Schule des Rades

Dago Vlasits

Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades

Teil I – 9   Das Universelle

Chinesisches und europäisches Denken sind einander fremd, sie kommen nicht zur Deckung – aber Übersetzen ist möglich, „Brücken bauen“ kann man, ist sich Jullien gewiss. Doch was heißt Brücken bauen, woraus sollen die denn bestehen? Auch Jullien fragt, wie man denn einen „Übergang“ schaffen kann, wenn man – was seine fundamentale Überzeugung ist – nicht „auf Invarianten zählen kann, die uns eine g e g e b e n e Universalität liefern“ (Jullien 2008). Und er antwortet, man müsse „sich daran machen, diese herzustellen, indem man auf der anderen Seite Äquivalente sucht oder erzeugt“. Man wird z. Bsp. feststellen, dass das chinesische Wort für „wahr“ nur mit dem Wort „adäquat“ zu übersetzen ist, was sich mit dem europäischen „wahr“ natürlich nicht völlig deckt. Da es nun aber auch gänzlich Unvergleichbares in den sich gegenüberstehenden Sprachen und Kulturen gibt, wird man nicht umhinkommen, „hier zu dekonstruieren und anderswo zu rekonstruieren, zu ent-kategorisieren und neu zu kategorisieren“, und wenn eine Übersetzung zwangsläufig das Unvergleichbare verschleiert, kann dieses dann immerhin im Kommentar deutlich gemacht werden. Auf diesem Weg können wir schließlich das Andere verstehen – umschreibend, abwägend, sich annähernd. Trotz Julliens Lösungsvorschlag, beim Übersetzen die notwendigen Äquivalenzen zu erschaffen, drängt sich doch die Frage auf: Wieso können wir aber überhaupt so etwas wie Äquivalenz erkennen? Um bei unserem Beispiel zu bleiben: eine klar bestimmte Kategorie, die das europäische „wahr“ und das chinesische „adäquat“ vereinigt, gibt es nicht, solche vereinigende Universalbegriffe existieren nicht. Und doch gelingt das Übersetzen zwischen einander fremden Sprachen und Kulturen. Was macht dann aber Übersetzen – und Verstehen überhaupt – eigentlich möglich? Wie kommt es, dass wir Ähnliches oder Äquivalentes erfassen können?

Jullien findet das Lamento über die Fatalität des Übersetzens, weil dieses immer nur verfälschen würde, langweilig. Übersetzen funktioniert! Und zwar weil es eben auf etwas Universellem beruht (bzw. auf dem „Gemeinsamen“, dem wir weiter unten noch näher auf den Grund gehen werden). Auf keinen Fall soll man aber versuchen, das Universelle als eindeutige Kategorien oder Begriffe zu formulieren, und von einer Meta-Sprache zu träumen. Das tun nämlich diejenigen, die glauben, ein allgemeiner „Humanismus“ und transkulturelle Verständigung sind nur deswegen möglich, weil wir gar nicht anders können, als solche universellen Begriffe „axiomatisch“ anzuerkennen: „Stammbegriffe , wenn man das so sagen kann, an der Wurzel jeder menschlichen Intelligenz, die konstitutiv für die Arbeit des Denkens selbst sind, und zwar in der Art und Weise, in der wir – die Menschen, alle Menschen – uns a priori der Existenz bewusst werden und uns die Dinge zwangsläufig vorstellen. Sie strukturieren den menschlichen Geist. Als solche findet man sie logischerweise von einer Sprache zur nächsten wieder. Wie etwa ‚Sein‘, ‚Wahrheit‘, ‚Zeit‘ etc.“ (Jullien 2009). Vertreter dieser Auffassung sind der Überzeugung, man könne vernünftigerweise gar nicht an ihnen zweifeln, denn ohne sie wäre ja Denken überhaupt, und daher auch Kommunikation (zwischen den Kulturen) gar nicht möglich.

Jullien aber stellt die Existenz solcher universeller „Stammbegriffe“ in Frage. Seiner Ansicht nach sollten wir nicht auf so etwas wie Ur-Kategorien bauen, sie sind zwangsläufig immer ideologisch, immer kulturell bedingt. Der grundsätzliche Makel besteht darin, dass Erkenntnistheorien dieser Art immer mit einer Spaltung von Subjekt und Objekt einhergehen. Durch eine „methodische Verwendung Chinas“ lässt sich hingegen die Welt als ein bruchloses Ganzes denken. Wir würden also so etwas wie Ur-Kategorien gar nicht brauchen, ganz im Gegenteil – das Verstehen der prozessualen Phänomene und der Einklang mit ihnen ist eigentlich nur ohne Universalbegriffe erreichbar.

