Schule des Rades

Dago Vlasits

Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades

Teil I – 5   Eindeutiger Sinn und klare Begriffe

Jullien „montiert“ China als Europas eigentliches Gegenüber und Antipoden, als ein ihm völlig Fremdes, und bescheinigt dabei China eine größere Nähe zur Weisheit. Europa hätte diese verloren durch seine Konzentration auf die allgemeingültige Wahrheit und deren eindeutige begriffliche Definition. Da die Sphäre der Lebensweisheit dem eindeutigen Wort, für das Europa eine Vorliebe hat, nicht zugänglich ist, wurde sie ins „Unter-Philosophische“ abgedrängt. China hätte aber genau diese Sphäre kultiviert, hat über Weisheit nachgedacht und darüber gesprochen und geschrieben. Um dabei der prozesshaften Natur der lebendigen Wirklichkeit gerecht zu werden, wurde auf das Formelhafte zurückgegriffen. Dieses ist aber voller Unschärfen und damit für die Deutungsmöglichkeiten offen, wie sie der konkrete Moment erfordert. Jedoch: Eindeutigen, präzisen Sinn können natürlich auch chinesische Sätze ausdrücken. Bei Granet haben wir erfahren, dass den Partikeln, dem Sprechrhythmus und dem emotionalen Ausdruck syntaktische Funktionen zugeordnet sind, und selbst Jullien räumt ein, dass Chinesisch nicht gänzlich ohne Syntax auskommt. Person, Zeit, etc. wären zwar am Verb nicht zu erkennen, aber implizit im Satz doch vorhanden, äußerte auch ein befreundeter Sinologe zu mir, Arpad Romandy, dem ich auch den Hinweis auf Archie Barnes zu verdanken habe, welcher einen treffenden Ausdruck geprägt hat. Bezüglich des eindeutigen Sinnes chinesischer Sätze spricht dieser Autor von optionaler Präzision, welche in der chinesischen Sprache zur Auswirkung kommt. Trotz Vieldeutigkeit der Satzform legt der jeweilige Kontext (bzw. der Sprecher) eine von mehreren optionalen Bedeutungen fest – also eigentlich das, was Jullien als den eindeutigen Sinn bei europäischen Sätzen bezeichnet.

Wie anhand unserer bisherigen Beispiele aufgezeigt, ist zwar Jullien überzeugt, mit seinen eigenen Übersetzungen das formelhafte „Herunterspulen“ zu bewahren, und zu vermeiden, ins Ontologisieren und Personalisieren zu geraten. Aber auch er kommt nicht umhin, schließlich doch einigermaßen syntaktisch sinnvoll zu übersetzen. Handelt es sich hierbei doch nicht nur um ein Entgegenkommen, welches der europäischen Denkgewohnheit und Sprachstruktur Rechnung trägt, bzw. tut er das nur, weil er nun eben auf Französisch schreibt? Ist es nicht vielmehr so, dass sich Verstehen letztlich immer so vollzieht, wie ein Satz syntaktisch konstruiert wird, auch wenn der Text keine Syntax besitzt? Jeder wird wohl unweigerlich eine Wortreihe wie, „alt Buch Tisch liegen holen“, im Sinne einer eindeutigen syntaktischen Konstruktion verstehen, auch wenn dabei natürlich viele verschiedene Konstruktionen mit verschiedenen Subjekten in verschiedenen Fällen möglich sind. Man darf davon ausgehen, dass auch ein Chinese, wenn man ihm diese Wortfolge mitteilt, sie in der einen oder anderen Weise wie einen eindeutigen Satz auffasst – mag er nun statt des Buches auch den Tisch holen. Eine klare Syntax mag in der chinesischen Sprache nicht immer explizit zum Ausdruck kommen, bzw. in den klassischen Texten in Schwebe gehalten werden. Dass aber beim jeweiligen, situationsangemessenen, verstehenden Erfassen überhaupt keine „Syntax des Denkens“ im Spiel ist, kann man nicht behaupten. Etwas im menschlichen Geist – auch in China – muss wohl wie die „europäische“ Grammatik und Syntax beschaffen sein.

