Schule des Rades

Dago Vlasits

Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades

Teil I – 8   Zwei Auffassungen von Zeitlichkeit

Müssen wir Chinesisch lernen, um „chinesisch“ zu denken? Diese Last bürdet uns Jullien nicht auf, verlangt aber von uns, sich mit den Grundzügen der chinesischen Sprache vertraut zu machen und führt anhand des ersten Satzes des I Ging in die chinesische Sprache und somit Denkweise ein. Besagter Satz handelt vom „Anfang“. Jullien beleuchtet ihn, wie er sagt, von innen, von den chinesischen Voraussetzungen her, wie auch von außen, von der Art und Weise, wie der „Anfang“ im Hebräischen und im Griechischen gedacht wurde.

In der Genesis heißt es, „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde, die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Gott sah, dass das Licht gut war. Gott schied das Licht von der Finsternis und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht.“ Hier wird ein gründendes, inaugurales Ereignis, somit ein Schnitt und Bruch, eine Diskontinuität beschrieben; ein transzendentes Subjekt, Gott, der nicht selber Teil der Welt ist, erschafft die Welt, die vorher nicht war. Dabei wird ein wertendes Urteil gefällt, eine Scheidung, ein Unterschied gemacht und es werden Namen festgelegt.

Bei den Griechen wiederum besteht von Beginn an ein Bewusstsein, dass der „Anfang“ etwas Ungewisses, Problematisches ist und das Denken herausfordert. Durch zwei Arten des Anfangs drückt sich das bei Hesiod (vor 700 v.Chr.) aus. Er fängt an mit „Lasst mein Lied mich beginnen von helikonischen Musen …“, und fährt später fort mit, „Wahrlich, als erstes ist Chaos entstanden, doch wenig nur später / Gaia, mit breiten Brüsten, aller Unsterblichkeit ewig / sicherer Sitz […] / wie auch Eros, der schönste im Kreis der unsterblichen Götter: / Gliederlösend bezwingt er allen Göttern und allen / Menschen den Sinn in der Brust und besonnen planendes Denken“ (Jullien 2015). Noch vor seiner Darstellung der Theogonie, der Entstehung der Götter, beginnt Hesiod mit der Erwähnung der eigenen Autorschaft. Er beruft sich zwar auf die ihn inspirierenden Musen, um aber dann doch seine eigene Aussage zu riskieren, im Bewusstsein, dass die Selbstoffenbarung der Musen lautet: „… täuschend echte Lügen wissen wir zu sagen, / Wahres jedoch, wenn wir wollen, gleichfalls zu künden“. Für Jullien zeigt sich schon in diesem frühen schriftlichen Zeugnis griechischer Geistigkeit der Charakter europäischen Denkens und Philosophierens, das am Problematischen ansetzt, nach dem Ursprung, nach den Ursachen und der Wahrheit forscht.

Um die europäische Stoßrichtung noch mehr zu verdeutlichen, sei noch hinzugefügt, dass etwa ein Jahrhundert nach Hesiod dann der erste Philosoph, Thales von Milet (um 624 v. Chr. – um 547 v. Chr.), der den Auftakt der ionischen Aufklärung bildet, nicht mehr von Göttergeburten und inspirierenden Musen spricht , sondern von ewigen, absoluten und allgemeinen Wahrheiten, wie der, dass alle Winkel im Halbkreis rechte sind. Und was den Anfangsgrund betrifft, meinte er sinngemäß: „Das Wasser ist die Ursache von allem.“ Inhaltlich nicht richtig, gleicht diese Aussage aber heutigen naturwissenschaftlichen Erklärungen und Begründungen – etwa wenn der Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman (1918- 1988) antwortet: „Alles besteht aus Atomen“ – auf die Frage, was er denn als wichtigste Erkenntnis der Menschheit an Außerirdische mitteilen würde.

Thales sucht nach empirischen Erklärungen der Naturphänomene, und ist somit der Urahn der modernen Naturwissenschaften. Dennoch leugnet er die Gottheit nicht. Doch dieses Göttliche erscheint vor unserem Auge gleichsam teilchenhaft zerstoben im Kosmos, wie ein von Subjekten erfüllter Raum, wenn er verkündet: „Alles ist voll von Göttern“.