Den Weg der europäischen Philosophie vermeidend, schlägt er einen anderen Weg vor, wie das Universelle angepeilt werden könnte: einerseits über die eben erwähnte Verwendung der Sinologie, andererseits über das sogenannte „Universalisierende“ – für das bruchlose Verstehen der Phänomene das eine, für das Verhalten im Politisch-Sozialen das andere. Was soll man unter dem Begriff des „Universalisierenden“ verstehen? Laut Jullien sind die Menschenrechte das typische Beispiel dafür. Ihr Anspruch treibt uns zur Verwirklichung des Gemeinsamen an, wobei im Auge behalten werden muss, dass die Verwirklichung dieses Gemeinsamen immer nur in der Zukunft, immer nur „im Kommen“ existiert.

Dieser Frage, was denn nun für alle in gleicher Weise Geltung beanspruchen darf, und worauf sich alle gleichberechtigt beziehen können, widmet sich Jullien ausführlich in Das Universelle, das Einförmige, das Gemeinsame und der Dialog zwischen den Kulturen (Jullien 2009). Dort rekonstruiert er die Geschichte des „Allgemeingültigen“ – für die wissenschaftliche und philosophische Sphäre die Definition des allgemeingültigen Begriffs durch die Griechen auf Grundlage des logos, jenseits der individuellen Meinungen; für die politische Sphäre als Bürgerrecht für alle Bewohner des römischen Reichs, unabhängig von der Stammeszugehörigkeit; und für die religiöse Sphäre als das Heil für alle, die an Christus glauben, gleich welcher ethnischen Herkunft man ist. Und für die Gegenwart behandelt er in dieser Schrift die in Europa entstandenen Menschenrechte, welche ebenfalls Allgemeingültigkeit beanspruchen, und die er als das Paradebeispiel für das Universalisierende betrachtet.

Sein Text beginnt mit dem Bekenntnis: „Ich glaube an den korrekten Gebrauch von Gattungen“ (wobei er insbesondere die der Literatur und die des Diskurses meint). Jullien erklärt weiter, es wäre für ihn Zeit, sich „angesichts der Schreihälse, die einen schlaffen Humanismus verteidigen, zu der Frage des Allgemeinen oder Universellen zu äußern“, und schreibt dann, wir sollten uns nicht fürchten, „die schneidende Schärfe des Begriffs einzusetzen, um die Diskussion aus der Schwammigkeit der Meinungen herauszuziehen“. Hier spricht er ganz im Sinne der griechischen Tradition, die zwischen doxa und episteme, zwischen Meinung und Wissen unterscheidet, und im Sinne Kants stellt er fest: „Das Allgemeine erklärt sich zu einem Begriff der Vernunft und beruft sich von daher auf eine Notwendigkeit a priori , also auf eine Notwendigkeit, die jeder Erfahrung vorausgeht.“ Die rigorose Allgemeinheit logischer Urteile duldet keine Ausnahme, und hat den Charakter einer Verordnung und eines Sollens. Und es gilt, dass nur notwendige Urteile strikt allgemein sein können, und umgekehrt, nur strikt allgemeine Urteile absolut notwendig. Jedoch: Müssen wir auf dieser „frostig“ anmutenden Grundlage auch den Dialog zwischen den Kulturen führen? fragt er zweifelnd.

