Schule des Rades

Dago Vlasits

Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades

Teil II – 11   Vernunft, Verstand und Sinnlichkeit

Das lateinische Sprichwort Sapere aude, wörtlich mit Wage es, weise zu sein! zu übersetzen, hat Kant als Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ins Deutsche übertragen und als Leitspruch der Aufklärung bestimmt. Was ist dieser Verstand, wie funktioniert er, was ist Vernunft, was Erkenntnis? Im allgemeinen Verständnis werden die Begriffe Verstand und Vernunft mit dem jedem Menschen gegebenen Sprach- und Denkvermögen assoziiert. Lateinisch heißt dieses Denkvermögen rationalitas, was sich von ratio ableitet, das so viel wie Vernunft, Verstand, Berechnung, Verhältnis, Grund oder logische Begründung meint. In dieser Wortwurzel ist noch alles vereint, was im Laufe der Geistesgeschichte voneinander abgegrenzt und gesondert definiert wurde. Was aber eigentlich das Wesen der Vernunft ist, ist noch immer Gegenstand der philosophischen Diskussion, und der seit der Aufklärung tradierte Vernunftbegriff wurde und wird in Frage gestellt, da sich dieser als defizitär erwiesen und zu destruktiven Wirkungen geführt hat. Dieses tradierte Konzept ist allerdings im Vergleich zu Kants Begriff von Vernunft sehr reduziert, und mit dessen Auffassung nicht gleichzusetzen. Aber auch Kant wurde kritisiert, da auch sein Konzept die Natur des Menschen beschneidet. Insbesondere scheint Kant der Emotionalität, und insgesamt dem, was beim Menschen das Irrationale und Chaotische, das „Unvernünftige“ ist, nicht die gebührende Bedeutung zu geben.

Trotz aller berechtigten Kritik am überkommenen Vernunftbegriff hat aber die Forderung nach Vernünftigkeit natürlich nicht ausgedient, sie ist unverzichtbar, denn Vernunft war und ist immer und überall eine Bedingung des Zusammenlebens. Denn mögen in einer Kultur auch die abstrusesten Glaubensüberzeugungen die Basis für Gesetze und Sitten bilden, ihre Formulierung, Befolgung, Durchsetzung und Aktualisierung folgt der Rationalität. Dass also selbst bei irrationalsten Prämissen und Zielen im Handeln und Sprechen dann doch die sogenannte Vernunft waltet, heißt einfach nur, dass eben alle Menschen (mehr oder weniger gut) denken. Diese Art von Rationalität genügt den Belangen des Alltags und lässt einen in der eigenen Gruppe als vernünftig und verständlich erscheinen. Sie reicht aber nicht aus, um in allen Fällen eine Kollision mit der rationalen Praxis einer anderen Gruppe zu vermeiden. Denn was in einem System als rational gilt, kann in einem anderen äußerst irrational sein. Rationalität betätigt sich also in jedem Bedeutungsfeld, ein Verbrecher kann sehr rational vorgehen, ein helfender, empathischer Mensch genauso. Es kommt auf die Prämissen und die Wahl der grundlegenden Werte an, welche Schlussfolgerungen und Ableitungen als vernünftig gelten. Es sind die verschiedenen Anfangsgründe, die manchmal unüberwindliche Schranken zwischen den Kulturen darstellen. Wie können die sich aber verständigen, wenn sich ihre „Rationalitäten“ nicht decken, wenn sie sich gegenseitig für unvernünftig halten? Ist es überhaupt möglich, gemeinsam zur Vernunft zu kommen, sich auf eine allen immer schon zugängliche Vernunft zu beziehen?

