Schule des Rades

Dago Vlasits

Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades

Teil I – 2   Streben nach dem Ideal oder Harmonie mit dem Moment?

In Umweg und Zugang, das 1993 auf Französisch erschienen ist, erörtert Jullien ausführlich die poetische Natur der chinesischen Sprache, und unterscheidet dort die klassischen drei Formen des poetischen Ausdrucks: den direkten (fu), den analogen (bi), und den anregenden Modus (xing), wobei er letzteren als den entscheidenden für Chinas Sprache hervorhebt: Was in China gesagt/geschrieben wird, soll „anregen“, also das Handeln und Verhalten beeinflussen – und nicht sosehr abbilden und repräsentieren, was ja die primäre Funktion der europäischen Sprachen wäre. In diesem Buch, in welchem Jullien noch nicht zwischen Sinn und Zusammenhang unterscheidet, erläutert er den poetischen Ausdruck der chinesischen Sprache gleichsam als Reaktion auf das sprachlich Unfassbare der Wirklichkeit. Nur die „indizielle“, die anzeigende und andeutende Rede, die „inchoative“ (die anfangende, den Anfang bedeutende) Rede, die beim Gegenüber etwas in „in Gang setzen“ will, wäre der dynamischen Realität angemessen. Insbesondere der chinesische Weisheitslehrer gibt keine direkten Anweisungen und keine Definitionen, denn über das Dao, das was beim jeweiligen Handeln eigentlich zum Tragen kommen sollte, kann gar nicht angemessen geredet werden. Jullien bezeichnet die Art und Weise, wie Konfuzius in den Gesprächen lehrt, als „indirekte Pädagogik“. Belehrung und Einflussnahme richtete sich immer nach der konkreten Situation und der jeweiligen Verfassung des Adressaten, unter Verwendung poetischer Motive, und war immer nur Anregung durch Anspielung, ist Jullien überzeugt. In Denkzugänge, das Jullien 20 Jahre später veröffentlicht hat, betont er die Eigenmächtigkeit der Sprache, und erläutert die Wirkung der chinesischen und der europäischen auf das Bewusstsein: Chinesisch lässt einen die Welt als Prozess erkennen, auf den es sich einzustimmen gilt, während die europäischen Sprachen einen dazu geneigt machen, auf die Welt als einem Seienden zuzugreifen. Tendenziell war also der Sprache in China eine andere Funktion zugeschrieben, als in Europa, nämlich eher die der Suggestion, als jene der Definition, und sie hat offenbar ein anderes Welt- und Menschenbild hervorgebracht. Richard Wilhelm charakterisiert den Unterschied folgendermaßen: „Während in der Ethik des Westens die kriegerische Tugend des Mutes und die damit zusammenhängenden Tugenden des Forschungstriebes und Wahrheitssinnes die Keimzelle für die ethische Entwicklung bilden, steht in China die gewissenhafte Einordnung in den Familienorganismus und durch ihn in den Gesellschaftsorganismus obenan“ (Wilhelm 1972).

Europäisches Denken ist ein fortschreitendes Erforschen der noch unentdeckten Wahrheit – einer vom Menschen unabhängigen Wahrheit – und gibt objektive, allgemeingültige Definitionen der Wesen, der Zustände und des Idealen. Chinas Denken hingegen richtet sich auf den handelnden Menschen, der eingebunden ist in die sich dauernd wandelnden Kräfteverhältnisse seiner Umgebung – von denen die ursprünglichsten die Kräfteverhältnisse des Familienverbandes sind. Auf diese Verhältnisse versucht es Einfluss zu nehmen, und ohne diese – situativen, immer ganz konkreten, relativen – Umstände und Relationen gibt es „den“ Menschen gar nicht. Daher ist es zwecklos, das „Wesen“ des Menschen in einer absoluten und idealen Weise zu bestimmen, wie es europäische Anthropologien tun. Laut Jullien könne nur die chinesische Einstellung als Weisheit bezeichnet werden, was hingegen Europa verwirklicht hat, ist nur Philosophie und Vermehrung von Wissen.