Die „Gattungen“, an deren korrekten Gebrauch Jullien glaubt, sind Begriffe, genaugenommen bedeutet „Gattung“ in der Philosophie so viel wie „Oberbegriff“. Wenn ihr korrekter Gebrauch gegenseitiges Verstehen und allgemeingültige Aussagen ermöglicht, uns die Wahrheit ermitteln lässt, dann wären doch sie, bzw. ihre Regeln des Gebrauchs doch eigentlich das Universelle, welches wir alle als Wissen besitzen können. Doch schon in der Antike wurde der Absolutheitsanspruch der allgemeinen Begriffe, welche als die Welt des Idealen verstanden wurden, angefochten als ein Hirngespinst, (da es ja durch Abstraktion gewonnen wird), welches das Sinnlich-Konkrete zu Unrecht zu einer Wirklichkeit zweiter Klasse erklärt. Und in der modernen Philosophie musste dieses Allgemeine, das von jeder Subjektivität gereinigt ist, sich einen zweiten Vorwurf gefallen lassen: Nämlich, ob es denn nicht auch noch auf andere Weise die eigentliche Wirklichkeit verfehlt, die des Singulären, Einzigartigen, des Subjekts und seiner jeweils besonderen Wirklichkeit. Und im Auftauchen der außereuropäischen Kulturen am Horizont des europäischen Bewusstseins sieht Jullien die dritte Infragestellung dieser auf Logik beruhenden „Allgemeingültigkeit“, die damit plötzlich zu einer europäischen Spezialität degradiert erscheint. Daher relativiert Jullien den Wert einer Universalität oder Allgemeinheit, die auf scharfen Begriffen beruht (Die Evidenz des Wissenschaftlichen!), und bezweifelt, ob sie im Dialog zwischen den Kulturen bzw. in der Welt des Menschlichen, in den „Beziehungen zwischen den Subjekten“ und im Bereich der Werte und der Politik gelten kann.

Weil China diese Art von Begrifflichkeit überhaupt nicht entwickelt hat, dürften wir nicht mit dieser an China herangehen, sonst würden wir China missverstehen, ist Julliens Grundtenor. Aber können wir denn überhaupt völlig voraussetzungslos an die Dinge herangehen? Operieren wir denn nicht immer mit irgendwelchen Vor-Entscheidungen, Annahmen und Kategorien, wenn wir etwas verstehen wollen? Jullien glaubt einerseits an den korrekten Gebrauch von Begriffen (also logisches Denken), verwirft aber die Allgemeingültigkeit des scharfen Begriffs als Ausdruck des Universellen, wie er in Europa entwickelt wurde, und ortet „hinter“ den Begriffen das tatsächlich wirkende Universelle, welches uns das Verstehen ermöglicht. Doch dieses Universelle existiert für uns immer nur als etwas Dynamisches, ist dauernd nur „im Kommen“. (Ist übrigens bei einer Verwendung des Begriffs „Kommen“ tatsächlich der absolute Verzicht auf den Begriff der Zukunft, bzw. das „europäische“ Zeitkonzept geleistet, den Jullien so vehement fordert?)

Ich sage dagegen, dieses Gemeinsame des Menschlichen ‚kommt ‘und hört nicht auf zu kommen, es gehört zur Ordnung der Quelle (source) – dessen, was allein und unerschöpflich eine Ressource bildet. Dieses Gemeinsame ist kein Grund oder Boden, so wie man vom Boden einer Kiste oder Kasse spricht (fundus), der schließlich zum Vorschein kommt, wenn man alles herausgenommen hat: wenn man alle Unterschiede zwischen den Kulturen herausgenommen – abstrahiert – hat, sondern es ist der Grund (fons) im Sinne von ausnutzbar oder ausbeutbar: im Sinne dieses unendlich Teilbaren und Mitteilbaren , und dies in einer und durch eine gemeinsame(n) Intelligenz…“ (Jullien 2009)

Es gibt also laut Jullien das Universelle, doch es entzieht sich der Sprache. Es gibt aber eine allen Menschen gemeinsame Intelligenz, die man anerkennen muss, sonst wären zwischen den verschiedenen Sprachen/Faltungen überhaupt keine Brücken möglich. Sein Konzept der verschiedenartigen „Faltungen“ siedelt er daher ausdrücklich auf einem einzigen „Gewebe“ an, von dem China und Europa nur verschiedene Faltenwürfe sind. Obwohl vom gemeinsamen Gewebe die Rede ist, lässt sich über diesen „Stoff“ dennoch nichts Explizites sagen, Jullien spricht nur postulierend von der besagten allgemeinen Intelligenz, und vom grundsätzlichen „Verstehen können“ und „Mitteilen können. Diese Intelligenz schöpft aus der unerschöpflichen Ressource, die alles speist (und deren Existenz er genauso wenig bezweifelt und hinterfragt, wie die chinesischen Weisen). Sie ist jedoch durch keine begrifflich fassbaren Archetypen, keine zeit- und kulturunabhängige Kategorien oder Allgemeinbegriffe zu charakterisieren. Laut Jullien gibt es in Hinblick auf China und Europa also „keinen äußeren, dritten Standpunkt“, der „herausragt oder zumindest zurückgezogen liegt, und es ermöglicht, gleichzeitig beide zu betrachten. Man ist entweder in der einen Sprache oder in der anderen – es gibt ebenso wenig eine Hinter-Sprache wie eine Hinter-Welt“.