Wie spricht China über den Anfang? Der Satz über den „Anfang“ lautet im I Ging, in Julliens Übersetzung: „Beginn – Aufschwung – Profit – Geradheit“, was sich alternativ auch in Verbform, als „beginnen – aufstreben – profitieren/Nutzen ziehen – aufrecht (solide) bleiben“ übersetzen lässt. Hier gibt es kein handelndes, kein weltenschaffendes (auch kein forschendes) Subjekt, keine dramatische Geschichte wird konstruiert, und kein besonderer Fall wird hervorgehoben. Der Satz meint nicht so sehr ein besonderes Ereignis, nicht etwa den einzigartigen Augenblick der Weltschöpfung, sondern charakterisiert das Prozesshafte an sich – keinen absoluten Anfang, sondern einen Ablauf, der in seiner Kontinuität immer schon besteht.

Diese vier Zeichen – ein sogenanntes Urteil über das erste ( ) der 64 Hexagramme des I Ging, die von König Wen vor 3000 Jahren mit solchen Urteilen versehen wurden – hat Richard Wilhelm, mit „erhaben – Gelingen – fördernd – Beharrlichkeit“ übersetzt, und daraus „Das Schöpferische wirkt erhabenes Gelingen, fördernd durch Beharrlichkeit“ gemacht, also einen sinnvollen deutschen Satz. Jullien vermeidet das, und übersetzt auch den Namen des ersten Hexagramms nicht wie Wilhelm mit „das Schöpferische“, sondern mit „initiatorisches Vermögen, dem das „rezeptive Vermögen“ gegenübersteht, das von Wilhelm als „das Empfangende“ bezeichnet wurde. Jullien betont die Unabhängigkeit der vier Wortzeichen, da nichts zwischen ihnen eine Beziehung der Neben- oder Unterordnung markiert, keine Syntax vorhanden ist, und schließt daraus, dass ein solcher Satz keinen Sinn transportiert und keine Definition darstellt. Und doch ließe sich aus ihrer Reihung eine Ordnung, eben ein Zusammenhang erkennen, welcher die vier etwa auch als Frühling, Sommer, Herbst und Winter lesbar macht, mit weiteren möglichen Assoziationen. Jullien schreibt:

Wie man sieht, konstruiert ein solcher Eröffnungssatz nicht, er begnügt sich damit, zugleich loszulösen und zu verketten. Jedes nächste Wort löst das vorhergehende ab und lässt es zur Entfaltung kommen, es geht aus ihm hervor, erneuert es und trägt es weiter – so wie vier Punkte oder Steine auf dem leeren Damebrett, die allein schon eine Kurve zeichnen“ (Jullien 2015).

In den ersten Zeilen des I Ging steht also weder ein dramatisches oder mythisches Narrativ, noch ein logisch streng geknüpfter, sinnvoller Satz, sondern eine Formel. Sie „konstruiert nichts, spekuliert und riskiert nicht(s)“ (Jullien 215), behauptet so wenig, dass ihr nicht widersprochen werden kann. Sie ist so selbstverständlich, dass sich die Frage nach ihrer Wahrheit gar nicht stellt. Keine Handlung eines Akteurs und kein Ereignis werden dabei beschrieben, sondern ein Prozess, den alles Erscheinende durchlaufen muss, wenn es ein Erscheinendes sein will. Jullien fragt, ob uns Europäer so etwas „Nichts-Sagendes“, etwas so Ziel- und Leidenschaftsloses denn überhaupt interessieren kann. Es würde nichts Besonderes, nichts Einseitiges aufweisen, dem man eine andere Position gegenüberstellen könnte, unsere forschende Kritik findet keinen Angriffspunkt, prallt daran ab. Es sollte uns aber interessieren. Daher ist Julliens ganzes Werk ein Plädoyer für die Beschäftigung mit dem chinesischen Denken, und lässt den europäischen Geist als mangelhaft erscheinen, da diesem etwas dem chinesischen Weltverständnis Adäquates fehlt, oder in ihm zumindest nur schwach ausgeprägt ist. Es berücksichtigt eben nicht den momentanen, konkreten Lebensprozess mit seinen vielfältigen Wandlungen und Wendungen. Diese buchstäbliche „Lebensferne“ zeigt sich vor allem darin, dass die Körperlichkeit des Menschen völlig missachtet wird: „… hat man nur einen Gedanken dem Atmen gewidmet (über das China unaufhörlich nachgedacht hat)?“ kritisiert Jullien. Ausatmen und Einatmen ist unser unmittelbarster Anschluss an das zwischen Yin und Yang pulsierende Chi (qui), wie das energetische Kontinuum im Daoismus bezeichnet wird.