Also auch wenn eine Formel viele Deutungen und nicht nur eine Wahrheit umfasst, (und erst dadurch dem lebendigen „Moment“ entspricht, der verschiedene keimhafte Möglichkeiten umfasst), wird mir diese Formel dennoch im Augenblick bloß als ein Sinn einleuchten. Eine Formel kann man also als etwas begreifen, das viele syntaktische Sätze zu generieren vermag. Jeder von ihnen ist eine mögliche präzise Aussage, ein eindeutiger Sinn, der optional aktualisiert werden kann. Die Kraft der chinesischen Poesie und der chinesischen Weisheitsformeln liegt für Jullien darin, dass eben kein eindeutiger Sinn präferiert wird, dass der Sinn offen und in Schwebe bleibt, wodurch er in alle Richtungen anregen kann. Ist es aber nicht so, dass letztlich in einem Augenblick dann doch eine Richtung eingeschlagen, eine Entscheidung getroffen, ein Sinn gewählt wird, weil es ja immer darum geht, die für den jeweiligen Moment angemessene Interpretation und ein dementsprechendes Tun zu finden?

Bei einer solchen Betrachtung scheinen sich europäische Eindeutigkeit und chinesische Vieldeutigkeit gar nicht mehr gegenseitig auszuschließen. Und abgesehen davon lässt sich auch schon im alten China die explizite Hochschätzung des klaren Wortes finden. Konfuzius etwa antwortete auf die Frage, was seine erste Handlung wäre, sollte man ihm die Macht im Fürstentum Wei übertragen, mit: „die Richtigstellung der Begriffe“. Klingt das nicht sehr europäisch, wird da nicht Eindeutigkeit und Präzisierung verlangt? Jullien versucht auch diese Aussage im Geiste des Indirekten verständlich zu machen, indem er darauf hinweist, dass der hier geforderte präzise Begriff ja nicht das Wesen einer Sache bestimmen soll, sondern deren Funktion. „Denn die Namen beziehungsweise die Begriffe kodifizieren die Funktionen, und darauf beruht die Angemessenheit des Verhaltens“ (Jullien 2013). Doch um die Klarheit des Begriffs geht es hier dennoch. Bestenfalls distanziert sich Jullien hier von einem platonistischen Begriffsverständnis. Denn auch wenn man den chinesischen Sprachgebrauch eher als nominalistisch verstehen möchte, weil diese Sprache nicht das absolute, ewige Wesen einer Sache definiert, sondern momentane Funktionen zwischen den Dingen beschreibt, muss man einräumen, dass es also auch im Chinesischen die Forderung nach klaren Begriffen gibt. Was sonst sollte denn Konfuzius meinen, wenn er fordert, dass das Wort und dessen tatsächlicher Gebrauch übereinstimmen müssen, da sonst alles in Verwirrung gerät. Es könne nicht hingehen, so Konfuzius, dass die traditionelle Eckenschale fürs Opfern, die zu seiner Zeit längst rund, ohne Ecken produziert wurde, noch immer Eckenschale heißt. Bei einer fehlenden Übereinstimmung von Wort und Wirklichkeit gelingt die Regulierung der sozialen Prozesse nicht mehr. (Dabei verlangt Konfuzius übrigens die Rückkehr zur Produktion von Eckenschalen, und nicht die Einführung einer neuen Bezeichnung, wie etwa Rundschale.)

Jullien sieht auch in dieser Forderung nach klaren Begriffen kein Abweichen vom Indirekten, denn die klare sprachliche Bestimmung im Chinesischen wäre im Wesentlichen nicht definitorisch, sondern tautologisch. Die Tautologie, die eigentlich keinen Sinngewinn bringt, wird in der chinesischen Belehrung wirkungsvoll eingesetzt. Auf die Frage des Herzog von Qui, was denn Politik sei, antwortet Konfuzius: „Für den Fürsten, Fürst zu sein, für den Vasallen, Vasall zu sein; für den Vater, Vater zu sein; für den Sohn, Sohn zu sein.“ Ohne eine Majestätsbeleidigung zu begehen, weist Konfuzius den Herzog darauf hin, dass er gegenwärtig dabei sei (was damals alle wussten), seinen Sohn nicht als Nachfolger einzusetzen, wodurch er sowohl gegen die Vater- als auch gegen die Fürstenpflicht verstoßen würde.