Rational zu sprechen heißt, etwas so zu begründen, dass es auch für den anderen nachvollziehbar ist. Aber offenbar gelingt uns das nicht so ohne weiteres, wie wir aus vielen missglückten Gesprächen wissen. Und das ist nicht nur der Fall, wenn etwa eine auf religiösen Dogmen gegründete Kultur einer Kultur gegenübersteht, die sich als aufgeklärt und rational versteht. Auch Diskurspartner, die sich miteinander um rationale Argumentation bemühen, können sich uneins sein über das Allgemeingültige. Gibt es vielleicht das Allgemeingültige, die eine Vernunft gar nicht? Oder gibt es sie zwar, aber sie ist vielleicht nur eine Art dürre „Maschinenvernunft“, welche die Fülle des Lebens und die wesentlichen Belange des Menschen gar nicht erfassen kann? In diesem Sinne ist Wittgenstein zu verstehen, wenn er behauptet, dass wenn alle wissenschaftlichen Fragen gelöst, die entscheidenden Fragen des Menschen überhaupt noch nicht berührt sind. Dass diese Fragen, also etwa die nach dem Sinn des Ganzen, den Werten oder der Religion und die Antworten darauf dem wissenschaftlichen Zugriff entzogen sind, heißt für ihn aber nicht, dass sie sinnlos und daher aufzugeben wären. Nicht wenige sind heute genau dieser Ansicht, und glauben, dass etwa die Frage nach dem Sinn des Lebens vergeblich ist, da ein logischer und wissenschaftlicher Blick auf das Ganze uns keinen objektiven Sinn offenbaren kann. Wittgenstein allerdings war nur der Ansicht, dass wenn man auf diese Fragen in wissenschaftlicher Manier Antworten gibt, man Unsinn produziert. Alles was man Metaphysik nennt, wäre solcher Unsinn. Aber er meinte auch, dass er niemals das metaphysische Streben des Menschen verächtlich machen würde.

So spricht jemand fast zweihundert Jahre nach Kant, dessen Werk einen Höhepunkt der kritischen Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und den Grenzen der Vernunft, des Verstandes und der Sinnlichkeit bedeutet. Kants Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft beginnt mit dem Befund, dass unsere Vernunft von Fragen bedrängt werde, die sie nicht abweisen kann, da sie ja aus ihr selbst entspringen, die sie aber nicht beantworten kann, weil die Antworten jenseits ihrer Grenzen liegen. Dennoch wurden immer wieder Antworten gegeben, sie bilden die Metaphysik, einen Kampfplatz endloser Streitigkeiten, da nichts davon als sicheres Wissen gelten kann. Daher hatte Kant die alte, dogmatische Metaphysik verworfen, die meinte, über das Transzendente gültig Aussagen machen zu können. Doch die prinzipielle Möglichkeit von Metaphysik bestritt er nicht, vielmehr war seine Absicht, die Grundlagen zu schaffen für jegliche mögliche Metaphysik zukünftiger Zeiten.

Nach Kant muss der Mensch vom gewöhnlichen Verstand, der immer auf abgegrenzte, partikuläre Phänomene gerichtet ist – also das praktische und wissenschaftliche Denken – zu der den Verstand übersteigenden Vernunft weiterschreiten, um zum Sinn des metaphysischen Fragens und Antwortens durchzustoßen. Denn die Fragen, was der Sinn des Ganzen, was das Wesen unseres Subjekt-Seins ist, was das Gute ist, nach dem sich der Einzelne richten soll, oder warum überhaupt etwas ist und was dessen Ursprung – diese Fragen sind auf ein Totales, Ganzes, Umfassendes gerichtet, welches der Verstand nicht fassen kann. Die Welt als Ganzes, die unsterbliche Seele und der göttliche Urgrund gehören zu dem, was Kant das Übersinnliche nennt. Sie sind keine wissenschaftlichen Gegenstände, über die man ein sicheres Wissen besitzen kann. Aber die Vernunft, zu deren eigentlicher Natur es gehört, dass sie eben auf die Totalität, auf das Ganze gerichtet ist, eröffnet laut Kant den Zugang zu dieser übersinnlichen Wirklichkeit in Form der Ideen von Gott, Seele und Welt. Wenn also die menschliche Verstandeserkenntnis samt ihren Sinnesanschauungen an ihre Grenze stößt, drängen sich dem Denken diese Grenzbegriffe auf, bzw. darf und soll der Mensch das Sein dessen postulieren, auf welches diese Begriffe hinweisen. Da es für diese Begriffe bzw. Ideen keine sinnliche Anschauung gibt, ist dieses reine Denken freilich „nur“ ein Glauben bzw. Postulieren. Doch um ganz Mensch zu sein und zu werden, muss man sein Leben auf diese Ideen ausrichten.

