Schule des Rades
Dago Vlasits
Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades
Teil I – 1 Chinesisch
Man bräuchte zwei Leben, um das unermessliche Gebiet des chinesischen Denkens auszuloten, meint Jullien. Sich an Nicht-Sinologen wendend, hält er profunde Kenntnisse auf diesem Gebiet dennoch nicht für unabdingbar, um seinen (durch die Sinologie inspirierten) philosophischen Gedanken folgen zu können. Will man aber begreifen, worin chinesische Weisheit eigentlich besteht, wäre zumindest ein elementares Verständnis der Beschaffenheit der chinesischen Sprache unverzichtbar, und macht sich dran, sie uns in seinem Buch zu vermitteln. Aber wir wollen uns nicht nur auf Jullien, sondern auch auf die Kompetenz anderer sinologisch Gebildeten stützen, weshalb neben Jullien und seinem Kritiker Billeter auch Marcel Granet (1884 – 1940) und Richard Wilhelm (1873 -1930), die zu den einflussreichsten Sinologen des 20. Jahrhunderts zählen, zu Wort kommen sollen. Das chinesische Denken, das 1934 erschienen ist, eröffnet Granet folgendermaßen:
„Wir sind gewohnt, die Sprache als einen Bestand an Symbolen zu betrachten, der besonders für die Übermittlung von Gedanken geschaffen wurde. Die Chinesen hingegen fassen die Sprachkunst niemals als etwas von den anderen Mitteln der Verständigung und Einflussnahme Losgelöstes ins Auge. Für sie ist Sprache nur Teil eines umfänglichen Bestands an Verfahren, deren Zweck es ist, dem Individuum in der von Gesellschaft und Kosmos gebildeten Ordnung seinen Platz zuzuweisen. Die verschiedenen Verfahren, das Verhalten zu beeinflussen, zielen zuerst darauf ab, eine aktive Teilnahme herbeizuführen. Daher trachten die Chinesen in Sprache und Schrift danach, eine bestimmte Handlungsweise mit Hilfe stilisierter (klanglicher oder anderer) Gesten anzudeuten oder zu suggerieren. Die chinesischen Denker verfolgen das gleiche Ziel. Sie beschränken sich ganz und gar auf einen Bestand überlieferter symbolischer Bilder, der sich viel besser zur Beeinflussung des Handelns als zum Ausdrücken von Begriffen, Theorien und Dogmen eignet.“ (Granet 1985)
Chinesisch gehört zur Gruppe der sino-tibetischen Sprachen, und zeichnet sich durch die Tendenz zur Einsilbigkeit aus. Seine Schrift ist bis heute eine Zeichenschrift geblieben, die geschriebenen Wörter sind Ideogramme, bestehen also nicht aus Buchstaben, sondern aus stilisierten Bildern, die für Ideen/Vorstellungen stehen. Außerdem kommt der Mündlichkeit eine besondere Rolle bei der Sinn- und Bedeutungsgebung zu: durch vier (bzw. im archaischen Chinesisch acht) Tonhöhen, durch den Rhythmus und durch den emotionalen Ausdruck. Dabei gab es immer schon Schreibregeln – mehr oder weniger konsequent angewandt, insbesondere in alten Texten oft gänzlich unberücksichtigt – die auch die Verschriftlichung dieser mündlichen Strukturmomente ermöglichen. Mittels stringenter Anwendung dieser Schreibregeln hat sich dann die moderne chinesische Schrift völlig unabhängig von der Mündlichkeit gemacht, und leistet dasselbe, was die Schrift der europäischen Sprachen an Präzision und Eindeutigkeit zu leisten vermag.
