Schule des Rades
Dago Vlasits
Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades
Teil I – 3 Billeter gegen Jullien
Julliens Auffassung nach kann man den Bedingtheiten des eigenen Denkens nur entkommen, wenn man über das Eigene hinausgeht und dem ganz Anderen begegnet – wenn sich etwa Europa auf China „einlässt“. Und wie lässt man sich auf ein anderes Denken ein? Man muss eigentlich das Lager wechseln – zumindest temporär – man muss Mitglied werden, fordert er, so wie man Mitglied eines Vereins wird. Muss man also zum „Chinesen“ mutieren, um das eigene „Europäer-Sein“ besser zu verstehen und dessen Enge zu überwinden? Tatsächlich wäre es nicht erforderlich, komplett zu konvertieren, beruhigt er uns in „Kontroverse über China“ (Jullien 2008), was, nebenbei bemerkt, seine jeden Kulturalismus ablehnende Einstellung deutlich macht – nämlich Kulturalismus als jene Haltung, die eine Kultur als unvergleichbar, ja für Außenstehende als nicht verstehbar beurteilt. Dieser Haltung liegt ein essentialistischer Kulturbegriff zugrunde, und setzt Kultur mit Identität gleich. Als Behauptung, es gäbe eine für Nicht-Chinesen unzugängliche „Sinität“, würde sich diese Haltung auch in China im Aufwind befinden, mit deutlichen nationalistischen Untertönen. Dass er den Kulturalismus fördere, indem er die radikale Andersartigkeit Chinas betont, wirft ihm daher sein Kritiker Billeter vielleicht doch zu Unrecht vor, denn Jullien ist von der „Intelligibilität“, von der Verstehbarkeit und Übersetzbarkeit jeder Kultur überzeugt.
Konvertieren ist also keine Bedingung, aber die europäische Vernunft müsse eine „Ent- und Neukategorisierung“ vollziehen, was aber nur geht, wenn sie sich auf einen ganz anderen Denkzugang einlässt, wie etwa den chinesischen – und vor allem auf den chinesischen, da nur dieser das vollständig Antipodische zu Europa wäre. Lässt man sich auf das Andere ein, wird das „Ungedachte“ bewusst – Ungedachtes als die eigenen, niemals hinterfragten Selbstverständlichkeiten, und Ungedachtes als jener unbekannte Weg, den der Andere beschritten hat. Das „Bereisen“ des „Anderswo“ ist aber unverzichtbar, ohne „Abstand“ zum Eigenen, ohne „Exterritorialität“ ist diese Erkenntnis nicht möglich. Der für jegliches Verstehen und Reflektieren notwendige Abstand kann nur durch Konfrontation mit einem konkreten, geografisch-kulturellen Anderswo erreicht werden, meint Jullien. Durch Bezugnahme auf universelle (transzendentale) Kategorien bzw. ideale Archetypen, die am Grunde des menschlichen Bewusstseins zu finden wären, kann dieses „Anderswo“, kann dieser für die Erkenntnis notwendige Abstand nicht erzeugt werden, denn solche Universalien bzw. Archetypen gibt es laut Jullien nicht.
Also erst in der Begegnung mit China, bzw. durch die „methodische Verwendung Chinas“ erkennt Europa, dass es selber die Realität immer in eindeutigen, prädikativen Aussagen denkt, und erkennt, dass China hingegen die Realität als Prozess denkt, der sprachlich durch vieldeutige Formeln zum Ausdruck kommt. Europa analysiert das Seiende und bringt es auf den allgemeingültigen Begriff und unter Kontrolle, China erfasst das erscheinende, momentane Ganze durch Formeln, und ermöglicht die harmonische Einstimmung auf das prozesshafte Leben, wie in einen ewigen Ritus. Aber es sind keine gemeinsamen Nenner oder eine gemeinsame Grundlage erkennbar, keine Synthese ist möglich, wird Jullien nicht müde zu betonen.