Es steht aber außer Zweifel, dass das Gemeinsame anerkannt und wirksam ist in jeder Kultur, die nach Menschlichkeit strebt – ob als Streben nach Freiheit und Würde des Einzelnen, oder nach der „Großen Harmonie“. Aber nur Europa hat es zum Gegenstand des analysierenden und definierenden Denkens erhoben (dabei die Faltungen der eigenen Sprache aber nicht reflektiert – wie auch China sich niemals die Faltungen der eigenen Sprache bewusst gemacht hat. Denn diese Faltungen gehören zum „Ungedachten“ der jeweiligen Kultur – man reflektiert nicht darüber, sondern es ist das, womit man über etwas reflektiert). Europa hat – durch die „Faltungen“ seiner Grammatik dazu neigend – in aller logischen Strenge über das Universelle nachgedacht, und verschiedene, abstrakte Universalien-Systeme formuliert… und ist laut Jullien damit in die Irre gegangen, insofern es glaubte, die endgültige Formulierung gefunden zu haben. Die Versuche, einen Grundbestand des Menschlichen freizulegen oder festzustellen, ein allgemeines Menschenbild zu entwerfen, ein System der universellen Kategorien zu schaffen, oder logisch zwingende Sätze, die ein für alle Mal festlegen, was die Wahrheit über das Universelle ist, sind eine Baustelle, die wir daher schleunigst verlassen sollten. Dass Europa in diese Falle tappt, hat es seiner Sprachstruktur zu verdanken.

Man kann und soll Jullien zufolge dennoch über das Allgemeine und Gemeinsame nachdenken. Denn auch wenn man darauf verzichtet – verzichten muss – das Universelle als etwas Formulierbares zu begreifen, geht es dennoch darum, das allen Gemeinsame anzupeilen. Das Gemeinsame ist für Jullien das, was sich sukzessive entwickelt, wie etwa das Verwirklichen der Menschenrechte. Also die in der Zukunft liegende Verwirklichung des Gemeinsamen, nicht ein formuliertes Gemeinsames ist das „wirklich“ Gemeinsame! Allgemeingültige Formulierungen aller Art kann man zwar besitzen, diese können aber in ihrer begrifflichen Eindeutigkeit nur inadäquate Abstraktionen und Reduktionen sein, die der prozesshaften Wirklichkeit niemals gerecht werden können. Trotzdem betont Jullien die Wichtigkeit der abstrakten Formulierung der Menschenrechte. Durch ihre Prinziphaftigkeit und Abstraktheit – durch ihre „europäische“ Form also – hätten sie nämlich das Potential, als „Werkzeug“ zu fungieren und bei mangelnder Verwirklichung „Protest und Engagement zu provozieren“. Die Artikulation der Menschenrechte könne zwar niemals als vollendet und als absolut richtig betrachtet werden – historisch haben sie sich ja auch wiederholt verändert – im Rahmen des chinesischen Denkens wären sie aber nicht einmal im Ansatz konzipierbar, stellt Jullien fest. Er vergisst auch nicht zu erwähnen, dass selbst die Staatsorgane im heutigen China die Unterdrückung der kritischen, die Menschrechte einfordernden Zivilgesellschaft mit dem Argument rechtfertigen, die „Harmonie“ wäre in Gefahr. Außerdem wissen wir, dass schon im alten China die Harmonie als Staatsdoktrin zuweilen zu absolutem Konformismus und polizeistaatlichen Repressalien geführt hat. (In ihren fatalen Auswirkungen auf den Einzelnen unterscheiden sich Chinas Harmoniestreben und europäische Idealismen oft kaum voneinander.)