Für das klassische Chinesisch aber gilt, dass sich bereits die elementare Beschaffenheit der Wörter von jener der europäischen Sprachen unterscheidet. „Offenbar lag ihnen überhaupt nicht an der Schaffung eines Bestands klarer Ausdrücke“ meint Granet über die Chinesen. Das Vorhandensein von bloß ungefähr 400 Sprachsilben beschränkt die Anzahl von Wortbildungen, wodurch so manches Wort als Träger von ganz unterschiedlichen Bedeutungen fungieren muss. (Das Wort li z. Bsp. hat über 40 Bedeutungen.) Granet belehrt uns, dass das klassische Chinesisch ein „phonetisch äußerst armes und morphologisch sehr sparsames Ausdrucksmedium“ sei. „Die morphologisch dürftigen Wörter, die sich überdies infolge der Lautarmut der Sprache häufig nur schlecht voneinander abheben, wurden meist indifferent als Substantive, Adjektive oder Verben gebraucht, ohne dass sie dabei wesentlich ihre Form veränderten.“ Dem Gedanken, also dem Sinn einer Aussage, war nur durch Anwendung einiger weniger Partikeln, (die obendrein mehrere Funktionen zu erfüllen hatten, und im Allgemeinen als gesprochene Satzzeichen dienten), und vor allem „nur durch strenge Stellungsregeln Klarheit zu verleihen“. Mittels der Stellungsregeln also „wurde beim Schreiben durch deren konsequente Anwendung die syntaktische Bedeutung eines jeden Wortes festgelegt. Beim Sprechen aber bestimmte die Stärke der nacheinander aufkommenden Gefühle die Wortfolge“ (Granet 1963). Granet spricht von einem „vom Gefühl her geformten Gebilde“, und meint „Diese Sprache begünstigt nicht den abstrakten Ausdruck. [ … ] Allerdings besitzt Chinesisch eine erstaunliche Fähigkeit, Gefühlsimpulse zu übermitteln und zur Stellungnahme aufzufordern.“ Weder entspricht das einzelne chinesische Wort bloß einem Begriff, noch ist es nur ein abstraktes Zeichen, sondern hinter seiner „äußeren Gestalt bewahrt es die gesamte gebieterische Kraft der Tat, deren klangliche Entsprechung, deren Emblem es ist“.
Jullien wiederum stellt grundsätzlich fest, dass klassisches Chinesisch keine Grammatik europäischen Zuschnitts besitzt, sondern Wörter auf eine ganz andere Weise verbindet, und vieles offen lässt, was in europäischen Sprachen durch Flexion zu einer eindeutigen Aussage reduziert wird. Während ein Verb im Europäischen beispielsweise als ging, gegangen, gingen, etc., erscheint, und somit verschiedene, klar bestimmte Subjekte, Zeiten und Fälle zum Ausdruck bringt, erscheint im Chinesischen das Verb eigentlich immer im Infinitiv, im genannten Beispiel eben gehen (zumindest meint Jullien, der Infinitiv wäre die angemessenste Übersetzung chinesischer Verben). In einem chinesischen Satz muss also nicht unbedingt ein handelndes oder erleidendes Subjekt durch das Aktiv oder Passiv bestimmt sein, muss keine bestimmte Zeit, kein bestimmter Ort, kein bestimmtes Verhältnis zu etwas/jemand anderem, kein bestimmter Fall abgebildet sein, muss nicht zwischen Plural und Singular und zwischen den Geschlechtern unterschieden werden, lässt uns Jullien wissen. Und er fragt sich, ob man eine Wortzusammenstellung, die solcherart der Syntax entbehrt, überhaupt als Satz bezeichnen kann.
Was aber ein solcher Satzbau mit sich bringt, ist laut Jullien vor allem eine völlig andere Konzeption des Subjekts, ja eigentlich das Fehlen des Subjekts, das alles Sprechen und Handeln in Europa begleitet. Das Subjekt, das „europäische“ Ich ist demnach eine Konstruktion, bzw. ein Konstruktionseffekt, der sich aus der Grammatik der europäischen Sprachen ergibt, denn sie legt uns auf die Unterscheidung von Subjekten und Objekten fest. (Überhaupt ist „Subjekt“ für ihn immer nur „kulturelles Subjekt“ – also immer etwas kulturell Gewordenes, daher auch immer etwas Dekonstruierbares.) Chinesisch besitzt keine derart zwingende Syntax, welche automatisch ein handelndes oder erleidendes Subjekt konstituiert – und genau darin sieht Jullien Chinas Weisheit begründet. Einen kapitalen Fehler würde man daher begehen, wenn man glaubt, mittels der europäischen Syntax die Zusammenhänge verständlich machen zu können, die auf Chinesisch artikuliert sind. Macht man nämlich aus chinesischen Sätzen europäische, verfälscht man oft das Gemeinte und trägt Elemente hinein, die dort gar nicht vorhanden sind, kritisiert Jullien. Wenn er etwa einen konfuzianischen Kommentar zum initiatorischen Vermögen, zum Hexagramm Nr. 1 des Buchs der Wandlungen folgendermaßen wortwörtlich übersetzt,
