Schule des Rades
Dago Vlasits
Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades
Teil I – 4 Anspielend, mehrdeutig, poetisch, anregend
In früheren Zeiten war Kritik an den Mächtigen auch in Europa gefährlich, und ein gewisses Maß an Verstellung für kritische Geister immer notwendig. Aber letztlich wurden hier die schlimmsten Formen der Tyrannei überwunden. Es dürfte also in Europa immer schon größere Freiräume gegeben haben, die Billeter in der relativen Unabhängigkeit des europäischen Adels von der monarchischen Macht begründet sieht. Lässt sich aber die Wurzel dieser Freiheit nicht auch schon in der Unterscheidung von Gottesreich und Kaiserreich erkennen, die auf Jesus zurückgeht? Nur wenn Kirche und Staat getrennt, wenn geistige Autorität und Staatsmacht nicht verschmolzen sind, kann der Geist die Macht kritisieren, ohne sich verbiegen zu müssen. In Europa kam es zu dieser Gewaltenteilung, in China hat eine solche Trennung aber niemals stattgefunden.
Jullien zeigt auf, dass in China Kritik immer in einer indirekten, in einer der Schärfe beraubten Form vorgetragen wurde. Mehr noch, in der gesamten chinesischen Literatur wäre das Indirekte (und das Poetische als dessen Sprachmodus) allgegenwärtig. Untersucht man die Texte über Rhetorik und Argumentationskunst der alten Griechen, lässt sich nichts mit der in China gepflegten Art der Kommunikation Vergleichbares finden. Einzig die Sprüche des Orakels von Delphi, welche von den Dienern des Apollon an Städte und Könige verkündet wurden, sind von einer ähnlichen Indirektheit und Vagheit geprägt, konstatiert Jullien. In China hingegen geht das Verwenden des Indirekten sogar über das Reden in abmildernden Gleichnissen und Bildern hinaus, und gipfelt darin, dass durch Nicht-Aussprechen etwas gesagt, etwas zu verstehen gegeben wird. So kann etwa das Vortragen des Loblieds über eine Königin eine versteckte Kritik am König sein, einfach durch den Umstand, dass der König überhaupt nicht erwähnt wird. Und in der Weisheitstradition gilt dann schließlich auch das Höchste, das Dao, der wahre Grund und die Wirkkraft aller Erscheinung, als nicht aussprechbar. (In dieser Hinsicht besteht übrigens eine völlige Übereinstimmung mit der europäischen Mystik.) Ebenso wurde in einer Auseinandersetzung die Indirektheit gepflegt, denn wer seine Absichten nicht ganz transparent macht, behält seine Manövrierfähigkeit, weil der Gegner nie genau weiß, woran er ist. Deutlich wird diese Haltung bei der chinesischen Kriegskunst, welche nicht auf den direkten Angriff setzt, während etwa die Griechen vor allem die Durchschlagskraft der Phalanx präferierten.
Trotzdem betont Billeter, dass Europa und China im Grunde gar nicht so verschieden sind, wie Jullien es sehen möchte. Billeter schält bei seinen Übersetzungen das universell Gültige in der chinesischen Weisheit heraus – ein Herangehen und Deuten der Texte, das sie als spezifisch chinesisch ausweist, wie es in der Sinologie bis heute üblich ist, hält er für irreführend. Er widerspricht auch der unter Sinologen gängigen Auffassung, ein Text wie das Zhoungzi (so heißt die Textsammlung, die man Zhuangzi zurechnet) wäre letztlich unergründlich, eine richtige Übersetzung könne es daher gar nicht geben, bzw. alle Übersetzungen hätten ihre Berechtigung. Billeter ist der Überzeugung, die einzig richtige Übersetzung wäre die, welche den eindeutigen Sinn erfasst, den der Autor zum Ausdruck bringen wollte. Zhoungzi etwa hat für Billeter an den gleichen menschlichen Erfahrungen teil wie er, er sieht ihn wie sich selbst als philosophischen Menschen, der selbstständig denkt, die gleichen elementaren Beobachtungen macht und zu gleichen Schlüssen kommt. Also indem er ihn letztlich als Gleichen erkennt, kann er verstehen, was dieser sagen will.