Wozu uns Kant auffordert, ist eine Revolution in der Art des Denkens, wobei diese Revolution nichts ein für alle Mal Erreichtes ist, sondern ein ins Unendliche reichendes Unterfangen, das dem Menschen aufgegeben ist. Und wer glaubt, ein endgültiges, sicheres Wissen über diese Dinge zu besitzen, irrt sich. Insbesondere im fortgeschrittenen Alter wollte aber Kant seine Einsichten über die Vernunft dann doch als Wissenschaft verstanden wissen, und hat metaphysische Doktrinen entworfen. Karl Jaspers, der Kant als bahnbrechenden Neuerer und für alle nach ihm Kommenden als einen Unumgänglichen betrachtete, meinte, Kant stünde noch in der jahrtausendealten Tradition, für die alles was methodisch ist, auch Wissenschaft ist.

In seinem Versuch, aus den Einsichten, die uns die auf das Übersinnliche gerichtete Vernunft liefert, feste Doktrinen zu formulieren, genauso wie der wissenschaftliche Verstand nachprüfbare, beweisbare Einsichten über die empirisch erfassten Gegenstände formuliert, scheint Kant also in die Irre zu gehen. Oder waren es doch die ersten Schritte in Richtung einer „zukünftigen Metaphysik“, die der Zerstörer der „alten Metaphysik“ ja für möglich hielt? Wie dem auch sei, an Kants doktrinären Tendenzen besteht wohl sicher eine berechtigte Kritik. Wer aber glaubt, Kant wäre insgesamt überholt, der hätte ihn nicht verstanden, ist Jaspers überzeugt, und schreibt: „Was Kant sei und was er dachte, ist keineswegs eindeutig und objektiv endgültig zu wissen. Er hat sich als der erzeugende Denker erwiesen, der mehr blieb als das Erzeugte. Er wurde nicht aufgenommen in ein Größeres, nicht überwunden, nicht herabgesetzt zu einer Möglichkeit neben anderen. Kants Schritt ist einzig in der Weltgeschichte der Philosophie. Seit Plato ist im Abendland kein Schritt getan, der in der herben Luft des Denkens so umwendende Folgen hat.“

Doch abgesehen von Kants anspruchsvollem Vernunftverständnis scheint Vernunft, bzw. Rationalität offenbar etwas sehr Gewöhnliches zu sein, was uns auf Schritt und Tritt begegnet, und jedem zugänglich ist. Jeder ist vernünftig und rational, wenn er folgerichtig denkt und handelt, zur Erreichung eines als gut befundenen Optimums. Geht es hier vielleicht um zwei verschiedene Phänomene? Gemäß Kants Auffassung handelt es sich dabei um den eben erwähnten Unterschied von Vernunft und Verstand. In seinem philosophischen Unterfangen, den Geltungsanspruch der Vernunft zu begründen, erklärt er das Erreichen der Vernunft, die er als den eigentlichen Charakter des Menschlichen begreift, als das Erreichen einer Revolution in der Denkungsart. Denn nicht irgendeine Sache gilt es zu erkennen, sondern das Erkennen selbst. Da sich alles Erkennen in der Subjekt-Objekt Spaltung vollzieht – immer steht dem erkennenden Ich ein Objekt gegenüber – will Kant wissen, wie sich das Objekt dem Subjekt vermittelt. Er will in das Wesen dieser Spaltung eindringen, will zu dem Grund vorstoßen, aus dem diese Spaltung entspringt, bzw. zu dem, was sie umgreift. Nun überwindet diese Subjekt-Objekt-Spaltung auch der Mystiker, indem er das Denken überwindet, bzw. ausschaltet, also einen Zustand, die sogenannte „unio mystica“ erreicht, in welchem das Ich, bzw. das „Ich denke“ nicht mehr existiert. Kant aber fragt und antwortet immer innerhalb der Spaltung, um mittels des Denkens zu dem zu kommen, was über das Denken hinausgeht. Sein Denkweg führt ihn daher zu klar artikulierten Einsichten über die Struktur der Vernunft, die erkenntnistheoretische, ethische und politische Relevanz besitzen. Und an die Grenzen der Erkenntnis gelangend, wird er auch der Transzendenz gewahr: der Welt als eines sinnvoll zusammenhängende Ganzen, des Göttlichen als dem schöpferischen Ur-Grund von Allem, und der Unsterblichkeit des Seins, an der die Seele teilhat. Derart fundamentale Vernunftschlüsse zieht Kant aber ohne zu meinen, nun etwas sicher erkannt, zwingend abgeleitet oder bewiesen zu haben. Dieses Denken konstelliert nur die Offenheit, in der sich der Mensch entscheiden kann, glaubend dieses transzendente Sein zu postulieren und als eine Realität anzunehmen. Erst aus dieser Realität heraus können sich ihm seine volle Verantwortung und der umfassende Sinn erschließen.

