Schule des Rades
Dago Vlasits
Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades
Teil II – 10 Das Rad-Diagramm als vereinigende Formel
Bei der Frage nach einer möglichen gemeinsamen Wurzel für den chinesischen und europäischen Denkansatz wird man vielleicht an die Grundlagenphysik erinnert, an deren Suche nach der Weltformel, der theory of everything (TOE). Das dort zu lösende Problem besteht darin, dass die zwei Basistheorien, Quantentheorie und Allg. Relativitätstheorie, unvereinbar zu sein scheinen. Man sagt, sie wären so verschieden wie Stroh und Marmor. Die eine Theorie, die nach der Entdeckung des Wirkungsquants durch Planck im Jahr 1900, vor allem von Bohr, Schrödinger, Heisenberg und Pauli weiterentwickelt und in den 20er Jahren vollendet wurde, beschreibt diskrete Quanten, also elementare Einheiten der Wirkung und macht die Mikroebene der einfachsten Partikeln verständlich. Aus diesen subatomaren Teilchen bestehen die Atome, welche sich zu Molekülen verbinden. Auf deren Verknüpfungen, Funktionen und Mechanismen wiederum beruhen die Strukturen der Lebewesen. Raum und Zeit bilden bei dieser Theorie den Hintergrund, auf dem sich die Aktivität der Teilchen vollzieht. (Wenn wir hier vereinfachend von Teilchen oder Partikeln sprechen, lassen wir außer Acht, dass sie eigentlich Felder, bzw. „Wellenpakete“ sind, und nicht Kügelchen. Sie verhalten sich aber in vieler Hinsicht wie letztere, wenn sie etwa in Teilchenbeschleunigern in Bewegung gesetzt werden und aufeinanderprallen und streuen wie feste Teilchen.) In der anderen Theorie, der von Einstein 1915 veröffentlichten Allg. Relativitätstheorie, wird die Schwerkraft als eine Eigenschaft der Raumgeometrie erklärt. Sie macht keine Aussagen zur Partikelnatur der Materie, sondern macht das Universum im Großen verstehbar, etwa die kosmische Expansion bzw. den Urknall. Während bis dahin in der Physik Raum und Zeit den Hintergrund, bzw. die Bühne für die Bewegung von Körpern bildeten, wurden sie in dieser Theorie als sogenanntes Raumzeit-Kontinuum zum Hauptakteur allen physikalischen Geschehens. Planeten und Sterne werden hier als Verdichtungen bzw. Krümmungen dieses Kontinuums behandelt, und diese Krümmung erfahren wir als Schwerkraft.
Man kann diese Suche nach dem heiligen Gral der Physiker, diesen Versuch der Grundlagenphysik, das Diskrete und das Kontinuierliche zu vereinigen, auch anders formulieren, nämlich als Streben nach der Vereinheitlichung der vier fundamentalen Kräfte. Dabei will man die Schwerkraft, die zwischen Massen wirkt, und die drei (bereits theoretisch vereinigten) Kräften bzw. Wechselwirkungen, die zwischen den Teilchen agieren – also Elektromagnetismus, starke und schwache Kernkraft – sozusagen auf einen „gemeinsamen Nenner“ bringen.
Im Rahmen der Quantentheorie werden Kräfte durch Teilchen übertragen, das heißt, nicht nur die Materie, auch Kräfte sind als diskrete Teilchen, als Quantenpartikel konzipiert. Man bezeichnet die Trägerteilchen der Kräfte als Bosonen, und die Materieteilchen, aus welchen sich Kern und Elektronenhülle des Atoms aufbauen, heißen Fermionen. Wie in der klassischen Physik bewegen sich auch in der Quantenphysik diese Teilchen in Raum und Zeit, auch hier bilden diese den Hintergrund, auf dem sich die Teilchendynamik abspielt. (Allerdings dürfen Raum und Zeit seit Einstein nicht mehr als absolute, sondern müssen als relative Größen verstanden werden. Denn je nach Bewegungsgeschwindigkeit der materiellen Körper oder Teilchen werden Raum und Zeit gedehnt oder verkürzt. Bei den drei Teilchentheorien spricht man daher von relativistischen Quantenfeldtheorien, in Anlehnung an Einsteins spezieller Relativitätstheorie, die das Verhalten der Materie bei hohen Geschwindigkeiten behandelt.)