Aber bedeutet nicht Philosophie „Liebe zur Weisheit“, und werden bestimmte zentrale Begriffe nicht in beiden Traditionen verwendet? Als Finden der „rechten Mitte“ wird beispielsweise Weisheit sowohl in Europa als auch in China verstanden, erläutert Jullien in seiner Schrift „Der Weise hängt an keiner Idee“ (Jullien 2001). Aber wegen der typisch europäischen Art des Denkens würde Weisheit in Europas Philosophie ein kümmerliches Dasein fristen. Aristoteles definiert in seiner Ethik etwa die Tugend der Tapferkeit als die Mitte zwischen Tollkühnheit und Ängstlichkeit, und Großzügigkeit als Mitte zwischen Verschwendungssucht und Knausrigkeit. Das „ermittelte“ und definierte Gute wird so zum sicheren Wissensbestand, wird zum Ideal, dem das konkret Gegebene gegenübersteht bzw. das nach Maßgabe des Ideals umgeformt werden soll – was nicht selten misslingt. Die aristotelische Mitte endete dann als „mittleres Maß“ des gemeinen Hausverstandes, was nicht selten als schwächliche Mittelmäßigkeit auftritt. China hätte hier ganz anders gedacht. Die chinesische Weisheit akzeptiert alle Möglichkeiten zwischen zwei Extremen – einschließlich der zwei Extreme – als gültige Positionen, die der Mensch einnehmen kann, je nachdem, was der Lauf des Lebens erfordert. Mitte ist hier nicht das mittlere Maß, (dieses ist doch nur eine Position unter vielen im kontinuierlichen Prozess) sondern die „rechte Mitte“ ist hier die innere Leere, die mit keiner der Positionen identifiziert ist. Diese Mitte einzunehmen heißt, sich nicht nur mit keiner Idee, keinem Ideal, keinem Prinzip und keiner Position zu identifizieren, sondern auch mit keinem besonderen Ich.

Trifft das, was Jullien Aristoteles vorhält, auch auf Sokrates zu? Wie sehr die beiden Unterschiedliches im Sinn hatten, zeigt sich in ihrer historischen Auswirkung. Aristoteles gilt als einer der Begründer europäischer Wissenschaft, Sokrates als Lehrer der Weisheit, die aber in Europa bei weitem keine so glänzende Karriere gemacht hat, wie die Wissenschaft. Aber die Weisheit des Sokrates kann mit jener der Chinesen Schritt halten. Er ringt zwar (im Unterschied zu ihnen) im Dialog um die eindeutige Definition, etwa die des Wesens der Tugenden. Doch geht er nicht nur immer vom Nichtwissen aus, sondern endet auch immer beim Nichtwissen. Sein forschendes Fragen führt zu widersprüchlichen Aussagen bezüglich des gesuchten Gegenstandes, daher zu keiner endgültigen Definition – ohne dann aber diese Widersprüchlichkeit als Erweis der Nicht-Existenz des Gesuchten zu werten. Sokrates verunsichert die Bequemlichkeit vermeintlich sicheren Wissens und regt den Geist an, offen zu bleiben. Er bezeichnete sich selbst als unfruchtbar an Weisheit und ließ sich den Vorwurf gefallen, dass er bloß fragt. Doch dieses Fragen bleibt nicht ohne Wirkung, wie man im platonischen Dialog Theaitetos nachlesen kann: „Diejenigen aber, die mit mir verkehren, erscheinen anfänglich zum Teil völlig unwissend, alle aber, denen Gott es vergönnt, machen im Verlauf unseres Verkehrs wunderbare Fortschritte nach ihrem eigenen Zeugnis und dem anderer, und zwar offenbar ohne von mir selbst je etwas gelernt zu haben; vielmehr haben sie aus sich viel Schönes herausgefunden und halten es fest. Die Entbindung aber ist des Gottes und mein Werk“. Arnold Keyserling sagt über ihn: „Sokrates ist das Urbild des individuellen Menschen, der ohne Unterordnung an eine geistige Tradition, die von anderen geschaffen wurde, seinen Weg zum ewig Unbekannten geht, indem er das Nichtwissen zum Kern seines Bewusstseins erhebt und damit das Gefängnis des Ichbildes sprengt“. (Keyserling 1984)