Für Jullien sind also chinesische und europäische Philosophie keine Variationen eines grundsätzlich Gleichen, sondern jedes für sich müsse man als absolut anders und eigenständig gelten lassen. Billeter ist mit dieser dichotomischen Betrachtungsweise nicht einverstanden. Zwar vertritt auch er nicht die Idee von so etwas wie einer Universalsystemik, auch er ist überzeugt, „die Vorstellung einer übergreifenden Wissenschaft, einer mathesis universalis, ist eine Illusion“ (Billeter 2017). Zu Julliens These von der absoluten Andersartigkeit Chinas und Europas sagt er aber dennoch: „Die Asymmetrie, die er uns vorlegt, verdeckt eine tiefer liegende Symmetrie“ (Billeter 2015). In seiner Streitschrift „Gegen François Jullien“ (Billeter 2015) behauptet er, Julliens Chinabild wäre bloß eine Konstruktion. Denn mag sich dessen These von der totalen Andersartigkeit des chinesischen Denkens auch auf eine starke Tradition innerhalb der Sinologie berufen können – sie wäre doch nur ein missverständliches Dogma, das endlich überwunden gehört, bedauerlicherweise von Jullien aber weiter am Leben erhalten wird. Dass sich China und Europa diametral gegenüberstehen würden, wäre eigentlich nur ein Mythos, der in Europa zur Zeit der Aufklärung entstanden ist. Manche Denker wie Voltaire (1694 -1778) haben auf China ihr Sehnsuchtsziel der Aufklärung projiziert, und darin das Gegenbild der verrotteten Zustände in Europa gesehen. Für diese Aufklärer war China ein Land ohne absolutistische Willkür, von einem Kaiser regiert, dem weise Philosophen als Berater zur Seite standen, welche den Geboten einer Vernunftreligion folgten, dem Konfuzianismus. Als die eigentlichen Verursacher dieser Chinarezeption firmieren dabei ironischerweise die Erzfeinde der Aufklärer, die Jesuiten, die durch eine Verklärung der chinesischen politischen Verhältnisse zu Hause ihre Missionspolitik rechtfertigten und sich in China opportunistisch zeigten. Sie beabsichtigten nämlich, die Macht des Kaisers zu nutzen und China „von oben“ zu missionieren, weshalb sie die chinesische Elite in einem günstigen Licht erscheinen ließen. Dabei haben die Jesuiten das idealisierte Bild Chinas eigentlich nicht erfunden, sondern nur das Weltbild ihrer Gesprächspartner, der kaisertreuen Mandarine, wiedergegeben. Die politischen Implikationen von dem, was dann in Europa als „die chinesische Zivilisation“ rezipiert wurde, wäre nicht nur von Jullien, sondern auch von vielen Historikern missverstanden worden. Jullien hätte diesen Mythos der Fremdheit und Erhabenheit Chinas „neu belebt, indem er ihm eine gelehrte Form verlieh – und dessen politische Bedeutung verschleierte.“ (Billeter 2015). Auf dieser Verschleierung würde aber ein Gutteil des Erfolgs seiner Bücher beruhen. Was hier verschleiert wird, bzw. unberücksichtigt bleibt, ist die Tatsache, dass das, was wir heute als chinesisches Weltbild verstehen, eine Konzeption der Berater der ersten Han-Kaiser ist, die den ursprünglichen Konfuzianismus zurecht gebogen haben, um damit die absolute Macht des Herrschers und eine streng hierarchische Gesellschaftsordnung zu zementieren. Diese Geschichte eines philosophisch begründeten Despotismus, der noch heutzutage die chinesische Gesellschaft lähmt, wurde 2004 von der jungen Historikerin Li Dongjun auf Grundlage verlässlichen Quellen rekonstruiert, lässt uns Billeter wissen. Strenger Despotismus, der das mit dem 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung beginnende Kaisertum auszeichnet, wäre auch schon die Jahrhunderte davor typisch für China gewesen. Die Maximen der Machterhaltung, die schon vorkaiserliche Denker ausgearbeitet haben, sind laut Billeter in spätere kosmologische und metaphysische Systeme der Kaiserzeit eingeflossen, die stets den gleichen Zweck zu erfüllen hatten: „… die reale Ausübung der Macht gleichzeitig zu rechtfertigen und zu kaschieren.“ Alle Kosmologie, Metaphysik, Riten und Etikette hätten immer nur den Zweck gehabt, die Vorstellung zu festigen, dass die kaiserliche Ordnung die natürliche sei, „den Gesetzen des Universums entsprach, seit den Anfängen und für alle Zeit und Ewigkeit“ (Billeter 2015), und nicht in Frage gestellt werden darf.