Was bildet nun die gemeinsame Grundlage von diskreten Teilchen und der kontinuierlichen Raumzeit? Welche Ur-Kraft oder Ur-Einheit, aus der sich einerseits die Fermionen und Bosonen, andererseits das Raumzeit-Kontinuum ableiten lassen sollten, liegt allem zugrunde? Was ist ihr „gemeinsamer Nenner“? Es gibt bereits verschiedene, (vorerst) experimentell unüberprüfbare Theorien wie etwa die Stringtheorie oder die Theorie der Loop-Quantengravitation. Die Wissenschaftlergemeinde ist aber gespalten: Den erkenntnisoptimistischen Schöpfern solcher Einheitstheorien stehen diejenigen gegenüber, die eine solche letzte Vereinheitlichung prinzipiell für unmöglich halten. Wer hier Recht hat, wird erst die Zeit erweisen.
Wäre eine Vereinigung von chinesischem und europäischem Denkzugang nicht auch eine „Weltformel“? Von solchen Vereinigungsversuchen rät Jullien ab, für ihn kann bei einem solchen Unterfangen nur das eine verfälschend auf das andere reduziert werden. Er warnt davor, das Fremde einer Kultur durch den eigenen Kategorien-Wolf zu drehen – die Kategorien, aus denen heraus Europa denkt, werden dem chinesischen Denken niemals gerecht. Aber hat nicht Europa selbst immer wieder auch „uneuropäisch“ gedacht? Allerdings nur nebenher, bzw. vom herrschenden Mainstream an den Rand gedrängt. Die gesamte hermetische Tradition, die im europäischen Untergrund immer existiert hat, ist in diesem Sinne doch einigermaßen „uneuropäisch“. Doch das würde Jullien so nicht gelten lassen. Er erwähnt zwar, dass etwa Galilei den Medici Horoskope erstellte, und es ist auch für ihn natürlich selbstverständlich, dass die europäische Kultur sehr Vielfältiges, einander Fremdes, ja Widersprüchliches umfasst, und wenn man etwa an deutsche Mystik und englischen Empirismus denkt, kann man ihm da nur Recht geben. Für ihn sind die heterogenen europäischen Kulturschöpfungen miteinander dennoch verwandt, durch gemeinsame (unausgesprochene) Voraussetzungen, etwa die Suche nach Wahrheit, und vor allem durch die „Grammatiklastigkeit“ der europäischen Sprachen. Alles was aus Europa kommt ist eben „europäisch“. Neigt man aber Billeters Auffassung zu, dass China und Europa gar nicht so radikal verschieden sind, dann können wir davon ausgehen, dass das Fremde, das „Anderswo“ der anderen Kultur als Keim oder unbewusst auch in der eigenen zu finden ist. Denn selbstverständlich kennt auch Europa echte Weisheit und deren profane Ausgabe, die Schlauheit, und auch China konnte, musste immer schon auch eindeutig sein, konnte zwischen wahr und falsch unterscheiden und hat erfunden und „konstruiert“. Doch das Fremde im Eigenen bezeichnet Jullien als „interne Heterotopie“, und das wäre nicht das echte „Anderswo“, das er meint. Wir wollen aber der Intuition folgen, dass das eine potentiell immer schon auch im anderen enthalten ist, wobei der manifeste Unterschied nur durch stärkere Betonung eines Aspekts entstanden ist – eine Erklärung, die Jullien strikt ablehnt – und nach dem Universellen fragen, welches chinesische Formel und europäisches Werkzeug in einer umfassenden Formel vereint. Es müsste eine Formel sein, die nicht nur die kontinuierlichen Wandlungen erfasst, in denen das vereinzelte Subjekt nicht hervortritt, sondern auch den konstruierenden Logos und das einzigartige Individuum. Sie sollte also den prozessualen Zusammenhang der Realität bewusstmachen, wie auch die Entfaltung des Einzelwesens als einen natürlichen Werde-Prozess beschreiben und obendrein ein hilfreiches Werkzeug für diese Entwicklung liefern.