Wer Kant nur als Schöpfer eines psychologischen, logischen, methodischen oder metaphysischen Systems versteht, hat ihn missverstanden, warnt Jaspers, dem man in seinem Buch „Die großen Philosophen“ als kompetenten Lehrer und Interpreten von Kants Gedankenwelt kennenlernen kann. In diesem rund tausend Seiten zählenden Werk, wo er Sokrates, Buddha, Konfuzius und Jesus als „die maßgebenden Menschen“, Plato, Augustin und Kant als „die fortzeugenden Gründer des Philosophierens“, und Anaximander, Heraklit, Parmenides, Plotin, Anselm, Spinoza, Laotse und Nagarjuna als „aus dem Ursprung denkende Metaphysiker“ behandelt, wird die überragende Bedeutung, die er Kant zuschreibt, nicht zuletzt dadurch deutlich, dass der Teil über Kant an die zweihundert Seiten einnimmt. Dort schreibt er über dessen historische Wende in der menschlichen Denkweise:

Die alte dogmatische Metaphysik transzendierte denkend im Gegenständlichen zu einem übersinnlichen Gegenstand des übersinnlichen Seins an sich oder Gottes. Kant transzendiert über das gegenständliche Denken gleichsam rückwärts zur Bedingung aller Gegenständlichkeit. An die Stelle der metaphysischen Erkenntnis einer anderen Welt tritt die Ursprungserkenntnis unseres Erkennens. Das eine Mal geht der Weg in den Ursprung aller Dinge, das andere Mal in den Ursprung der Subjekt-Objekt-Spaltung. Der Abschluss ist nicht ein gewusster Gegenstand (wie in der alten Metaphysik), sondern ein Grenzbewusstsein unseres wissenden Daseins. Beide Male wird transzendiert, wird das natürlich Gegenständliche überschritten. Darum ist dieses Kantische Denken von solcher Schwierigkeit. Es verschafft keine gegenständliche Einsicht, daher kein Ergebnis der nunmehr aussagbaren Sache, sondern nur die Möglichkeit, sich dessen zu vergewissern, was im Vollzug hell wird, der im Denken das Denken überschreitet.“

Und zu dem, was gemeinhin als Kants Erkenntnistheorie und Ideenlehre gehandelt wird, merkt er an: „Kant unterscheidet den Verstand, der in bestimmten Begriffen durch anschauliche Erfüllung Erfahrungserkenntnis findet, von der Vernunft, die durch Schlüsse über das in der Anschauung Erfüllbare hinaus auf die Totalität der Reihen, auf das Ganze der Welt geht. Im Verstand wird nur immer einzelne Erfahrungserkenntnis gewonnen, in der Vernunft liegt der Drang zur Vollständigkeit. Der Verstand ist das Vermögen der Kategorien bestimmter Gegenstände, die Vernunft das Vermögen der Ideen der ungegenständlichen, unbestimmten Totalität.“

Die Vernunft ist also dadurch ausgezeichnet, dass sie die Begrenztheit des ihr zuarbeitenden Verstandes erkennt, welcher zusammen mit der sinnlichen Erfahrung bzw. Anschauung regelgeleitet vorgeht und die Erscheinungen, also unsere Wirklichkeit, hervorbringt. Der Verstand und die Sinnlichkeit sind die „zwei Stämme“, aus denen sich alle unsere Erkenntnis speist, wobei Kant die gemeinsame Wurzel dieser zwei Stämme als „Geheimnis“ bezeichnete. Sie bringen unsere erlebte Realität hervor, doch sie bringen sie nicht ihrem Sein nach hervor, sondern nur ihrer Form nach. Das heißt, wir zaubern oder konstruieren uns die Wirklichkeit nicht ins Dasein, aber was uns als Realität erscheint, ist bedingt durch unsere Verstandeskategorien, (Substanz, Einheit, Kausalität, Negation…) die a priori gegeben sind, und ist bedingt durch die sinnlichen Vorstellungsformen von Raum und Zeit, die ebenfalls a priori allem Erfassen vorausgehen. Der a priori -Charakter gilt natürlich auch für das „ich denke“, das Erkenntnissubjekt, das jede mögliche Erfahrung immer begleitet.