Wie bereits erwähnt, charakterisiert Jullien die chinesische und die europäische Vorstellung von Kohärenz durch zwei unterschiedliche Zeitkonzepte: Der Sinn entfaltet sich zwischen Anfang und Ende, der Zusammenhang besteht jeden Moment. Sinn impliziert immer ein Ziel, ein Ende, wie es etwa bei einer abgeschlossenen Geschichte oder eben bei einem abgeschlossenen Satz erkennbar ist. Das paradigmatische Modell für den Zusammenhang, den chinesische Sätze abbilden, ist hingegen das Jahr, die „Jahreszeit“, die andauernde Wandlung der vier Jahreszeiten ineinander, die keinen Bruch, keine absolute Trennung von Beginn und Abschluss aufweist.

In seinem Buch Über die „Zeit“ (Jullien 2010) stellt Jullien die seiner Ansicht nach „verstörende“ und in dieser Radikalität bislang noch von niemandem gestellte Frage: Müssen wir überhaupt „Zeit“ denken, brauchen wir unbedingt den Zeitbegriff? Die Frage ist in der Tat verstörend, da es doch evident scheint, dass wir „in der Zeit“ leben. Leben wir denn nicht zwischen Geburt und Tod, hat nicht alles einen Anfang und ein Ende, können wir denn so etwas wie den Sinn überhaupt verstehen, wenn wir nicht das, was sich zwischen einem Beginn und einem Abschluss entspinnt, zu einer geschlossenen Gestalt zusammenfügen? China hat auf einen solchen Zeitbegriff verzichtet, ist Jullien überzeugt. Die „Zeit“ wäre den europäischen Sprachen inhärent, in der Konjugation werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterschieden. Hingegen würde durch Verzicht auf die Konjugation die chinesische Sprache es vermeiden, Futur, Präsens und Vergangenheit auseinander zu reißen und gegeneinander zu stellen. China hat weder „Körper“ in „Bewegung“ gedacht (was in Europa die Entwicklung der Physik ermöglicht hat), noch dachte es die Entgegensetzung von Zeitlichem und Ewigen, oder von Werden und Sein, was in Europa die metaphysische Spekulation befeuert hat. China hat nicht die abstrakte, dreiteilige „Zeit“ gedacht, (die eigentlich nicht ist, bzw. nur ist, wenn sie im Vergehen ist – eine Aporie, die das europäische Denken stillschweigend mit Routine überspielt, bemängelt Jullien,) sondern hat die „Dauer“ bzw. den „Moment“ gedacht. Über die Auswirkung der beiden unterschiedlichen Denkweisen auf die Einstellung zum Leben insgesamt, meint er:

Der SINN appelliert, spornt an; er wurzelt im Mangel, geht auf ein Jenseits, deutet auf Abwesendes oder Unbekanntes hin. Daher provoziert er Spannung, reagiert auf Unruhe. Was nun den ZUSAMMENHANG betrifft, so begeistert er (sich) nicht; er will nichts Verborgenes entdecken, beschneidet nichts, kein Spannen, kein Streben; er baut keine Erwartungshaltung auf und rührt nicht. Er ist untrennbar von dem, was in China traditionell so prägnant ist, in unserer Kultur jedoch so rundheraus abgelehnt wird: dem Ritual, das als einziges derart auf das bedacht ist, was richtig (‚auf rechte Weise‘) funktional ist.“ (Jullien 2015)