Billeter spricht von der aufmerksamen Beobachtung „des unendlich Nahen und fast Unmittelbaren“, das prinzipiell jedem zugänglich ist, und von dem auch die alte chinesische Weisheitsliteratur handelt. Als Beispiel führt er in seinem äußerst empfehlenswerten Buch Das Wirken in den Dingen den von Zhuangzi erfundenen Dialog zwischen dem Prinzen Wenhui und seinem Koch an. (Erfunden, merkt Billeter an, da ein formloses Gespräch zwischen den Herrschenden und ihrem Gesinde im alten China völlig undenkbar war.) In diesem Dialog drückt der Prinz seine Bewunderung aus für die Gewandtheit, die der Koch beim Zerlegen eines Rindes an den Tag legt. Billeter erkennt in den Stufen des Lernprozesses, die der Koch dem Prinzen erklärt – vom anfänglichen Überwältigt-sein vom Lernpensum bis zur meisterhaften Spontaneität und schlafwandlerischen Sicherheit – dieselben Stufen, die jeder Mensch beim Meistern eines Gegenstandes durchläuft. Wie etwa ein Kind beim Erlernen des Radfahrens, das am Ende keines Nachdenkens mehr bedarf. So betrachtet erscheint die „Regulierung“, der Einklang mit dem „Lauf“, mit dem Dao, überhaupt nicht mehr als etwas, was man nur in China findet.
Billeter geht also vom Gleichen bei Chinesen und Europäern aus, Unterschiede, die Jullien für grundsätzlich und wesentlich hält, sind laut Billeter bloß unterschiedlichen politischen Zuständen geschuldet. Dies hätte Jullien zu wenig berücksichtigt. Jullien aber beharrt auf der Überzeugung, dass ein wesentlicher Unterschied besteht, der verursacht ist durch die von europäischen Sprachen abweichende Struktur der chinesischen Sprache. Und so überzeugend Billeters Einwände auch sind, als Leser ist man dann doch wieder einigermaßen geneigt, Julliens Erwiderung auf Billeters Kritik, dieser hätte ihn schlecht gelesen, zuzustimmen, wenn man in Umweg und Zugang. Strategien des Sinns in China und Griechenland (Jullien 2013) liest: „In China ist jeder Beamte ein ‚Poet‘: Die poetische Formulierung ist eine Gewohnheit des politischen Lebens, und nur die Mehrdeutigkeit des Bildes erlaubt es dem Gebildeten, sich zu schützen.“
Dass also die Tendenz der Chinesen, alles auf Umwegen, indirekt, zwischen den Zeilen und durch die Blume auszudrücken, immer auch durch Vorsicht motivierte Selbstzensur war, dessen ist sich Jullien sehr wohl bewusst. Er räumt ein, dass dadurch, dass Kritik immer nur als subtile, „poetisch geflüsterte Ermahnung“ daherkommen durfte – dass Kritik immer ein fragiles Gleichgewicht zwischen Aufrichtigkeit und persönlicher Rücksichtnahme war, (was sich kaum institutionalisieren lässt), und dass letztlich während der gesamten Kaiserzeit die Waagschale Richtung „Fügsamkeit“ ausschlug – dass durch „dieses dumpfe Einverständnis zwischen dem Gebildeten und der Macht“ die Entwicklung des kritischen Intellektuellen und der Demokratie, wie sie Europa hervorgebracht hat, bis heute in China gehemmt wird. Jullien spricht gar von der „Perversion des Indirekten“.
Dennoch teilt Jullien die Wertschätzung des Indirekten mit den Gebildeten Chinas. Denn über die besagte Schutzfunktion hinaus sprechen sie dem Indirekten, dem Umweg, der bloßen Anspielung – Jullien nennt es das Allusive – eine besondere Wirksamkeit zu. Für sie ist diese Wirksamkeit jener des direkten Ausdrucks, der die Dinge beim Namen nennt, überlegen – die Botschaft dringt auf diese Weise besser in den Adressaten ein (ohne aufdringlich zu sein), als bei einem konfrontativen Vorgehen. Eine durch die Blume artikulierte Kritik kann leichter angenommen werden, beim Gegenüber werden weniger Widerstände erzeugt. Aber mehr noch: das Indirekte, Poetische dient nicht nur der Entschärfung, dem Selbstschutz durch Verhüllung, sondern vielmehr ist es der Realität angemessener, enthüllt diese eigentlich erst. „Seine Logik ist allgemeiner, sie beschränkt sich nicht auf durch Zensur erzwungene Notwendigkeiten, sondern wurzelt im ‚Strukturprinzip der Dinge‘ (dem chinesischen li)“ (Jullien 2013). Das Poetische, als sprachliche Form des Indirekten, ist der Struktur der Realität angemessener als jeder direkte, eindeutige Ausdruck. Es ist also die Beschaffenheit der Realität selbst, welche dem Chinesen den poetischen Ausdruck als einzig richtigen nahelegt. Jullien zitiert dazu Shen Dequian aus dem 17. Jahrhundert:
„Wenn ‚es schwierig ist, eine Situation klar darzulegen‘, oder wenn ‚es schwierig ist, eine Ursache vollständig auszusprechen‘, ‚bettet man sie in äußere Gegebenheiten und geht per Analogie-Assoziation vor, um sie zu charakterisieren‘…“ (Jullien 2013).