„Weit klar Ende Anfang
Sechs Positionen Moment zutragen
Moment besteigen sechs Drachen so-dass lenken Himmel“,
so übersetzt Richard Wilhelm, der deutsche Missionar und Sinologe, dem wir die erste Übertragung des I Ging in eine europäische Sprache zu verdanken haben, den Kommentar mit
„Indem der Heilige große Klarheit über Ende und Anfang besitzt und über die Art, wie die sechs Stufen sich alle zu ihrer Zeit vollenden, steigt er auf ihnen wie auf sechs Drachen zum Himmel empor.“
In Wilhelms Übersetzung wird das, was hier besitzt, besteigt, lenkt … zum klar definierten Subjekt, wird personalisiert, ja sogar ein „Heiliger“ wird aus dem Hut gezaubert, der im chinesischen Text überhaupt nicht vorhanden ist. Auf eine Übertragung, die etwas mehr europäische Syntax verwendet, als die wortwörtliche Übersetzung, kann aber Jullien dann doch nicht verzichten, und übersetzt die gleiche Textstelle schließlich mit
„Weite Klarheit – Ende Anfang:
die sechs Positionen, die zu ihrer Zeit aufkommen;
zur rechten Zeit die sechs Drachen auf eine Weise besteigen, dass man den Himmel lenkt“
Er meint, mit dieser Übersetzung immerhin das formelhafte „Herunterspulen“ bewahrt und vermieden zu haben, den initiatorischen Faktor, der jedem Prozess innewohnt, zu ontologisieren und zu personalisieren. Zugegeben, ein bestimmtes Subjekt wird hier tatsächlich nicht betont. Andrerseits lässt sich aber wohl kaum bestreiten, dass doch immer ein Subjekt unweigerlich dieses „man“, diesen leeren Platzhalter besetzt. Betrachten wir noch einen anderen von Jullien untersuchten Satz, eine Formel des Konfuzius, die er folgendermaßen übersetzt:
„Der Meister sprach: ‚In der Frühe den Weg zu vernehmen und des Abends sterben: das geht´.“
Für Jullien ist hier nicht eindeutig bestimmt, was mit „In der Frühe“ und was mit „des Abends“ indiziert ist, ob es sich um die Zeitspanne des ganzen Lebens oder die eines Tages handelt. Außerdem ist kein besonderes Subjekt hervorgehoben. Und das unaufdringliche „das geht“ ist kein Imperativ, würde weder eine Forderung, Behauptung oder Regel aufstellen, noch belehren und mahnen. Es handelt sich hier also um eine typische chinesische Formel, und eine solche hat das Potential verschiedener Bedeutungen, kann für verschiedenen Situationen gelten. Welche Gedanken drängen sich also beim Lesen eines solchen Satzes auf? Vielleicht, dass obige Formel sagen will, dass alle Entfaltung einmal endet, und dass darüber keine Trauer zu bestehen braucht. Oder etwa, dass engagiertes Sich-auf-den-Weg-machen einerseits, und Loslassen aller Identifikationen andererseits, den Puls des Tages bestimmen können. Völlig anders geht Billeter an den Satz heran. Dass man diesen Satz nicht einfach als den Ausruf des Konfuzius übersetzt hat, als der er eigentlich verstanden werden muss, nämlich als
„Wenn ich eines Morgens endlich den Grund der Dinge erschaute, könnte ich am Abend sterben!“ (Billeter 2015) ,
läge an einer falschen Übersetzungspraxis. Viele Übersetzer würden an den chinesischen Sprachnormen kleben und dann europäische Begriffe unpassend verwenden, die dann ungewohnt und exotisch wirken, und bedeutungsträchtiger und rätselhafter, als sie tatsächlich sind. Er kritisiert, dass die Übersetzer Vieldeutigkeit sehen, obwohl doch ein einfacher, eindeutiger Satz vorliegt. Doch Jullien wird hier wohl Billeter seinerseits eine falsche Übersetzungspraxis vorwerfen, eine die im „europäischen“ Denken feststeckt, welches immer alles auf Eindeutiges reduzieren möchte. Jullien besteht darauf: Das, worauf die Texte weisen, ist grundsätzlich nicht eindeutig. Was darüber auf Chinesisch gesagt, bzw. wie darüber gesprochen und geschrieben wird, kann daher in verschiedene Richtungen anregen und wirken, ganz so wie das bei der Poesie der Fall ist.