Auch den Unterschied zwischen den indo-europäischen Idiomen und der chinesischen Sprache, auf dem Julliens ganze Argumentation beruht, sei nicht so gravierend, wie dieser es darstellt. Sie wären zwar sehr unterschiedlich aufgebaut, hätten aber doch die gleiche Aufgabe zu erfüllen. Es gäbe nun einmal menschliche Grunderfahrungen und Problemstellungen, die in China nicht anders sind als in Europa, und die Rolle der Sprache ist es, mit ihrer Hilfe diese erfolgreich zu bewältigen. Insbesondere stellt sich Billeter Julliens Behauptung entgegen, „dass sich die ‚chinesische Diskursform‘ durch den Willen auszeichnet, sich jeglicher Setzung zu enthalten, durch den Willen, sich vor jeder These zu hüten, um für alle Thesen offen zu bleiben und sich keiner zu verpflichten, weil jede Äußerung partial sei und notwendigerweise die Vielfalt des Möglichen verrate“. (Billeter 2015). Tatsächlich lässt sich diese Uneindeutigkeit (die ja auch in allen anderen Sprachen möglich ist, was Billeter betont) durch die Jahrhunderte hindurch in China beobachten, doch sie ist laut Billeter weniger auf eine höhere Art von Weisheit zurückzuführen, denn auf Vorsicht gegenüber der herrschenden Macht. Es handle sich in philosophischer Hinsicht um einen Rückfall, der historisch datierbar ist. Bei dieser bedauerlichen Regression zur Uneindeutigkeit, die der Festigung der „kaiserlichen Ideologie“ diente, handle es sich um die „Verneinung der eigentlichen Funktion der Sprache und damit ihrer Autonomie“ (Billeter 2015). Als die eigentliche Funktion der Sprache sieht Billeter das Setzen eines eindeutigen Sinnes durch Setzen eines Satzes. Und autonom ist die Sprache insofern, als sie nicht bloß die Realität passiv spiegelt und abbildet, sondern ganz eigenständig und aktiv der Realität (die selbstverständlich immer viel mehr umfasst, als klare Begriffe erfassen können) einen Sinn aufprägt – somit eigentlich in gewisser Weise die „Welt“ erst erschafft. Diese Autonomie der Sprache begründet die Autonomie der Subjekte, begründet deren Möglichkeit, sich an bestehende Verhältnisse nicht nur anzupassen, sondern diese auch zu verändern.
Jullien will einsichtig machen, dass uns die europäische Syntax auf die Unterscheidung von handelnden oder erleidenden Subjekten und deren Objekten festlegt, während die chinesische Sprache eine solche Trennung und die Hervorhebung des individuellen Subjekts nicht unbedingt aufnötigt. Diese Umgehung des Subjekts ist Billeter zufolge aber nicht der Intention geschuldet, eine unheilvolle Partikularisierung und die Beschränkungen des Ich-Gefängnisses zu vermeiden, was ja Jullien als ein wesentliches Merkmal chinesischer Weisheit erkennt, sondern resultiert aus einer ganz anderen Absicht: nämlich dafür zu sorgen, dass die Individualität, dass das Ich sich überhaupt nicht entwickelt, sondern unterdrückt bleibt. Denn alle Menschen sind zuallererst Teil des Volkes, und das Volk hat zu gehorchen – und der Kaiser zu herrschen. „Die Selbstlosigkeit zugunsten der Totalität wurde zur Pflicht für alle. Das Ich war hassenswert.“ (Billeter 2015).
Julliens Interpretation des chinesischen Denkens als ein Denken der Immanenz, als ein Denken, welches kein Konzept von Transzendenz benötigt, stellt Billeter nicht in Frage. Er kritisiert aber, dass Jullien nicht nach dessen primärer Entstehungsursache fragt, die weniger im Philosophischen als im Politischen liegt. Tatsächlich wäre es nämlich ebenfalls dem Streben zu verdanken, die absolute Macht des Kaisers zu institutionalisieren. Ein reines Immanenzdenken nimmt nichts an, was über die gewöhnliche Erfahrung hinausgeht. Kein Gott, kein Jenseits, keine höheren Zwecke und Zielsetzungen, kein übergreifender Sinn haben hier Platz. Doch wenn die chinesische Philosophie in dieser Hinsicht zurückhaltend erscheint, dann – so Billeter – nicht weil solche Kategorien der chinesischen Sprache gänzlich fremd und unzugänglich wären, sondern weil die Sorge um diese Konzepte und Ideen in China völlig in die Hände der zentralen politischen Macht gelegt wurden. Der Einzelne sollte sich gar nicht Gedanken machen über seine individuelle Bestimmung oder über die Bestimmung des Weltenlaufs, darüber, wohin die Reise eigentlich gehen soll. Das übernimmt schon der Kaiser, die kaiserliche Macht vertritt den Willen der Transzendenz.
Billeter lehnt Julliens These von der Vieldeutigkeit als ein einzigartiges Charakteristikum der chinesischen Sprache rundweg ab. Potentielle Vieldeutigkeit im sprachlichen Ausdruck wäre in jeder Sprache präsent, doch jede hat auch das Vermögen, eindeutigen Sinn herzustellen. Wo chinesische Texte tatsächlich vieldeutig sind, wäre dies meist nur politischem Opportunismus zu verdanken. Grundsätzlich will aber der Sprecher in jeder Sprache einen eindeutigen Sinn im Satz zum Ausdruck bringen. Wir täten gut daran, auch die philosophischen Texte Chinas so zu lesen und zu übersetzen, meint Billeter.
Lassen wir uns dennoch auf Julliens Lesart ein, und auf seine Argumente, was es für eine Bewandtnis hat mit der Vieldeutigkeit in Chinas Sprache.