Schule des Rades

Dago Vlasits

Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades

Teil I – 7   Das Vorausgesetzte und Vorgefaltete

Mit der Bemerkung, „Ich habe Chinesisch gelernt, um besser Griechisch lesen zu können“ (Jullien 2008), bringt Jullien seinen Zugang zur Philosophie auf den Punkt. Die „Faltungen, in denen sich jegliches Denken vollzieht, sind durch die verwendete Sprache verursacht und bedingen die Eigenart einer Kultur. Und man könne sich der eigenen Faltungen, der eigenen Bahnungen und „Wagenspuren“ nur bewusst werden, wenn man beginnt, in den Faltungen einer anderen Denkweise zu denken. In der Begegnung mit China hätte man die Chance, zu erkennen, dass unsere grundlegenden, zugleich unreflektierten Selbstverständlichkeiten dort nicht gelten. So hat die Grammatik der indoeuropäischen Sprachen bestimmte Grundbegriffe hervorgebracht – Sein, Subjekt, Gott, Substanz, Attribut, Kausalität, Wahrheit, etc. – deren Passformen den Entwicklungsverlauf der in Europa entstandenen Philosophie immerfort bestimmt haben. Diese Begriffe und die damit verknüpften Fragen werden hingegen in der chinesischen Philosophie gar nicht behandelt, (die daher eigentlich keine Philosophie im europäischen Sinne wäre, und von Jullien als „das Andere der Philosophie“ und als „Anti-Philosophie“ bezeichnet wird), denn die klassische chinesische Sprache kennt solche abstrakte Begriffe gar nicht. Daher warnt er davor, chinesische Weisheitslehren mit den Kategorien der europäischen Philosophie erfassen zu wollen. Außerdem bedingt ein solches Vorgehen, dass man sich bloß des Immer-schon-Gewussten versichert, wodurch für Jullien vor allem ein entscheidendes Moment des Philosophierens nicht wirksam wird, nämlich „jede Sättigung-Befriedigung in Unruhe versetzen“.

Lange vor Jullien hatte schon Granet europäische Interpreten kritisiert, sie würden chinesische Grundbegriffe den europäischen gegenüberstellen, und jene dann als prä-logisch und bloß mythisch abqualifizieren. Begriffe wie Dao oder Yin und Yang sind aber mit europäischen Abstrakta überhaupt nicht vergleichbar, sondern wären konkrete „Sammelbegriffe“, die zentrale Leitvorstellungen zum Ausdruck bringen. Es handelt sich dabei um sogenannte Embleme (auch Zahlen, Farben, Raumrichtungen und Jahreszeiten gelten in China als Embleme). Bei diesen wird gar nicht versucht, sie exakt zu definieren, aber sie werden als etwas gedacht, das mit einer Wirkkraft ausgestattet ist. Dao ist nicht als „erste Ursache“ zu definieren, und Yin und Yang decken sich nicht etwa mit den Begriffen „Aktualität“ und „Potentialität“ der europäischen Philosophie. Dao steht für „die Einheit und Ganzheit einer gleichzeitig idealen und tatsächlichen Ordnung“, und was das Paar Yin und Yang betrifft, so hätten die Lehrer aller Schulen danach getrachtet, mit ihrer Hilfe „die Vorstellung eines gleichförmigen Rhythmus mitzuteilen, die es ihnen erlaubt, Beziehungen zwischen Zeit- und Raumabschnitten und Zahlen zu entwickeln, die als ein Zusammenwirken gegenseitig bedingter Bewegungsabläufe aufgefasst werden.“ (Granet 1963)

Jullien fordert uns auf, unser Gewohntes zu verlassen, „sich einzulassen“ und China von dessen Voraussetzungen her zu verstehen. Dafür müssten wir uns aber über unsere eigenen Voraussetzungen klar werden, was nur gelingt, wenn wir uns eben „anderswo umschauen“, uns auf die Reise begeben und zum Eigenen und Vertrauten auf Distanz gehen. Nur in der Begegnung mit dem Fremden und ganz Anderen wird uns überhaupt erst bewusst, wie die europäischen Kategorien unser Denken in (allzu enge) Bahnen lenken, und können wir erst erkennen, was wir kaum als einen ebenso möglichen Weg in Betracht gezogen haben. Auf dem „Umweg über China“ und eine darauffolgende Rückkehr zum Eigenen, über den gewonnenen „Abstand“ könnten wir etwas über uns lernen, uns unseres unhinterfragten Grundstocks von Vor-Erwartungen und Vor-Urteilen, uns all der unangezweifelten Voraussetzungen und ungedachten Möglichkeiten bewusst werden.