Ist das Rad eine solche Formel? Ist es eine philosophische theory of everything, oder gibt es zumindest Parallelen zwischen Grundlagenphysik und dieser Philosophie? Tatsächlich hat Keyserling gelegentlich auch „Weltformel“ als Bezeichnung für das Rad verwendet. Natürlich ist es nicht die Weltformel, welche die Physiker suchen (die ja ohnehin keine „Theorie von Allem“ im vollen Wortsinn ist, denn über den Menschen, über Psychologie oder Kultur wissen physikalische Theorien ja nichts zu sagen). Aber wie in der TOE werden auch im Rad Kontinuum und Dis-Kontinuum vereint, wodurch dann verstehbar wird, wie der chinesische und der europäischen Denkzugang auf einer allen Menschen gemeinsamen Bewusstseinsmathematik beruhen, die im Rad zur Darstellung kommt.
In seiner Schrift, Das Wesen chinesischen Denkens (Keyserling 1964), meint Keyserling: „Von allen Kulturen der Welt ist dem Europäer die chinesische am fremdesten. Bei anderen kann er doch noch gewisse Gemeinsamkeiten entdecken. So hat er mit dem Inder die Vorliebe für Erklärung und Logik gemein, mit den Persern die Unterscheidung von Gut und Böse als Prinzipien, mit den Juden und dem Islam den Glauben an eine persönlich-göttliche Offenbarung, mit Amerika die Bewertung der persönlichen Freiheit und des geschichtlichen Lebens, und mit Russland den messianischen Chiliasmus, den Glauben an ein kommendes Reich der Gerechtigkeit. Doch im traditionellen China gab es alle diese Kategorien nicht. Das Denken erfolgte auf einer uns ungewohnten Ebene der Intuition, der Bildsymbole und Analogien. Die Stelle des europäischen persönlichen Gottes nahm der Himmel ein, der sich den Kundigen als die Vielfalt der schöpferischen Keime und Richtungen offenbarte. Und im Unterschied zur europäischen Trennung von Raum und Zeit als logischen Kategorien und physikalischen Prinzipien ging der Chinese vom Raumzeit-Kontinuum aus, das er in verschiedene Geschehenstypen zerlegte, die im Rahmen des klassischen Buches der Wandlungen als die Grundlage von Natur und Kultur verstanden wurden.“
Keyserling war in der westlichen Denktradition verwurzelt, in deren Kritikfähigkeit er das entscheidende Vermögen sah, die gemeinsamen Nenner aller Traditionen freilegen zu können. Die wesentlichen Konzepte der verschiedenen Kulturen sah er nicht bloß als lokale Besonderheiten, sondern als Elemente des geistigen Menschheitserbes, die zur Entstehung des globalen Bewusstseins beitragen können. So betrachtete er auch die Verwendung mantischer Werkzeuge als Teil der menschlichen Normalität, und es war für ihn daher kein Widerspruch, europäischer Philosoph zu sein, und zugleich zur chinesischen Tradition ein ganz besonderes Verhältnis zu pflegen und etwa das Buch der Wandlungen zeitlebens als Ratgeber heranzuziehen. Denn die im Zitat angesprochene, für „uns ungewohnten Ebene der Intuition , der Bildsymbole und Analogien“, auf der sich das besagte chinesische Denken bewegt und etwa das I Ging mit seinen 64 Hexagrammen hervorgebracht hat, ist auch die Ebene des Rades.
Keyserling bezeichnete das Rad wahlweise als Weltgrammatik, als numerologischen Schlüssel zur Weltweisheit, als geometrische Veranschaulichung aller natürlichen Systeme, oder als das Urbild allen Verstehens. Er verstand diese Konzeption als die Veranschaulichung des systemischen Zusammenhangs dessen, was die stoische Philosophie und der Neuplatonismus als logoi spermatikoi, als „Vernunftkeime“ bezeichneten, und die mittelalterliche Philosophie als rationes seminales. Mit einem derartigen Projekt stand er natürlich außerhalb des heute gängigen Diskurses, in welchem solche Theorien und Ansprüche als längst überholt und unerfüllbar kritisiert werden. Doch über die Diagrammatologie, wie sie etwa von Sybille Krämer vertreten wird, findet das Rad vielleicht auch Anschluss an die heutige akademische Wissenschaft der Philosophie. Die philosophische Disziplin der Diagrammatologie sieht im Raum, wie er sich durch unsere Körperorganisation ergibt (oben-unten, vorne-hinten, links-rechts) die universelle Matrix jeder Erkenntnistheorie, und erkennt schließlich in der Zweidimensionalität, also in der Fläche, und im menschlichen Vermögen, Linien auf dieser Fläche zu ziehen, die Grundlage aller geistigen Tätigkeit und Voraussetzung allen höheren Denkens. Auch das Verständnis des Rades geht davon aus, dass sich menschliches Erkennen immer in den Verhältnissen der zweiten Dimension vollzieht.