Die Chinesen legen keinen Wert auf definitorische Wesensbestimmungen, meint Jullien, und obiges Zitat gibt ihm Recht. Hier wird nicht das Ur-Bild oder Ideal des Vaters formuliert, Konfuzius zeichnet dem Fragenden kein ideales Bild des Politikers, des Vaters oder der Politik, sondern seine Tautologien machen den konkreten Kontext bewusst, in welchem dieser als Fürst und Vater zurzeit steht. Offenkundig kann das aber nur funktionieren, weil der Adressat der tautologischen Auskunft eigentlich weiß, was etwa „Vatersein“ bedeutet. Er weiß es, weil es in Sitten, Bräuchen und Riten kodifiziert ist, mögen diese mit der Zeit auch etwas variieren oder an Achtung verloren haben. Offensichtlich ist in dem besagten Beispiel für alle klar, wie sich ein Vater oder ein Fürst zu verhalten hat. Man kann daher durchaus sagen, dass das chinesische Denken von impliziten Definitionen ausgeht. Es buchstabiert sie nur nicht aus, versucht nicht einmal ansatzweise sie zu präzisieren, um sich nicht im lähmenden Theoretisieren zu verlieren, und vor allem, um abträglichen Beschränkungen zu entgehen. Die Tautologie sagt zwar nichts Neues, fügt der Erscheinung, auf die sie sich bezieht, nichts hinzu. In ihrer Vagheit regt sie aber Entfaltungs- und Handlungsmöglichkeiten an – auch solche, die beim Geben einer präzisen, eindeutigen Definition ausgeschlossen sind, in einer konkreten Situation aber die eigentlich treffenden wären. Der Nachteil der Eindeutigkeit der präzisen Definition liegt also darin, dass sie das Denken in einer starren Weise lenkt, und die für eine konkrete Situation beste Handlungsoption gar nicht ins Bewusstsein dringen lässt. Was den Dialog zwischen Konfuzius und dem Herzog betrifft, würde ich allerdings meinen, dass es sich schlicht um einen Fall von mehr oder weniger subtiler Beeinflussung handelt, die man heute „nudging“ nennt.

Ob man nun in Konfuzius’ Forderung nach der Präzisierung der Begriffe eine Ähnlichkeit mit dem europäischen Eindeutigkeitsideal erkennt, oder nicht – das Indirekte scheint doch der bevorzugte Vermittlungsmodus der chinesischen Weisheitstradition zu sein, und wir müssen Billeters Einwand, die Betonung der Vieldeutigkeit wäre nur auf ein Missverständnis europäischer Sinologen zurückzuführen, nicht völlig zustimmen. Denn bei den alten Weisheitstexten geht es darum, eine Art energetisches Muster des Moments zu formulieren. Ein solches Muster, ein solcher sprachlicher Ausdruck ist keine Abstraktion eines Tatbestands, kein Wahrheitsurteil, kein „europäischer“ Satz eben, sondern dieses Muster, diese Formel ist so etwas wie das „energetische Profil“ der momentanen Situation. Chinesisch verfügt also über formelhafte Muster, die den momentanen Kontext (Zusammenhang) adäquat widerspiegeln. Dabei sind die Zeichen syntaktisch so lose zusammengefügt, dass der Satz ein Abbild für alle ähnlichen Situationen ist, und damit offen für diverse Möglichkeiten der Deutung und Aktualisierung. In klarster Form ist dies bei den Zeichen des I Ging realisiert. Als reine Linienstruktur sind sie an Strenge und Eindeutigkeit nicht zu überbieten, ihre sprachliche Ausdeutung ist aber äußerst variabel.

Dago Vlasits
Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades · 2019
Teil I – 5   Eindeutiger Sinn und klare Begriffe
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