Für Jullien gibt es also einerseits das „namenlose“, unformulierbare Gemeinsame, und andererseits die sprachlichen Begriffe, die aber diesen gemeinsamen Grund der Wirklichkeit nicht hinreichend erfassen können. Wie wir sehen, führt er aber (schließlich dann doch auf der begrifflichen Ebene) noch etwas anderes ein, das er das „Universalisierende“ nennt. Es ist das, was uns nach dem Gemeinsamen streben lässt, wie etwa nach der Durchsetzung der Menschenrechte. Sie sind nichts endgültig Wahres, weil sie eben in sprachlicher Form vorliegen, und weil sie nur in einer Tradition entstanden sind. Dennoch ist ihr universeller Anspruch berechtigt, denn sie lassen den Menschen nach ihrer Umsetzung streben, wenn sich irgendwo ihr Fehlen zeigt. Obwohl ihre positive Formulierung immer relativ und unzulänglich ist, sind sie unverzichtbar. Ihr wahrer Wert ist „ihre Funktion als Waffe oder negatives Werkzeug“ (Jullien 2009), denn laut Jullien sind eigentlich nicht die Menschenrechte universell, sondern das Vermögen, „ihr Fehlen“ festzustellen. Dass man sich des Fehlens aber bewusst wird, und Engagement entwickelt, dafür braucht es eine klare begriffliche Formulierung, auch wenn diese zwangsläufig immer unzulänglich bleiben muss. (Nebenbei bemerkt: So wie das I Ging immer etwas Chinesisches bleiben wird, werden in gewisser Weise auch die Menschenrechte immer etwas „Europäisches“ bleiben, zumal ihre moderne Formulierung und Umsetzung vor allem durch europäische Intellektuelle und Länder vorangetrieben wurde. Dennoch ist der Anspruch auf ihre globale Gültigkeit nicht bloß ein Ausdruck imperialistischer Bestrebungen des Westens, wie manche Kulturrelativisten und manche Vertreter außereuropäischer Kulturen meinen.)

Jullien schließt also dezidiert eine universelle Metasprache aus, „die Allem zugrunde liegen“ würde, aber ein Universalisierendes wie die „allgemeinen“ Menschrechte erachtet er als notwendig. Sie sind für ihn zwar nicht völlig unproblematisch, insofern sie ja bloß in einer Kultur entstanden, bloß europäisch sind. Aber diese Art von Relativität schmälert nicht ihren universellen Wert. Und man muss sie auch nicht als absolute Wahrheiten betrachten, sie könnten irgendwann auch noch eine andere Form bekommen. Jullien zitiert einen seiner Verfasser, der bedauernd feststellt: „Der schlechteste aller Entwürfe ist zweifellos der, den man übernommen hat“.

Wie begründet sich aber der Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Menschenrechte? Dass eine solche Begründung überhaupt möglich ist, wird ja mitunter bezweifelt. Jullien meint: „Die Prätention auf die Universalität der Menschenrechte kann meiner Meinung nach nur von einem logischen Standpunkt aus verteidigt werden.“ Die Menschenrechte ermöglichen nämlich eine Handhabbarkeit und Diskutierbarkeit zwischen den Kulturen, und das deswegen, weil sie eben als abstrakter Begriff, als „Werkzeug“ des Dialogs existieren. Die „unpräzise“ chinesische Vorstellung von der „Harmonie“ etwa könne das nicht leisten, nur der abstrakte Begriff macht im Dialog den Transfer über alle Kulturen hinweg möglich.

Ihre eigentliche Begründung, und daher berechtigte „begriffliche Radikalität“ stützt sich aber darauf, „dass sie sich des Menschlichen im ganz elementaren Stadium, direkt an der Existenz bemächtigen“, indem sie den Menschen unter etwas betrachten, was „als bedingungslos gilt: nur weil er geboren ist(Jullien 2009). Jede andere Begründung kann für Jullien nur ideologisch, und daher nicht allgemeinverbindlich sein.