Auch für Jullien ist Sokrates natürlich ein Weiser, aber dessen Fortwirken in der europäischen Kultur sieht er doch eher in seiner Rolle als Erfinder der Definition. Besitz von Definitionen führt aber nicht zur Weisheit. Wir sollten uns daher auf das chinesische Denken einlassen, nicht wegen aktueller geopolitischer Entwicklungen oder der faszinierenden Exotik des Chinesischen, sondern um sich des eigenen unhinterfragten Grundstocks an Setzungen, Werkzeugen und Fragestellungen bewusst zu werden. Allein das kann uns helfen, die Sackgassen und Stagnationen des europäischen Denkens, in die uns eben diese Voraussetzungen geführt haben, zu überwinden. Nur so könnten wir die für das europäische Denken typischen, althergebrachten und nun unfruchtbar gewordenen Dualismen wie die von Geist und Materie, Subjekt und Objekt, Gott und Welt, Determination und Freiheit, Ideal und Wirklichkeit, Theorie und Praxis hinter uns bringen, die Zwänge des Finalitätsdenkens abwerfen und die analytische Vernunft insgesamt einer Selbstprüfung unterziehen.

Julliens Untersuchungen zeigen, dass dem europäischen Denken ein Pathos, eine Dramatik, ein ehrgeiziges Streben auf ein Ziel und Ende, auf einen abschließenden Sinn innewohnen, die dem chinesischen fremd sind. Während das europäische eine „Orientierung“ besitzt, auf ein zu erreichendes Ideal hin, oder auf ein im Modell entworfenes Resultat, ist das chinesische Denken auf die „Regulierung“ gerichtet, auf die Anpassung an den immer schon bestehenden (niemals hinterfragten) „Lauf“ der Dinge. Nicht der Perfektion, sondern der „Gangbarkeit“ und dem Ergreifen der günstigen Gelegenheiten gilt das Augenmerk.

Handelt es sich daher bei diesem Denken, das immer strategisch ist und zwischen profan und heilig nicht unterscheidet, nicht einfach um Opportunismus? Gewiss, aber es ist nicht der Opportunismus dessen, der immer nur nach seinem Vorteil schielt, denn der chinesische Weise ist mit keinem „partikulären Ich“ identifiziert. Sein Ergreifen der Gelegenheit genügt auch ethischen Ansprüchen und mündet in der harmonischen Einstimmung auf das Ganze. Dabei sind nicht die „feststellbaren“ Dinge das Entscheidende, sondern die Wandlungsprozesse. Auf sie soll sich der Mensch einstimmen – nicht auf das Ausdifferenzierte, sondern auf die Welt als dauernder „Übergang zwischen Festigkeit und Auflösung“. Die ausdifferenzierten Dinge und Wesen sind nicht die ganze Realität, denn alles Ausdifferenzierte wurzelt im Undifferenzierten und Nicht-Aktualisierten. Chinesisch nennt man es Dao, welches auch als „die Mutter alles Existierenden“ bezeichnet wird – es gebiert alles, und das jeden Moment. In diesen Ursprung fallen alle Dinge auch wieder zurück, wenn sie sich auflösen. Und wenn auch das (unendliche) Undifferenzierte der Grund und die eigentliche Wirkkraft der (endlichen) aktualisierten, differenzierten Dinge ist, und diese als der Gegensatz des Undifferenzierten erscheinen mögen – sie sind doch nur der andere Pol, die andere Phase des Undifferenzierten. Traditionell heißt das Undifferenzierte, Nicht-Artikulierte, Nicht-Aktualisierte der „Anfang des Dao“, und die ausdifferenzierten, individuierten Dinge das „Vollendete des Dao“. Das Dao erschafft, erhält und löst die Dinge wieder auf, in jedem Moment. Wird man mit diesem Moment eins, muss kein beschränktes Ich eingreifen, das – weil es immer nur beschränkt sein kann – den natürlichen Lauf der Dinge blockiert. Demzufolge zeichnet sich der chinesische Weise also durch Ich-Losigkeit aus. Über Konfuzius erzählt Jullien, wie auch die Überlieferung, er hätte kein Ich gehabt, und dass man von ihm sagte, er wäre „der Moment“. Inwiefern man aber überhaupt vernünftig von Ich-Losigkeit sprechen kann, wo wir doch als individuelle Körper existieren, werden wir weiter unten noch eingehender betrachten.