Unser eigener Grundstock an Voraussetzungen wäre hebräisch und griechisch, wobei Jullien den einen Entwicklungsstrang als theologisch, den anderen als mythisch bezeichnet. Theologische und metaphysische Spekulationen über Gott, und mythische Narrative über die Weltschöpfung – was beides in China nur schwach ausgeprägt sei – sieht er in Europa dominieren. Für das (hebräische) theologische Denken Europas ist demnach also typisch, dass ein „Draußen“ als Träger von Transzendenz vorausgesetzt wird, und im (europäisch/griechischen) mythologischen Denken wiederum sieht man Spannungsverhältnisse in Szene gesetzt, die zwischen den durch sexuelle Zeugung entstandenen Göttergestalten bestehen. Diese Spannungsverhältnisse erklären symbolisch das Geschehen in der Welt, deren Schönheit und Dramatik.

Die Vorstellung von einem transzendenten Gott einerseits, welcher Ursprung und Ziel aller Subjekthaftigkeit und Ursprung allen Sinnes ist, und andererseits die Vorstellung eines Spiels göttlicher Kräfte, welche die sinnliche Welt hervorbringen, bilden also die konzeptuelle Matrix der kulturellen Schöpfungen Europas. Das Verhältnis von Ich und Gott, (das in China nie Thema war) und die Suche nach dem einenden, dem vollendenden Sinn, der das zeitlich und räumlich Getrennte und Zerteilte, das Gebrochene, das Chaotische zur Ganzheit fügt, verdanken sich dem Umstand, dass die Grammatik der europäischen Sprachen über Subjekte und Objekte, Attribute, Zeiten, Geschlechter, etc. verfügt. Genauso ist diese Partikularisierung durch die Sprache dafür verantwortlich, dass Europa Wissenschaften über eine objekthafte Natur entwickelt hat. Die Subjekt-Objekt-Spaltung, welche das Bewusstsein in Europa prägt und auch die selbstverständliche Voraussetzung der naturwissenschaftlichen Methode ist, hat seinen Ursprung in der europäischen Satzstruktur. Wenn man aber innerhalb des Paradigmas der Subjekt-Objekt-Spaltung denkt, hat man einerseits eine objektive, methodisch erforschbare Welt vor sich, und andererseits ein Subjekt, das für die wissenschaftliche Methode kein materielles Objekt darstellt. Obwohl also durch die spezifische Sprachstruktur konstelliert, gerät das Ich im naturwissenschaftlichen Denken dann doch zu einer Fragwürdigkeit. In Europa wurde daher dieses Subjekt entweder Gegenstand der metaphysischen Spekulation und letztlich als in Gott gegründet erachtet, oder zu einem Nicht-Existenten erklärt, wie das immer wieder durch materialistische Vertreter der Naturwissenschaften geschieht.

Durch diese Leugnung der Realität des Subjekts wird man auf jeden Fall dem monistischen Ideal der Naturwissenschaft gerecht. Denn alles auf eine fundamentale Substanz oder Einheit zurückzuführen war immer schon Teil des europäischen Programms, von mystisch-spiritueller und idealistischer Seite, als auch seitens der Naturwissenschaft. Die Suche nach einer einheitlichen Beschreibung der Natur, was ja die Naturwissenschaften kennzeichnet, legt die Überwindung des Dualismus zwingend nahe. Eine grundlegende Dualität von Geistigem und Materiellen, bzw. Subjektivem und Objektivem ist ja schließlich unhaltbar in einer monistischen Weltanschauung, wie sie die Naturwissenschaften zu liefern bestrebt sind. Ob als die eine Ur-Sache aber unbedingt die als geist- und subjektlos geltende Materie verstanden werden muss, darf bezweifelt werden. Tatsächlich ist das Bekenntnis zum Materialismus eine freie Entscheidung. Er ist genauso eine metaphysische Position und ein Glauben, ist genauso wenig durch Logik oder Empirie zwingend gegeben, wie Gott, der Grund und die Ursache von allem beim idealistischen oder mystischen Monismus.