Werfen wir einen kurzen „diagrammatologischen“ Blick auf dieses Konzept: Das Rad ist kein Bild, sondern ein Diagramm. Ein Bild ist selbsterklärend, ich erkenne beispielsweise in einem Bild von einem Berg ganz einfach den Berg. Ein Diagramm hingegen braucht einen Text, der erklärt, wie das Diagramm zu lesen ist. Sybille Krämer hat diesen Zusammenhang von Diagramm und – immer notwendigen – erklärendem Text in „Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie“ (Krämer 2016) eingehend behandelt. Dort legt sie auch plausibel dar, dass ein Denken, das über tierische Denkformen hinausgeht, ohne Diagramme, ohne Zeichen auf der Fläche, überhaupt nicht möglich ist. So wie wir mit konkreten Objekten körperlich hantieren, so tun wir es mit theoretischen Entitäten, die an sich keine sinnliche Entsprechung haben, indem wir körperliche Surrogate für sie schaffen in Form von Diagrammen. Indem wir durch Linien und Skizzen die unkörperlichen Dinge „verkörpern“, holen wir diese in die körperlich-sinnliche Sphäre hinein, wodurch wir sie nicht nur repräsentieren und speichern, sondern vor allem auf eine Weise untersuchen können, die ohne graphische Veranschaulichung gar nicht möglich ist. Diagramme dienen also nicht nur der „besseren Veranschaulichung“, sondern sie erweitern unsere Erkenntnis – komplexe theoretische Probleme werden durch Diagramme erst lösbar. Krämer beruft sich auf Leibniz, der der Überzeugung war, dass Zeichen nicht nur temporäre Vertreter geistiger Entitäten wären, sondern dass wir gar nicht anders können, als im Medium der Zeichen zu denken. Während Vorformen der Lautsprache auch im Tierreich vorhanden sind, gibt es „Graphismus“ und so etwas wie einen „kartographischen Impuls“ nur beim Menschen. Tiere kritzeln nicht, wie es unsere Kinder tun, sie ritzen keine Linien und Kerben in Knochen, wie unsere frühen Vorfahren, zeichnen keine Linien mit einem Stock in den Sand, etwa die Schattenlinie eines Menschen nachzeichnend. Doch genau in diesem Graphismus, im menschlichen Vermögen, „Inskriptionen“ herzustellen, sinnlich erfassbare „Abbilder“ der Wirklichkeit zu schaffen, gilt in der Wissenschaft der Diagrammatologie als der Anfangsgrund allen komplexen Denkens. Laut Sybille Krämer bewegt sich verstehendes Denken immer in einem „epistemischen Raum“, der eine Fläche ist, auf der wir mittels Linien einerseits Gegenstände und andererseits die Beziehungen zwischen diesen Gegenständen darstellen. (Diagrammatologisches findet sich auch bei Jullien, wenn er etwa vom linearen, kurvenartigen Zusammenhang zwischen den Steinen auf einem Damebrett spricht, um metaphorisch den Zusammenhang zu veranschaulichen, welchen das aus vier Begriffen bestehende Urteil zum ersten Hexagramm darstellt. Ganz zu schweigen von den 64 Hexagrammen selbst, die ein vollständiges diagrammatologisches System verkörpern.)
