifen, sie also in ihrer Konstruiertheit zu durchschauen und ihren Absolutheitsanspruch zu verwerfen. Gleichzeitig ist diese Rückführung aller konzeptuellen Konstrukte auf ihren elementhaften Charakter ein möglicher Ansatz, den Weg der individuellen Synthese zu eröffnen – einen Weg, der die Resonanz mit den (objektiven) natürlichen Wandlungen und die (subjektive) kreative Konstruktion vereint. Dies werden wir im II. Teil erörtern, im I. Teil aber unser Verständnis des Unterschieds von europäischem und chinesischem Denkzugang vertiefen.