Die Vernunft ist imstande, all diese Strukturen zu durchschauen, und während der Verstand auf das sinnlich Gegebene, das Anschauliche angewiesen ist, erkennt die reine Vernunft, unabhängig von der Sinnlichkeit, auch das Ungegenständliche, Übersinnliche in Form der Ideen von Welt, Seele und Gott.

Noch einmal zusammengefasst: Unsere Sinnlichkeit erfasst die Wirklichkeit immer innerhalb der Formen von Raum und Zeit, als ein Nebeneinander und ein Hintereinander, die nicht in der Außenwelt, sondern a priori gegeben sind. Und der Verstand arbeitet immer schon mit a priori gegebenen Kategorien, (die sich in unserer Fähigkeit der „Abstraktion“ und „Verallgemeinerung“ zeigen), die ebenfalls nicht an der äußeren Wirklichkeit festgemacht zu sein scheinen.

Und nach dem Sinn des Ganzen fragend, bzw. in Ihrer Fähigkeit, über das positiv Gegebene hinaus Schlüsse zu ziehen, erkennt die Vernunft auch die Ideen, die auf einen Sinn weisen, der über die profanen, endlichen Zwecke des bloßen Verstandes hinausgeht. Mit den Ideen eröffnet uns die Vernunft auch „Gegenstände“, die überhaupt nicht empirisch erfahrbar sind. Was die Vernunft mit ihrem Schlussvermögen erschließt, ist im Verhältnis zu den positiven, realen Gegebenheiten ein Imaginäres (Ideales). Wir belegen es mit Begriffen wie das Ganze, Gott, die Seele, die Einheit von allem, oder der ewigen All-Zusammenhang, oder der Ur-Grund.

Die elementaren Formen, Kategorien und Ideen, mit denen wir die Außenwelt als auch unsere Innenwelt erkennen, entstammen also nicht der Erfahrung – wenngleich andererseits alles kategoriale Verstandesdenken und alles Bewusstwerden der raum-zeitlichen Formen sich an Empirisch-Sinnlichem entzündet, von diesem immer begleitet ist. Denn jedes Denken und Vorstellen des Übersinnlichen, also der Ideen, die sich an der Grenze des faktisch Erkennbaren zeigen, geht einher mit Aktivitäten eines materiellen Gehirns. Man kann natürlich die Kategorien, die Formen und die Ideen völlig von aller Sinnlichkeit und Materialität abstrahieren, doch dann zeigen sich verschiedene philosophische Probleme, dann drängt sich die Frage auf, was das eigentlich für Entitäten sind, wie und wo sie denn existieren. In der Beantwortung dieser Fragen passieren dann die Verwechslungen und Verirrungen der Metaphysiker (und der allzu naiven Religiösen), wenn sie diese Gegenstände, insbesondere die Ideen, wie klar erkennbare Substanzen behandeln.

Während Platon, an diese Grenzen unserer Erkenntnis rührend, hier unsere Teilhabe an den ewigen Ideen erkennt, die unabhängig von uns, unabhängig von unserem Erkenntnisvermögen und unabhängig von jeder anderen materiellen Ausformung existieren, zeitlos, in einem transzendenten Himmel, bestimmt Kant ihren Status als transzendental. „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, beschäftigt.“

Somit gilt für Kant aber auch, dass das, was wir in der tatsächlichen Erfahrung erfassen, niemals die „eigentliche“ Realität ist, denn diese ist transzendent, für unsere verstandesmäßige Erkenntnis unerreichbar: das „Ding an sich“, das eigentliche Sein. Nur von dem, was uns innerhalb der Grenzen der sinnlichen Formen von Raum und Zeit und den Grenzen der denkerischen Kategorien erscheint, können wir mit Sicherheit wissen. Für viele Philosophen und Nicht-Philosophen hingegen endet an dieser Grenze das Wirkliche, über diese Grenze hinauszudenken ist ihrer Ansicht nach unzulässig. Doch von Kant wird dieses „jenseits der Grenze“, das Transzendente, nicht geleugnet, ist es doch das eigentliche Sein und der Grund, ohne den nichts erscheint. Gott als dieser Urgrund, und die Welt als sinnvolle Einheit und Ganzheit, und die unsterbliche Seele sind unbegreiflich, weil transzendent, nur glaubend kann man ihre Existenz anerkennen, ein Glaube, den uns die Vernunft nahelegt. Gott, Seele und Welt sind also keine Begriffe, denen sich eine adäquate Anschauung zuordnen lässt, nur die Vernunft, die den Verstand und die Sinnlichkeit übersteigt, eröffnet den glaubenden Zugang dazu. Kant nennt sie regulative Ideen. Es handelt sich dabei also um so etwas wie Leitvorstellungen, an denen der Mensch seine Lebenspraxis, sein Tun und Entscheiden orientieren soll.