China denkt kein Subjekt, das von seinen Objekten – oder genauer: von seinen Umständen – getrennt ist, beides existiert nur als Zusammenhang. Erkennbar wäre diese chinesische Voraussetzung daran, dass im Satz kein explizites Subjekt gekennzeichnet wird, was eine ebenso tiefgreifende Auswirkungen auf das Weltbild hatte, wie die Subjekt-Objekt-Struktur des europäischen Satzes, meint Jullien. Durch diese „Subjektlosigkeit“ hätten weder das Ich noch Gott eine besondere Bedeutung gewonnen. Und keine Gebote und kein Heilsziel der nach Erlösung strebenden Seele charakterisieren Chinas Weisheit, sondern das Streben nach momentaner Einstimmung auf den Prozess des Lebens, ohne dabei die Ganzheit der Wirklichkeit in Diesseitiges und Transzendentes auseinander zu reißen. Denn Geist und Materie, „dasVergeistigendeund dasMaterialisierende‘“ – oder besser, laut Jullien näher an der chinesischen Formulierung: „der beseelende Hauch und die verdinglichende Opazität“ – sind nicht auf verschiedenen Ebenen angesiedelt, Yang und Yin bilden die „doppelte, zusammenhängende Dimension jedes Prozesses“ (Jullien 2015). China hat also die Natur nicht als individuelle Körper in Bewegung gedacht, sondern als ein sich dauernd wandelndes energetisches Kontinuum, und nahm daher „die Phänomene des Einflusses und der Transformation“ in den Fokus: „Das yin verdichtet sich, während das yang sich ausbreitet ; jenes stützt sich auf dieses, um ‚sich zu entfalten‘, und dieses ‚bekommt‘ jenes, um sich zu ‚materialisieren‘; wenn das eine wächst, nimmt das andere ab, in reguliertem Wechsel.“ (Jullien 2010)

Diesem regulierten Wechsel und Wandel galt die ganze Aufmerksamkeit der chinesischen Denker. In einem europäischen Satz wird der Sinn eines Seienden „festgestellt“ – Wirklichkeit ist das, was ist. Im Zentrum des chinesischen Denkens steht aber nicht das Wesen des Seins und des Seienden, sondern die „Prozessivität“, eine unpersönliche und unmittelbare Wirksamkeit, die sich als „Wandlung-Veränderung“ in allem Erscheinenden zeigt. Chinesisches Denken betrachtet das Werden, ist der Europäer vielleicht geneigt zu sagen, doch Jullien verbietet, das Konzept der dauernden Wandlung mit dem europäischen Begriff des Werdens gleichzusetzen – es wäre ein Irrtum, „das Denken des ‚Laufs’ in China unter jenes des ‚Alles fließt’ von Heraklit einzureihen“. Denn China hat nicht die abstrakte „Zeit“, also die Erstreckung der Ereignisse von der Zukunft über die Gegenwart in die Vergangenheit, nicht das Leben als Strecke und als Abgeschlossenes zwischen Geburt und Tod gedacht, sondern den „kontinuierlichen Übergang“; ebenso nicht den ausdehnungslosen Augenblick (auf der Zeitlinie), der ein Nichts ist, und vom Noch-nicht ins Nicht-mehr wandert. (Laut Jullien eine eigentlich denkunmögliche Vorstellung, durch welche „die Zeit“ für Europa immer ein unfassbares Mysterium bleiben würde). Sondern China hat den „Moment“ gedacht, der immer einem Prozess angehört. Ein Prozess ist etwas, das keinen Anfang und kein Ende hat, in jedem Moment des Prozesses gibt es aber „etwas das kommt“ und „etwas das geht“ – simultan. Vor allem aber ist das Subjekt keine von diesem Prozess abgehobene, gesonderte Größe: „Denn auch ‚ich´ bin in all meinen Existenzbekundungen, inneren ebenso wie äußeren, eine momentane Aktualisierung dieses Dynamismus oder dieses Drangs, der sich überall ausbreitet, sich einbringt, interagiert und die Energie kommunizieren lässt“. (Jullien 2015)

Jullien greift zum prägnanten Schlagwort von der „chinesischen Formel“ und dem „europäischem Werkzeug“, um die beiden unterschiedlichen Voraussetzungen zu charakterisieren. Werkzeug ist für ihn alles „was dazu dient, im Denken zu konstruieren“, Formel hingegen nennt er einen sprachlichen Ausdruck, dem eine Skizzenhaftigkeit und nackte Funktionalität eignet, durch die er „endgültig ist und sich nicht mehr ändern muss“, (Jullien, 2015). Anders als das europäische, ist das chinesisches Denken also nicht darauf aus, immer neuen Sinn zu schaffen oder zu entdecken und somit werkzeughaftes Wissen zu gewinnen, dessen sich das autonome Subjekt bemächtigt, sondern sucht den Einklang mit dem natürlichen Geschehen, ohne ein partikuläres Ich zu betonen und dadurch den Menschen unglücklicherweise aus dem Zusammenhang mit der prozesshaften Wirklichkeit zu reißen.

Dago Vlasits
Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades · 2019
Teil I – 7   Das Vorausgesetzte und Vorgefaltete
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