Schule des Rades

Dago Vlasits

Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades

Teil I – 6   Die Zeichen des I Ging

Neben verschiedenen verstreuten Formeln, wie etwa jenen, die aus dem Buch der Lieder stammen und zum alten chinesischen Sprachschatz zählen, hat China eine vollständige, endlich viele Zeichen umfassende Systemik des „Moment-Denkens“ entwickelt, das berühmte Buch der Wandlungen. Alle möglichen Momente des Prozesses werden in diesem chinesischen Klassiker, dem ältesten Buch Chinas, durch 64 Linien-Hexagramme erfasst, die dann im Zuge ihrer Verwendung im Schafgarbenorakel sprachlich interpretiert und kommentiert wurden. Zum festen Bestand des I Ging gehören auch 64 sogenannte „Bilder“ – vorwiegend der Natur entnommen – die den 64 Hexagrammen zugeordnet sind.

Was eine mögliche ursächliche Herleitung der mathematischen Struktur der Hexagramme betrifft, vertritt der deutsche Sinologe Frank Fideler die These, dass es sich bei der Kombination der acht Trigramme zu vierundsechzig Hexagrammen um eine Formalisierung von astronomischen Verhältnissen handelt, namentlich um die acht Phasen des Mondwandels und um die sechs Positionshöhen der Sonne im Laufe des Jahres (Fiedeler 1996). Bemerkenswert ist auch die strukturelle Ähnlichkeit der Hexagramme mit den Doppel-Tripletts des genetischen Codes, welche 64 Kombinationsmöglichkeiten bereitstellen, um für Aminosäuren zu codieren. Auf diese Übereinstimmung hat Marin Schönberger hingewiesen (Schönberger 1973).

Wenn wir uns erinnern, dass die chinesische Poetik durch den direkten, den analogen und den anregenden Modus charakterisiert wird, stellen wir fest, dass sich die Linienstruktur des I Ging gar nicht so einfach mit einem der drei Modi identifizieren lässt. Sechs Linien sind auf jeden Fall keine direkte Beschreibung von etwas, und ihre anregende Wirkung ist mäßig. Ist die Linienstruktur eine Analogie? Sicher keine im landläufigen Sinn. Das Bild vom Baum auf dem Berg etwa, der durch diese Position widrigen klimatischen und geologischen Bedingungen ausgesetzt ist, sich aber dennoch beständig entwickelt und weithin für alle sichtbar ist, ist eine Analogie – etwa für ein ähnlich situiertes menschliches Leben. Doch das Diagramm aus sechs Stichelementen, zu denen das Bild vom Baum (Holz) auf dem Berg im I Ging gehört, das Hexagramm Nr. 53 , ist keine Analogie im üblichen Verständnis. Es erscheint einigermaßen rätselhaft, wie die Chinesen dieses geschlossene System von 384 Linien gefunden haben, welches ein durchgehendes Strukturprinzip sichtbar macht, das in der natürlichen wie auch in der menschlichen Welt wirksam ist. Wir werden weiter unten noch auf die Diagrammatologie als Grundlage des Denkens noch näher zu sprechen kommen. Von dieser neuen philosophische Disziplin her betrachtet, erscheint die Schaffung eines solchen Liniensystems nicht mehr ganz so verwunderlich. Auf dieser Argumentationslinie wird dann auch verständlich, dass das Mathematisch-Geometrische, wie es sich in den Hexagrammen zeigt, die eigentliche Grundlage des analogen Denkens, also das unbewusst leitende Ordnungsprinzip bei jeglicher Analogiebildung ist.

Sind also die Linienstrukturen des I Ging, die auf jeden Fall ein geometrischer und arithmetischer Formalismus sind, auch so etwas wie mathematische Archetypen, eine im Jenseits oder im Unterbewussten angesiedelte Metaebene von Ur-Formen, die die erscheinende Wirklichkeit organisieren? So etwas lehnt Jullien prinzipiell ab, er spricht von einer Typologie, das erinnert wohl weniger an wirkende Mächte aus einer numinosen „Hinter-Welt“. Für ihn bilden die Hexagramme keinen „archetypischen Hintergrund“ ab, sondern sie hätten bloß die Fähigkeit der „Figuration“ – chinesisch xiang. Dieser Begriff bezeichnet im I Ging laut seiner Auskunft „die Fähigkeit der aus ganzen oder durchbrochenen Linien bestehenden hexagrammatischen Figuren, eine Idee oder eine Situation zu repräsentieren“ (Jullien, 2013).