Tatsächlich werden die Menschenrechte meist in den Nimbus des Heiligen und Unverrückbaren gehüllt – ja man könnte geradezu von einem Fundamentalismus sprechen. Doch nur eine rationale Begründung scheint sie dem Vorwurf entziehen zu können, bloß eine westliche Ideologie zu sein. Kann aber die bloße Anerkennung des „Geborenseins“ tatsächlich logisch zur Anerkennung der Menschrechte führen, wenn nicht dieses Geborensein auch noch als „wertvoll“ beurteilt wird? Gründet die Legitimität der Menschenrechte nicht letztlich immer schon im Bereich der Werte, somit auf der Ebene des wertenden Fühlens, eben ganz einfach auf der Wertschätzung der Individualität und der individuellen Freiheit? Ein solches „emotionales Urteil“ scheint mir nicht weniger universell zu sein als ein „logisches Urteil“. Die Wertschätzung von Individualität und Freiheit ist nicht bloß ein europäisches, ideologisches Konstrukt, sie ist gewiss auch dem chinesischen Menschen nicht völlig fremd. Zweifellos wird in manchen Kulturen das Kollektive über das Individuelle gestellt, doch sicher muss die Wertschätzung und der Respekt gegenüber dem Mitmenschen, und die Forderung, dass dies auch für einen selbst gelten soll, nicht als etwas absolut Neues und „Fremdes“ den Nicht-Europäern nahegebracht oder eingepflanzt werden.

Trotz ihres singulären Ursprungs in Europa stellt Jullien die Legitimität des globalen Anspruchs der Menschenrechte also nicht in Frage, ja gerade in ihrer abstrakten („europäischen“) Formulierung sieht er ihre eigentliche Wirksamkeit. Sosehr er also die Allgemeingültigkeit des europäischen Logos als Basis des Universellen verwirft, sosehr verschafft er ihm letztlich doch allgemeine Gültigkeit in Form des begrifflich formulierten „Universalisierenden“, und meint außerdem, der Universalanspruch der Menschenrechte könne „nur von einem logischen Standpunkt aus verteidigt werden“. Wie wenig er den europäischen Denkzugang tatsächlich preisgibt, ja letztlich Idealismus für unverzichtbar hält, drückt er an anderer Stelle deutlich aus: „Ohne Ideal gibt es keine Freiheit“. Aber er akzeptiert nicht die Existenz einer menschlichen Norm, einer universellen Humanität. Sogenannte Menschenbilder sind für ihn per se ideologisch.

Jullien findet also die rationale Legitimation der Menschenrechte im bloßen „Geboren-sein“ des Menschen – aber nicht ohne an anderer Stelle zu vermerken, dass die „europäische“ Freiheit unverhandelbar ist, und nur das Ideal der Freiheit die Freiheit ermöglicht. Tatsächlich gehen die Menschenrechte, wie sie heute vorliegen, nicht vom bloßen „Geborensein“ aus, sondern von einem idealistischen Menschenbild, das im 1. Artikel knapp umrissen ist. Dort heißt es, der Mensch wäre „mit Rechten und Würde“ geboren, ist mit Vernunft und Gewissen begabt, und soll nach dem Geist der Brüderlichkeit streben. (Damit ist übrigens auch schon das Wesentliche von den Menschrechten ausgesagt, alle weiteren Artikel sind nur Spezifizierungen, in welchen Bereichen und auf welche Weise diesem Menschenbild entsprochen werden kann.)

Für Jullien gehen China und Europa nicht den gleichen Weg, sie können sich aber begegnen. Was sich im gegenseitigen Annähern zeigt, ist keine Schnittmenge von gemeinsamen Universalien, die man begrifflich fassen kann, sondern „dieses Gemeinsame des Menschlichen ‚kommt ‘und hört nicht auf zu kommen, es gehört zur Ordnung der Quelle […] und dies in einer und durch eine gemeinsame(n) Intelligenz…“ (Jullien 2009). So ist bei Jullien letztlich die Intelligenz und die prinzipielle Mitteilbarkeit der gemeinsame, dynamische, dauernd in Entwicklung begriffene Grund, aus dem sich das Denken jeder Kultur speist. Er stimmt Heraklit zu, der meint: „Allen gemeinsam ist das Denken“, und kommt zu der prinzipiellen Einsicht:

Was mich zum Prinzip erheben lässt, dass es, um welche Kultur es sich auch handeln mag, nichts gibt, was prinzipiell nicht intelligibel ist – das ist […] das einzige Transzendentale , das ich erkenne: nicht in Abhängigkeit von gegebenen Kategorien, im Namen einer vorgeformten Vernunft, sondern als Anspruch, der einen Horizont bildet und niemals stehenbleibt (und somit dem Universellen entspricht). Also ohne Residuum. In absoluter Weise.“ (Jullien 2009)