Mit dem diagrammatologischen Ansatz, wie er von Krämer vertreten wird, war Arnold Keyserling nicht vertraut, aber dass sich Reflexion, bzw. Verstehen immer in der Fläche vollzieht, ist im Rad formal begründet. Das geometrisch-arithmetische fünfstufige Dimensionsmodell des Rades (siehe Abb. 2, S 79), das in Entsprechung zur menschlichen Bewusstseinsstruktur steht, erweist das Denken als die Bewusstseinsfunktion der 2. Dimension. (Den fünf Dimensionen von 0D bis 4D entsprechen dabei die fünf Zahlenarten der Zahlentheorie –natürliche, ganze, rationale, reelle und komplexe Zahlen, die Keyserling mit den fünf Bewusstseinsstufen Gewahrsein, Wachen, Reflexion, Traum und Schlaf in Beziehung gesetzt hat.) Keyserlings Ansichten über die erkenntnistheoretische Bedeutung der Geometrie gehen über die der Diagrammatologie in ihrer heutigen Verfassung noch hinaus. Auf den ersten Blick wirkt dieses Konzept vielleicht wie eine eklektische Ansammlung von Versatzstücken aus den Natur-, Geistes- und Formalwissenschaften. Doch was hier vorliegt, ist eine holistische Systemik auf Grundlage des analogen Denkens, dessen Aneignung kein distanziertes akademisches Studium, sondern rituelle Einübung, persönliches Experiment und Wagnis erfordert. Solche Ansätze zählt man zur Esoterik, ein Begriff, mit dem man heute allerdings jeden abergläubischen Unsinn etikettiert. Daher wird – wenn überhaupt wahrgenommen – Keyserlings Werk eben nur als „Esoterik“ abgetan, und spielt im gegenwärtigen philosophischen Diskurs keine Rolle.
Insbesondere ein qualitativ völlig anderes Raumkonzept als in der Diagrammatologie findet sich bei Keyserling, insofern der reale Raum bei ihm als heiliger Raum gewürdigt wird, als Zugang zur Transzendenz. Er nahm Anleihe beim Raumverständnis der Altsteinzeit, wie es durch die nordamerikanischen Indianer tradiert wird, und ihm durch Heymeost Storm und Swift Deer vermittelt wurde. Die acht Richtungen der horizontalen Ebene und die Richtungen oben und unten gelten dabei als transzendente, subjekthafte Wirkmächte, mit denen der Mensch – selber ein Subjekt – in Dialog treten kann. Keyserling erkundete aber vor allem die Strukturen der Zeit, wie sie durch die Gesetze schwingender Körper zum Ausdruck kommen, und knüpfte damit bei Pythagoras an. Für Pythagoras waren die Zahlen (bzw. die Gesetze der Musik) der Stoff, aus dem das Universum „gewoben“ ist. Erinnern wir uns an Julliens Überzeugung, über das „gemeinsame Gewebe“ (in welchem europäisches und chinesisches Denken zwei verschiedene Faltenwürfe sind) ließe sich gar nicht reden, da es nichts begrifflich Fassbares, keine Universalien oder Kategorien birgt. Aus der Sicht des Rades lässt sich aber über dieses gemeinsame Gewebe, über die überall gleiche Textur durchaus etwas Klares sagen. Und zwar, dass diese Textur bestimmt wird durch die Gesetze der Mathematik (der Musik) bzw. durch die Fältigkeiten der ersten zehn Zahlen. Tatsächlich spielen auch im chinesischen Denken Musik und Zahlen eine elementare Rolle. Zu den Grundlagen des I Ging gehören neben astronomischen Gegebenheiten vor allem die Gesetze der Musik. So werden etwa die beiden ersten Hexagramme, das Schöpferische und das Empfangende, traditionell auch als männliche und weibliche Sechstonleiter gedeutet. Musik ist reiner Sinn, und zwar nicht logischer, sondern der, den Jullien in Chinas Denken verortet hat: der Zusammenhang. In der Musik existiert „Zusammenhang“ als Rhythmus, als Harmonie und als Melodie. Granets Erörterungen über das chinesische Denken lassen einen ahnen, inwiefern China Sinn immer schon als musikalischen Zusammenhang begriffen hat. Jullien aber scheint dieses Thema weitestgehend auszusparen, vielmehr führt er gar das musikalische Paradigma, bzw. den Melodieverlauf, was manche europäische Autoren doch immer wieder als Metapher für den Lauf der Zeit verwenden, wiederholt als Beispiel für deren fatales Zeitverständnis an.