Diese umrisshafte Skizze wird Kants Komplexität natürlich nicht gerecht. Soweit in dieser Vereinfachung aber doch wesentliche Gedanken Kants getroffen sind – nämlich: dass unserer Realität (nicht Schein, aber) Erscheinung ist von dem niemals fassbaren, transzendenten Sein, dem Quellgrund und Hintergrund der erscheinenden Welt und unseres Lebens; dass wir uns bewusst sein müssen, dass unsere Erkenntnis immer begrenzt ist und wir die Form der uns erscheinenden Wirklichkeit nur nach Maßgabe unserer Verstandeskategorien und den raumzeitlichen Formen unserer Sinnlichkeit gleichsam konstruieren; und dass uns aber dennoch die Vernunft über das Erfassen der transzendentalen Ideen auch eine Ahnung von und die Richtung auf das wahre Sein eröffnet – muss man feststellen, dass dieses Konzept heutzutage nicht die vorherrschende Vorstellung von Vernünftigkeit ist. Für den heute häufig anzutreffenden Typus von rationalem Menschen ist der Glaube an das, was den Verstand übersteigt, das aber laut Kant vernünftigerweise zum Leben hinzugenommen werden, bzw. postuliert werden muss, nur unverbindliche Spekulation, oder Zeichen einer gewissen Geistesschwäche des Menschen und seiner Manipulierbarkeit durch religiöse Dogmatiker oder windige Esoteriker.

Wer im Sinne Kants zur Vernunft gekommen ist, wird sich diesen Urteilen nicht anschließen, aber in Bausch und Bogen alle Behauptungen Kants akzeptieren können wir auch nicht. Wir wären schlecht beraten, würden wir sein Vernunftskonzept und die daraus gefolgerten Konsequenzen bloß dem Wortlaut, und nicht dem tieferen Sinn nach übernehmen. Auf seine doktrinären Anwandlungen wurde schon hingewiesen, zu Recht schrecken wir davor zurück. So vertritt er etwa den Grundsatz, dass man um der Unversehrtheit der Wahrheit und Wahrhaftigkeit willen immer der Pflicht folgen soll, die Wahrheit zu sagen, denn jede Lüge gefährdet den Bestand der Wahrheit überhaupt. Eine solche Einstellung kann unter Umständen tödlich enden – auch für andere. Man müsste dann beispielweise einen Freund, den man bei sich versteckt hat, den Nazi-Schergen ausliefern, wenn diese an unsere Tür klopfen und nach ihm fragen. Wir dürfen nach Kant überhaupt nicht emotionalen Augenblicksneigungen folgen, sondern nur der Pflicht, die sich aus dem schon zuvor als richtig eingesehenen vernünftigen Prinzip zwingend ableitet. (Verstößt man gegen diese Pflicht, wird die Lage nur noch schlimmer, war Kant überzeugt). Auch die bestehende politische Ordnung darf nach Kant nicht hinterfragt und kein Umsturz vorangetrieben werden, da dadurch das Prinzip der Ordnung überhaupt in Gefahr gerät. Idealismus und Prinzipienreiterei, auch von Kants Zuschnitt, können einen erschreckend weit am Leben vorbeileben lassen. Auch Jaspers stößt sich an Kants Rigorosität und fragt, ob nicht Kant „der Ergänzung bedarf durch das, was als Liebe nicht nur ‚Neigung‘, sondern selbst ‚Unsterblichkeit´, selber Vernunft und die Kraft aller Vernunft ist.“