Bezüglich der Formulierbarkeit philosophischer Wahrheiten ist dann wohl die Lektion Chinas maßgebender, als die Europas. Denn China hätte laut Jullien immer der eindeutigen prädikativen Aussage misstraut, die einen auf einen engen Standpunkt festlegt, und zwangsläufig eine Gegenposition provoziert. Und Jullien scheint in seiner Weigerung, das Allgemeine, Gemeinsame auf den Begriff, auf die eindeutige Aussage zu bringen, ganz im Einklang mit dem Dao De Jing zu sein, wo es heißt (in der Wilhelmschen Übersetzung):

Der Sinn, den man ersinnen kann,
ist nicht der ewige Sinn;
Der Name, den man nennen kann,
ist nicht der ewige Name
.“

Die unerschöpfliche Quelle („source“ und „Ressource“ bei Jullien), die nicht als ferner Augenblick der Schöpfung oder als transzendente Gottheit vorgestellt wird, sondern sich als die Wirkkraft der Dinge im Moment zeigt, entzieht sich jeder Definition. Aber ist damit die Frage nach der Möglichkeit der Formulierung des Gemeinsamen – für die Philosophie, und nicht nur für das Politische, wo es ohnehin als das „Universalisierende“ in Form der Menschenrechte existiert – tatsächlich völlig obsolet? Immerhin hat ja auch China Formeln gefunden, die den Phänomenen jedes Moments adäquat sind, und die ihre „nackte“ Funktionalität in einem solchen Reinheitsgrad zum Ausdruck bringt, dass sie „sich nicht mehr ändern“ müssen. Wenn immerhin „ewige Formeln“ möglich sind, ist dann vielleicht auch Europa mit seinem Streben, das Universelle als Wissen zu formulieren, doch nicht völlig auf dem Holzweg? Ist es vielleicht nur noch nicht dort angelangt, und die bisherigen Lösungen sind als nur vorläufig, als noch nicht vollendet zu betrachten? Oder gibt es gar in Europa Entwicklungen, abseits vom Mainstream, die das durchaus schon erreicht haben, und bloß von der kritischen Tradition Europas marginalisiert wurden? Wenn Jullien absolut Recht hat, wären das bloß leere Hoffnungen und alte Irrwege.

Doch gibt es vielleicht die „Formulierung“ von etwas Universellem, das gar nicht begrifflich, nicht eindeutig und nicht reduktiv ist, sondern offen für vielfältige Interpretationen und Kommentare, wie chinesische Formeln? Gibt es eine Formulierung, die sowohl dem chinesischen Anspruch auf Weisheit, als auch dem europäischen Verlangen nach Wissen genügt? Für Jullien ist das ausgeschlossen – die begriffliche Formulierung des Universellen verdirbt das Universelle. Was dieses „auf den Begriff bringen“ des Gemeinsamen betrifft, hat Jullien durchaus Recht. Doch wenn wir hier von „Formulieren“ sprechen, wollen wir dieses Wort ganz so verstehen, wie es Jullien mit neuer Bedeutung aufgeladen hat: formulieren nicht als: formulieren prädikativer Aussagen und begrifflicher Kategorien, sondern formulieren als: „auf eine Formel bringen“, wie es in der chinesischen Weisheitstradition üblich ist. Wäre dann das Formelhafte etwas, auf dessen Spuren auch die europäische Philosophie weiterkommt in ihrem Streben, Wissen und Weisheit zu vereinen? Und vielleicht nicht nur durch Hinwendung zum Chinesischen, sondern durch Entdeckung des „Formelhaften“ in der eigenen Tradition, das dort keimhaft, bzw. als verachtete und vergessene Möglichkeit schon seit langem existiert.

II. Teil

Dies ist nicht so zu begreifen, dass ich diesen Dingen mächtig genug sei, sondern so viel ich begreifen kann. Denn das Wesen Gottes ist wie ein Rad, da viele Räder ineinander in die Quere, über sich und unter sich gemacht sind und sich immer miteinander umwenden. Zwar sieht man das Rad und wundert sich sehr, und doch kann man es in seiner Umwendung nicht erlernen noch begreifen; sondern je mehr man das Rad ansiehet, desto mehr erlernt man seine Gestalt; und je mehr man lernet, desto größere Lust hat man zum Rade. Denn man siehet immer etwas Wunderbares, und ein Mensch kann sich nicht genug sehen und lernen.“

(Jakob Böhme, Aurora oder Morgenröte im Aufgang · 1634)

Dago Vlasits
Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades · 2019
Teil I – 9   Das Universelle
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