Insgesamt hätte dieses Denken eine der europäischen Mentalität gänzlich fremde Kultur hervorgebracht, denn chinesisches Denken ist von vornherein nicht auf Essenz und Existenz gerichtet, wie das europäische, sondern auf Funktion und Erscheinung, versichert uns Jullien. Es fragt nicht „Was ist das, was ist sein Wesen?“, auch nicht, „Was ist sein Grund und Ursprung?“, sondern wendet sich der Erscheinung zu, so wie sie offenkundig zutage tritt in ihren Relationen zum Umfeld und in ihrem Verlauf, dem Prozess. Keine verborgenen oder transzendenten Ursachen werden dabei angenommen, keine Kausalkette wird analytisch zurückverfolgt oder in die Zukunft projiziert, sondern die Ordnung des gesamten erscheinenden Zusammenhangs wird als Ganzes erfasst. Dieses Beiseite-lassen der Frage nach dem Wesen und dem Ursprung der Erscheinung durch die chinesischen Denker veranlasst Jullien zu fragen, ob denn Denken überhaupt immer am Fragen ansetzen, immer ein Rätsellösen sein muss. Er ist der Überzeugung, dass sich ein nach Weisheit strebender Mensch nicht einmal Kants philosophischen Grundfragen – Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? – unbedingt stellen müsse.

Ob die Chinesen bezüglich des philosophischen Fragens tatsächlich so enthaltsam waren, mag man vielleicht zu Recht bezweifeln, doch es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die so anders verlaufende Kulturentwicklung in China – insbesondere das Fehlen einer empirischen Naturwissenschaft – wohl darauf zurückzuführen ist, dass das skeptische Fragen und der methodisch eingesetzte Zweifel keine solche Hochschätzung genossen haben wie in Europa. Wie wenig chinesisches Denken ein tiefschürfendes Rätsellösen ist, erklärt auch Manfred Porkert in seiner Übersetzung von Marcel Granets Das chinesische Denken (1963) : Da es „niemals ein Ding für sich definiert, sondern in erster Linie nach dessen Bezogenheit zum Ganzen, zu einem ‚Feld‘, zu einer Gruppe beurteilt, so ergibt sich zwangsläufig, dass jede Gesetzmäßigkeit immer auf den größeren Zusammenhang hinweist und ihren Platz in einem Zyklus (nicht in einer linearen Reihe) einnimmt. Da ein Zyklus zwar nicht unendlich, wohl aber endlos ist, kann es mithin aus einer solchen Weltsicht definitionsgemäß kein absolut unerklärtes oder unerklärbares Phänomen geben. Anders formuliert bedeutet dies: Die Umwelt fordert nicht beständig dazu heraus, in ihr Rätsel zu lösen und neue Horizonte zu entdecken.“