Was sich hier wie eine technische Empfehlung für einen Sonderfall liest, scheint laut Jullien für den Chinesen als die Regel für den Normalfall zu gelten: Über die erscheinende Realität denkt er, dass sie in ihrem eigentlichen Wesen nicht artikulierbar, dass ihre wahre Ursache gar nicht aussprechbar ist. Sie lässt sich nur poetisch umschreiben. Um von ihr zu sprechen, weist er auf anderes hin, auf Analoges. Oder: Weil das Wesentliche der Realität nicht sagbar ist, spricht er von den Umständen, in die es eingebettet ist, bzw. die es „umspielen“. Er weist etwa auf die Natur und die Landschaft hin, in der analoge Prozesse ablaufen wie in der innerpsychischen und der sozialen Welt. Das Wesentliche ist nicht sagbar, es ist nicht fassbar, weil es nichts „Feststellbares“ ist, sondern sich jeden Moment, mit den wechselnden Umständen wandelt. Dieser Prozess organisiert sich aus einer Tiefe, der eine Ordnung entspringt, die wir niemals vollständig (in Worten) fassen können. Nur ohne Worte, oder indirekt, mit poetischen Worten können wir uns annähern. Der indirekte, poetische Zugang, der sich angesichts einer sich dauernd wandelnden Realität quasi aufnötigt, zeichnet sich aber nicht durch völlige Regellosigkeit aus, es gibt Konstantes im dauernden Wandel. Es ist in Form von poetische Chiffren, bzw. Formeln verfügbar, die sich in China im Laufe der Geschichte herauskristallisiert haben, wie bereits eingangs erläutert.
Die überragende Rolle des poetischen Ausdrucks, den Jullien in China verwirklicht sieht, zeigt sich ganz besonders im Stellenwert des Buchs der Lieder, einer Sammlung von Gedichten, die etwa ab dem 7. Jhd. vor unserer Zeitrechnung das politische Leben des chinesischen Adels geprägt hat. Bildung war damals gleichbedeutend mit dem Auswendigkönnen dieser Lieder, um sie bei passender Gelegenheit formelhaft anzuwenden. Wollte ein erster Offizier oder Minister seinem Herrscher, oder ein Fürst einem anderen ein Anliegen nahebringen, wurde ein Lied zitiert, das eine Bedeutung besaß, die der Bedeutung des aktuellen Anliegens glich. Dabei konnten etwa die Klagen und Leiden einer verlassenen Prinzessin aus ferner Vergangenheit, die ins Buch der Lieder Eingang gefunden haben, die missliche Lage des Volkes oder einer hilfesuchenden Partei zum Ausdruck bringen. Eine Zusage oder eine Zurückweisung wurde ebenfalls durch Rezitieren eines passenden Liedes oder einer Strophe daraus gegeben, bzw. wurden Lieder ausgetauscht, bis eine Entscheidung gefallen war. Man kam über eine Sache überein, ohne dass die konkrete Sache jemals direkt angesprochen wurde – nicht nur wegen momentan relevanter sozialer Rücksichten oder protokollarischer Zwänge, sondern auch, weil die Komplexität der sich in Wandlung begriffenen Wirklichkeit gar nicht direkt aussprechbar ist, bzw. weil der unbestimmte Ausdruck mehrere Optionen offen lässt, und das im Moment Optimale sich dadurch seinen Weg von selber bahnen kann.