Tatsächlich ist aber Musik-hören das fundamentalste Paradigma des Sinnerfassens. Aus diagrammatologischer Sicht ist dazu aber noch hinzuzufügen, dass die elementare Bedeutung der musikalischen Gesetze für unser Sinnerfassen erst verstehbar wird, wenn man die musikalischen Verhältnisse als Linien auf einer Fläche darstellt. Vor allem aber gilt, dass die so gewonnenen harmonikalen Grundlagen der Welt ihren wahren Zweck und tiefste philosophische Bedeutung erst offenbaren, wenn sie als die Grundlage der Astrologie begriffen werden. Töne entsprechen dort den Planeten, Intervalle den Aspekten zwischen den Planeten, und der 12-fältige Quintenzirkel dem Lauf der Zeit als einem Wechsel von Qualitäten. Keyserling hat dieses uralte Wissen vom Wandel der Phänomene nach Maßgabe der harmonikalen, der „musikischen“ Verhältnisse neu artikuliert und im Rad rational zugänglich gemacht.
Das Rad ist also eine flächige Darstellung der fundamentalen arithmetischen und geometrischen Elemente, mythischen Symbole, Töne und Farben, welche die Anfangsgründe allen unterscheidenden Denkens und aller Vorstellungsbildung darstellen. Es ist somit die Systemik der kleinsten gemeinsamen Nenner aller möglichen Bedeutungsfelder. Mittels dieses Werkzeugs wird einsichtig, dass auch so grundverschiedene Kulturen wie China und Europa einer gemeinsamen Vernunft entspringen. Die Sprache des Rades ist vergleichbar dem periodischen System der Elemente (PSE) als Bausatz aller Materieformen, oder vergleichbar dem genetischen Code, der die Grundlage aller Vielfalt der Lebensformen bildet. So wie der gleiche Code in Giraffen wie in anaeroben Bakterien wirkt – auch wenn Säugetiere und Bakterien (die anaeroben Bakterien nicht einmal Sauerstoff atmend) wenig gemeinsam zu haben scheinen – so wirkt das Rad als gemeinsamer Code allen Denkens und Verstehens hinter den verschiedensten Weltanschauungen und Theorien. Das „Alphabet“ allen Empfindens, Denkens, Begehrens und Wählens aber sind die Zahlen. Das von Keyserling entwickelte „Rad“, anfangs von ihm als „Rosenkreuz“ und als „Kriteriologie“ bezeichnet, liefert also den rational erfassbaren, gemeinsamen Grund aller Vielfalt der materiellen Außenwelt und des Innenlebens des Menschen. Indem mit seiner Hilfe alle Weltbilder auf ihre einfachsten Elemente zurückgeführt werden können, ermöglicht es die Überwindung jeglicher Ideologie-Fixierung. Letztlich ist es nur eine einfache Grafik, die man auf Papier oder Tuch drucken und an die Wand hängen kann, erfordert und ermöglicht aber ein sprachliches Ausdeuten, das äußerst vielfältig ausfallen kann. Es beschränkt jedoch zugleich diese vielen möglichen Spekulationen und hält sie in den Grenzen einer Vernunft, die durch seine geometrische Strukturgestalt umrissen ist.
Was ist das aber für eine Vernunft? Ist es jene, die die Entwicklung der europäischen Kultur bestimmt hat, und die insbesondere im 20. Jahrhundert wegen desaströser Fehlentwicklungen unter massive Kritik geriet, und welche Jullien strikt von der Geisteshaltung der Chinesen abgrenzt, weil deren Vernunft in seinen Augen etwas völlig anderes ist? Oder ist es eine Vernunft, die nicht zwangsläufig in die Falle einer beschränkten Rationalität führt, und der chinesischen gar nicht so unähnlich ist?
Bevor wir uns weiteren Aspekten des Raddenkens zuwenden, wollen wir im folgenden Kapitel Grundzüge des europäischen Vernunftbegriffs, insbesondere Kants Auffassung davon, etwas näher erörtern, und einige Unterschiede und Identitäten zwischen dieser Denkweise und der Denkweise des Rades hervorheben.
Abbildung 1: Das Rad