Aber mögen die chinesischen Weisen auch eher ganzheitlich und intuitiv erfasst, als analytisch ergründet haben – Denken bleibt Denken, ob es sich nun dem offenkundigen Phänomen bzw. Prozess, oder dem (dem Augenschein verborgenen) Wesen oder Ursprung einer Sache zuwendet. Auch Jullien sagt ja, es gäbe eigentlich nur ein Denken. Wenn er von „chinesischem Denken“ oder „griechischem Denken“ spricht, meine er schlichtweg das Denken, das sich eben auf Chinesisch oder Griechisch ausdrückt. Hinsichtlich des forschenden Charakters des europäischen Denkens aber warnt er, und wir müssen zugeben: der Blick „dahinter“ ist gewagt, das „hinter“ der Erscheinung gesuchte und sich dann offenbarende Wesen ist vielleicht gar nicht real, und man unterliegt der Täuschung, es mit den „eigentlichen“, den wahren Substanzen und Subjekten zu tun zu haben, die aber letztlich vielleicht doch nur spekulativ und konstruiert sind, bzw. sich quasi eingeschlichen haben, auf Grund der Struktur der europäischen Logik und Syntax. Aber selbst wenn Europa für viele Kritiker etwa das Wesen von Welt, Ich und Gott (ja selbst das der „Materie“) nicht befriedigend geklärt hat, gelang es dem europäischen Denken dennoch, Verborgenes „hinter“ den Erscheinungen zu entdecken, was Naturwissenschaft und eine höchst erfolgreiche Technologie ermöglicht hat. Und ein Subjekt denkend und problematisierend, hat Europa das individuelle Ich zu seiner Autonomie und Freiheit gebracht. Das alles hat China aus sich heraus nicht geschafft – weil eben in seiner Sprachstruktur anderes „vorgefaltet“ ist. Es hat stattdessen Weisheit hervorgebracht, das sollte man einräumen, will man nicht China in ethnozentrischer Verblendung als unterlegen betrachten. Zwar hatte auch die europäische Philosophie ursprünglich die Weisheit zum Ziel, doch in Europa war dieses Streben immer mit dem Erringen von Wissen verbunden, ein Trend, der dann die Oberhand gewonnen hat, mit gewaltigen Erfolgen der Naturbeherrschung (an denen alle außereuropäischen Kulturen längst partizipieren und Europa darin nachahmen). Den chinesischen Denkern ist es aber nicht so sehr um prinzipielle Begrifflichkeit gegangen, die als Werkzeug der Konstruktion einsetzbar ist, sondern um die Kunst, sich auf den realen Lauf der Dinge einzustimmen, um in Harmonie damit zu sein. In dem Umstand, dass die Anfänge der Logik und des Materialismus durch die Schule der Mohisten, den Anhängern des Mo Ti (5.Jh. v. Chr.), auch im alten China entwickelt wurden, doch nach anfänglichem Einfluss dann fast während der gesamten Kaiserzeit vergessen waren, sieht Jullien ein deutliches Indiz für Chinas Gleichgültigkeit gegenüber verallgemeinerndem Begriffsdenken und einem analytischen Zugriff auf die Wirklichkeit.

War China insgesamt weiser als Europa, und hat es weniger Unmenschlichkeit und Grausamkeit hervorgebracht? Das darf wohl bezweifelt werden. Dennoch kann der von China geschaffene Zugang zur Weisheit genauso Anspruch auf Universalität erheben, wie der von Europa geschaffene Zugang zu Naturwissenschaft, Technik, individueller Freiheit und Demokratie. Wenn dem so ist, geht es dann nicht einfach nur darum, dass die Welt endlich damit beginnen sollte, sich im gleichen Maß der chinesischen Weisheit zuzuwenden, wie zum europäischen Wissen? Muss Europa durch China nur ergänzt werden (und umgekehrt)? Geht es um eine Synthese? Für jene, die von einer solchen träumen, hat Jullien nur Spott übrig: „das Abstrakte und das Objektive auf der einen Seite (der ‚Westen´ der Vernunft), das Konkrete und das Subjektive auf der anderen Seite (der ‚Osten´ der Intuition). Der eine ist die ‚Eizelle´, der andere der ‚Samen´; China ist yin , der Westen ist yang. Kann man in schöneren Worten beschreiben, was zwischen Kulturen das Mysterium ihrer ‚Befruchtung‘ ausmacht?“ (Jullien 2015). Denn diesen Vertretern der großen kulturellen Symbiose (die er vor allem in den Vereinigten Staaten beheimatet sieht) scheint nicht bewusst zu sein, dass sie bei ihren Unterscheidungen längst in europäischen Begriffen denken – selbst wenn sie Chinesen sind und sich der chinesischen Sprache bedienen.

Ein Zusammenführen der beiden verschiedenen Denkzugänge im Sinne einer komplementären Ergänzung und Synthese hält Jullien also für unmöglich. Aber ist nicht doch ein Verbindendes als eine gemeinsame Schnittmenge zu entdecken, welches sich zwar nicht explizit zeigt und nicht bewusst ist, aber doch in beiden wirksam ist? Ein Universelles, Gemeinsames, das der chinesischen und europäischen Art zu denken sozusagen „vorgelagert“ ist? Das verneint Jullien entschieden, und resümiert: „… ich habe nicht herausfinden können, wie die Antinomie zwischen Weisheit und Philosophie […] zu überwinden wäre“ (Jullien 2008).

Dago Vlasits
Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades · 2019
Teil I – 2   Streben nach dem Ideal oder Harmonie mit dem Moment?
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