Jedes Hexagramm besteht aus sechs übereinanderliegenden Linien, die ganz oder gebrochen sind, also yang oder yin symbolisieren. Die sechs Positionen repräsentieren Machtverhältnisse am Fürstenhof oder in der Familie, oder Kräfteverhältnisse in der Natur (die ihrerseits wieder Analogien für die menschliche Welt darstellen). Jullien meint, dass ein „Moment“ immer eine dieser Linien ist, welche mit fünf weiteren Linien einen sechsfältigen, sich wandelnden Zusammenhang bilden. Dieses geometrische Gebilde ist ein formales Abbild des Energieflusses, bzw. eine mögliche Konstellation von sich wandelnden Umständen, wobei sich jedes Hexagramm prinzipiell in jedes andere verwandeln kann. Doch wie das alles sprachlich gedeutet wird ist variabel, ist gefärbt und abhängig von der jeweils konkreten Situation.

Das I Ging ist ein Weisheitsbuch und fand und findet vor allem auch Verwendung als Orakel, als Werkzeug der Divination, um das Potential eines Moments, also seine günstigen Gelegenheiten und Hemmnisse zu erkunden und als Entscheidungshilfe zu dienen. Dazu sei angemerkt, dass gerade die Orakelpraxis ohne ein handelndes und entscheidendes Subjekt, ohne ein Ich nicht denkbar ist. Allerdings ist dieses Ich eines, das sich im Moment der Orakelbefragung aufgibt, sich nicht auf sein Wissen verlässt, sich als bedingt durch ein größeres Ganzes begreift und auf dieses einzustimmen sucht. Bei der I Ging-Befragung geht es darum, ein Abbild der momentanen Situation in Gestalt eines Hexagramms zu erhalten, was durch den sechsmaligen Wurf von drei Münzen, oder durch eine etwas aufwändigere Teilungsprozedur mit 50 Schafgarbenstängeln erreicht wird. Man überlässt es also dem Zufall, die richtig Antwort zu geben. (Eine solche Prozedur rechnet die moderne, die europäische Vernunft einer überwundenen Mentalitätsstufe zu und verwirft das Ganze als irrationalen Unsinn.) Das Erstaunliche daran ist aber, dass die Antwort dann gar nicht so zufällig zu sein scheint. Denn jeder, der sich ernsthaft mit dem I Ging auseinandersetzt, kann erkennen, dass das so gewonnene Hexagramm tatsächlich mit der Thematik der aktuellen Lage in Übereinstimmung ist. Was vollzieht sich bei einer solchen Divination? Falls es sich bei den alten Chinesen und den heutigen Orakelbenützern nicht nur um leichtgläubige Schwärmer handelt, die sich da etwas einreden, muss wohl etwas anders im Gange sein. Offenbar wirkt der „Moment“, die momentane Situation wie eine Art „Energiefeld“ auf die Münzen oder Schafgarben, wodurch dann ein Abbild der Situation in Form des Hexagramms erzeugt wird.

Am I Ging und seiner Rolle im Leben der Chinesen wird der Unterschied von europäischen und chinesischen Denkzugang ganz besonders deutlich. Beide erkennen Gesetzmäßigkeiten und leiten ein Wissen daraus ab. Während der europäische Geist die abgegrenzten Tatsachen durchdringt, daraus ein Wissen generiert und dann mittels der Abstraktionen planend und konstruierend gleichsam die Wirklichkeit erschaff, weiß sich der chinesische Geist von einer Wirklichkeit umgriffen, auf die er sich einstimmen, mit der er in Resonanz sein will. Er will im Einklang mit ihren Prozessen wirken. Diese lebendige, gerade sich vollziehende Wirklichkeit ist in keinem „Vor ab-Wissen“ abgebildet, und ihre wirkenden Gründe sind dem Menschen nicht so ohne weiteres einsehbar. Da also die Handlungsdirektive nicht (allein) aus einem Wissen der Vergangenheit gewonnen werden kann, muss sich der Geist öffnen für die momentan wirkenden Ursachen, um aus ihnen die Richtung des Handelns zu gewinnen. Um diese Offenheit zu erreichen, gebraucht der chinesische Geist die Divination als Werkzeug, ein Vorgehen, das dem modernen europäischen Geist mehr als befremdlich erscheint.

Dago Vlasits
Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades · 2019
Teil I – 6   Die Zeichen des I Ging
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