Man könnte einwenden, dass das, was Jullien hier über den Sinn sagt, doch eher nur für das Fehlen von Sinn gilt, für die Suche danach, für die (der Beunruhigung entspringende) Frage nach ihm. Sinn, wenn er einmal gefunden und verstanden ist, kann man wohl nur insofern als beunruhigend erleben, als sich auf jede Antwort auch weitere Fragen ergeben können. Doch an sich führt Sinn zur Ruhe, die auf das Vollenden folgt – wenn eine Frage beantwortet, ein „Schluss“ gefunden ist. Dass Sinn also auch Stille und inneren Frieden bedeutet – zumindest für einen Augenblick – oder die Freude der Erkenntnis mit sich trägt, ist aber nicht Julliens Thema, sondern vor allem die Beschränktheit, die das Sinnstreben mit sich bringt, und er stellt dieses Streben radikal in Frage. Die Einstimmung auf den Zusammenhang, der in China angestrebt wird (und im Ritus und in der Formel seinen kulturellen und literarischen Ausdruck gefunden hat) hält er für das lohnendere Unterfangen.

Europa denkt die „Zeit“ aus ausdehnungslosen „Zeitpunkten“ bestehend, über welche Zukünftiges über die Gegenwart zu Vergangenem wird. In der „Zeit“, im Intervall zwischen zwei Zeitpunkten, zwischen Anfang und Ende, entfalten sich Geschichten, kleine Geschichten, große Geschichten, und die Frage ist möglich nach der allergrößten und umfassendsten Geschichte, jener mit dem absoluten Beginn oder allerersten Urheber und dem ultimativen Ende und Ziel. Lebt, denkt man in der „Zeit“, dann fragt man nach dem Grund, nach dem Ziel, nach dem Sinn eines Ereignisses, man fragt nach dem Sinn des eigenen Lebens, kann gar nach dem Sinn aller Ereignisse, also dem der Geschichte insgesamt fragen. Auf letzteres geben neben der Philosophie, wie etwa bei Hegel, vor allem Religion und Mythos eine Antwort – welche aber in der klassischen chinesischen Weisheitsliteratur laut Jullien keine Rolle spielen. Das europäische „Zeitdenken“ betrachtet er mehr als skeptisch, und stellt ihm das chinesische „Momentdenken“ als überlegen gegenüber. Denn das Denken der „Zeit“, das immer Geschichten generiert, die nach einem Sinn verlangen, führt zu einer Zielstrebigkeit und einem Pathos, die oft in lebensfernen Ideologien und irrealen Zielvorstellungen enden. Diesem europäischen „pathetischen“ Denken stellt er das chinesische „strategische“ Denken gegenüber, welches bei den konkreten Erscheinungen bleibt, und gefeit ist gegen ideologische Verirrungen und abgehobene metaphysische Spekulationen.

Der „Moment“ liegt also nicht auf der „Zeit-Linie“, er ist kein ausdehnungsloser „Zeit-Punkt“ auf dieser. Er ist auch kein „Ereignis“, und nicht Teil eines Narrativs, aus dem er seinen Sinn bezieht, er ist kein Intervall „zwischen“ zwei Zeitpunkten. (Auf dieser „Dehnung“ des Intervalls, auf dieser „Zeit-Linie“ konstruiert laut Jullien Europa das „Fortschreiten in der Zeit“, wobei es dann notgedrungen Ausgedehntes zu den unausgedehnten Zeitpunkten – quasi per Hand – hinzufügen muss.) Während Ereignisse und Geschichten einen Anfang/Grund und ein Ende/Ziel haben, die aber „außerhalb“ liegen, im Nicht-Mehr der Vergangenheit und im Noch-Nicht der Zukunft, ist das Leben im Moment nicht zwischen Vergangenheit und Zukunft zerrissen, sondern innerhalb der Grenzen des Moments gibt es etwas das „kommt“, und etwas das „geht“. Wie alles andere, konzipiert China auch die Zeit polar – kanonisiert in der Formel:Was als Vergangenheit geht – was als Gegenwart kommt“. Die Simultanität beider ist der „kontinuierliche Übergang“, den Jullien zufolge Europa auf Grund der dreifältigen Zeitstruktur nicht denkt, nicht denken kann. Ein Moment ist eine Phase, eine Position im Prozess, und wenn man diese Position begreift, weiß man alles, was man wissen muss – man braucht keinen übergreifenden Sinn, wenn man den momentanen Zusammenhang, die Konstellationen der sich dauernd transformierenden Umstände erfasst. Daher zeichnet sich der Weise aus durch seine fortgesetzte Offenheit für das, was sich im Moment zuträgt, also durch seine Disponibilität. Diese ist aber keine Kompetenz des Subjekts, sondern ergibt sich, weil die „Demarkationslinie“ zwischen dem Subjekt und den Umständen nicht fix ist, und schon gar nicht zu etwas grundsätzlich Gegebenen erklärt wird. Folgendermaßen definiert Jullien den Weisen, Zhoungzi zitierend:

Indem er sich vor jeder reflexiven (disjunktiven) Distanz zu ‚dem, was´ zu ihm kommt, hütet, ‚vergisst er so wenig seine Ursprünge´, wie er auf der Suche nach seiner Bestimmung ist: er fragt sich nicht, wie oder wann ‚es endet´, er stellt keine Fragen hinsichtlich des Sinnes oder des Erfolges; wenn er ‚empfängt ´, freut er sich, aber genauso gut kann er sich davon ‚loslösen´ (es ‚vergessen´), wenn der Moment des ‚Zurückgebens´ kommt.“ (Jullien 2010).

Sollen wir auf den Zeitbegriff verzichten, wie es uns Jullien nahelegt? Brauchen wir keine begeisternden und leitenden Visionen? Brauchen wir keine „Zukunft“? Führt uns die Frage nach dem Sinn des Lebens, sowohl des individuellen als auch des kollektiven, des kosmisch-evolutionären, nur in die Irre, weg vom „wirklichen Leben“, das ja nur im Moment existiert? Ist gar alles Hoffen und Sollen, alles Streben und Erwarten, alles Sich-selbst-entwerfen und Sich-selbst-verwirklichen-wollen letztlich nur vergebliche Selbstquälerei?

Gemäß der Regulierungs-Logik erledigen sich solche Fragen von selbst, stellen sich gar nicht, wenn man es schafft, sich einfach auf den Moment einzustimmen. Aber können wir all das, was uns die Naturwissenschaft über die Beschaffenheit des Kosmos erzählt, ignorieren? Denn diese weiß sehr wohl von einem Anfang, dem Big Bang, und von einer fortschreitenden Expansion des Universums. Wann und wie es endet, ist nicht klar, und von einer Zielgerichtetheit zu reden, lehnt auch eine materialistisch eingestellte Naturwissenschaft ab. Doch auch diese leugnet nicht, sondern macht uns vielmehr bewusst, dass zwei eindeutige Tendenzen im Universum bestehen: dass einerseits alle energetischen Niveauunterschiede einem Ausgleich zustreben, dem sogenannten Wärmetod, der Auflösung aller Ordnung, dem Erreichen der maximalen Entropie, und dass andererseits eine gegenläufige Tendenz zu beobachten ist, nämlich der sukzessive Aufbau von immer komplexeren Strukturen, was Erwin Schrödinger als Negentropie (negative Entropie) bezeichnet hat. Es fällt einigermaßen schwer, dies alles nicht als allgemeingültige Fakten anzuerkennen, sondern nur als Konstruktionen, die aus der europäischen Sprachstruktur resultieren. Kann man denn missachten, dass wir nicht nur an zyklischen Prozessen teilhaben, sondern auch an einer irreversiblen Zeit, einer Geschichte mit Anfang und Ende? (Dass wir vielleicht in einem Multiversum leben, dass es unendlich viele Big-Bangs gibt, oder Urknall auf Urknall folgt, ändert nichts an der Tatsache, dass es innerhalb eines Urknall-Universums einen Anfang und ein Ende gibt.) Nicht nach dem Sinn einer Geschichte, bzw. der ganzen Geschichte zu fragen, ist nur möglich, wenn ich die Natur der „Zeitlichkeit“ des Universums, wie sie die Naturwissenschaften, und nicht zuletzt der ganz gewöhnliche Alltag offenbaren, ignoriere. (Und natürlich auch dann, wenn ich sowieso überzeugt bin – aus welchen Gründen auch immer – dass alles sinnlos ist.)

Dago Vlasits
Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades · 2019
Teil I – 8   Zwei Auffassungen von Zeitlichkeit
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