Als herausragendes Beispiel des Formelhaften haben wir bereits in der Einführung das Liniensystem des I Ging erwähnt, das eine Vielzahl von sprachlichen Deutungen erlaubt. Allerdings handelt es sich dabei ja nicht um sprachliche, sondern um geometrische bzw. diagrammatische Formeln. Es gelten aber grundsätzlich alle Sentenzen und Redewendungen, gewonnen aus Naturerscheinungen oder Ereignissen und Histörchen der Vergangenheit, die über die Jahrhunderte erinnert und Teil des Sprachschatzes wurden, als Formeln. Ein chinesischer Text nimmt sich Granet zufolge daher zuweilen aus „wie ein aus Sprichwörtern zusammengesetztes Mosaik“ (Granet 1963). Selbst die vom Unsagbaren sprechenden Texte – ja gerade diese – greifen auf allseits bekannte Stereotype zurück. Auch „bei Lao-tzu und Chuang-tzu kommen die mystischen Ergüsse in überlieferten Wendungen zum Niederschlag“, stellt Granet fest, und ebenso, dass in China ein Text als von umso höherem Wert und höherer Weisheit gilt, je mehr und je besser sich der Autor dieser überkommenen Formeln zu bedienen versteht. Idealerweise sollte der Text völlig aus solchen bestehen. Die Formeln oder Stereotype können in verschiedenen Kontexten erscheinen, aber trotz der gleichbleibenden Form müssen sie nicht unbedingt immer das gleiche bedeuten. So findet man bei Granet etwa die alte Fabel vom verarmten Züchter, der seine Affen auf schmälere Kost setzt. Diese empören sich, weil ihnen nur mehr mittags drei, und abends vier Süßkartoffeln verabreicht werden. Als sie daraufhin morgens vier Stück und abends drei serviert bekommen, sind sie aber ganz zufrieden. Lie Zi (um 450 v. Chr.) verwendet die Geschichte, um den Menschen einen Spiegel vorzuhalten, um sie mit ihrer Dummheit zu konfrontieren. In völlig unveränderter Form dient dieselbe Fabel bei Zhoungzi (um 365 - 290 v. Chr.) hingegen dazu, auf die Subjektivität aller Urteile zu verweisen. Dies wäre übrigens gut, denn so könne man nicht nur Affen dressieren, sondern auch Menschen regieren. Eine andere Formel (aus dem Buch der Lieder) lautet, „Die Wachteln gesellen sich zu Paaren – und die Elstern fliegen zu zweit!“ (Granet 1963). Damit ist das teils verborgene, teils auch ganz unverhüllte, im Frühling sich vollziehende Liebeswerben aller Natur, auch der Bauernburschen und -mädchen gemeint – kann in einem politischen Kontext aber auch die Aufforderung an einen Staatsmann sein, sich heimlich mit einem Verschwörer zusammenzutun. Und was die schriftliche Darstellung dieser Stereotype betrifft: Ganze Konstellationen von Gegebenheiten und Qualitäten, ganze Geschichten können durch ein paar Pinselstriche, bzw. durch einige wenige Zeichen zum Ausdruck kommen.
Es genügen im Chinesischen also einfachste Wortzeichen, kürzeste Formeln, um einen komplexen Zusammenhang beim Hörer oder Leser anzudeuten, bzw. wachzurufen. Der Bestand an diesen Formeln ist relativ konstant, im Laufe der Geschichte ist bei den Autoren keine Tendenz zu beobachten, ihn zu erweitern, behauptet Granet. Eher das Gegenteil wäre der Fall, nämlich die Absicht, sich auf wenige Formeln zu beschränken und diese zu straffen. Wichtig für den Europäer wäre es, zu verstehen, dass es sich hier nicht um abgegriffene Metaphern handelt, sondern um etwas äußerst Lebendiges und Effektives, das imstande ist, den momentan wirkenden Zusammenhang bewusstzumachen. Dabei haben die gleichen Zeichen Gültigkeit im Bereich der Natur, der Erziehung (vor allem des Fürsten), der Politik und des Ritus.