Im Sinne dieses Einwands, dass Kant das Wirken der Vernunft in all ihren Gestalten, etwa in der der Liebe, nicht erkennt, würde ich noch hinzufügen, dass wir Kant auch in seiner Geringschätzung der Emotionalität, des Chaotischen, des Traumes, des Visionären und Imaginalen – alles dessen, was man vereinfachend als außerrational oder als irrationale bezeichnet, und was man vielleicht auf den ersten Blick nicht unter die transzendentalen Ideen von Gott, Seele und Welt einordnen kann – ebenfalls nicht folgen sollten. Schließlich legt er selber davon Zeugnis ab, dass die Vernunft gar nicht immer „vernünftig“ ist, und berichtet, wie sich die Vernunft in seinem Geist in einem chaotischen Prozess manifestiert hat. Er war im Erstellen seines epochalen Werks nämlich nicht der trockene „Gedankeningenieur“, der mit zwingender Logik rigide sein System aus einem Prinzip ableitet. Er war von der kreativen Kraft getragen, die jenseits der rationalen Planung liegt. Es handelt sich hierbei um das, was wir weiter unten unter dem Thema wollen und Fügung diskutieren werden, also um die Erfahrung, dass unterschiedliche Intentionen und Ereignisse, Dinge aus unterschiedlichen Lebensphasen, die sich wie zufällig aneinanderreihen, sich schließlich als sinnvoller Zusammenhang erweisen. Jaspers schreibt dazu: „Kant macht die Erfahrung, wie die Gedanken, aus verschiedensten Anlässen und Ursprüngen gewonnen, sich erstaunlich zusammenfügen, einander ergänzen, bestätigen und tragen. Erst beim Ausarbeiten der neuen Wissenschaft, sagt er, habe er ihre große Ausbreitung bemerkt“.

Man kann Jaspers nur Recht geben, wenn er meint, „Kant ist zu ergänzen, aber so, dass dadurch erst die Wahrheit und Kraft seiner Philosophie ganz zur Geltung kommen“. Dem wird man wohl selbst dann noch gerecht, wenn man etwa sein Kategoriensystem nicht übernimmt, und das Kategoriale und Ideale in einer anderen Weise begreift, und dem Mathematischen einen anderen Status zuweist, als er es tut. Kants Hochschätzung der Mathematik kommt in seiner Einsicht zum Ausdruck, dass in einer Wissenschaft nur so viel Wissenschaft ist, als Mathematik in ihr steckt. Für die Philosophie wäre aber die mathematische Methode ungeeignet, die Philosophie wäre letztlich im Sprachlichen gegründet. Daher kommt Kant zu einer Tafel von 12 Verstandeskategorien, die er in vier Gruppen teilt,

Quantität: Einheit / Vielheit / Allheit

Qualität: Realität / Negation / Limitation

Relation: Substantialität (Inhärenz) / Kausalität (Dependenz) / Gemeinschaft (Wechselwirkung)

Modalität: Möglichkeit (Unmöglichkeit) / Dasein (Nicht-Dasein) / Notwendigkeit (Zufälligkeit),

und zu ihnen entsprechende Urteilsformen und 4 Grundsätzen des reinen Verstandes, die den Gebrauch der Kategorien regeln. Das alles zusammen bildet in Kants System die Anfangsgründe des produktiven Denkens und Philosophierens.

Keyserling hingegen entwirft kein System von sprachlichen Grundkategorien. Wenn er als Anfangsgrund des Philosophierens ein geometrisch-arithmetisches System wie das Rad konzipiert, und alles philosophische Sprechen – und alles Sprechen überhaupt – als ein Sprechen aus diesen mathematischen Urformen heraus versteht, setzt er die Fältigkeit der Zahlen als kreativen Grund aller Erscheinung und allen Erkennens voraus. Sie bilden die Nahtstelle zwischen den vielfältigen Erscheinungen und dem unfassbaren Grund ihres Seins. Statt eines Kategoriensystems gibt es im Rad also nur zehn natürliche Zahlen. Behält man Kants Begrifflichkeit bei, könnte man sagen, dass diese Fältigkeiten die Faltungen unserer Vernunft, unseres Verstandes und unserer Sinnlichkeit bedingen. Keyserling übernimmt diese Terminologie aber nicht, sondern unterscheidet das Wirken der 10 Zahlen in den vier Bewusstseinsfunktionen des Empfindens, des Denkens, des Fühlens und des Wollens, bzw. zeigt, wie das Gewahrsein und die vier Bewusstseinsfunktionen in den fünf Zahlenarten der Zahlentheorie ihre formale Grundlage besitzen.

Kants Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft scheint mir wert, erinnert zu werden. Sie ist aber den meisten Menschen nicht geläufig. Das Beklagenswerte daran ist nicht, dass die wenigsten Lust zur Kant-Lektüre verspüren, sondern dass diese Unterscheidung nicht Teil ihrer Lebenspraxis ist. Auf welche Unterscheidung sollen wir laut Kants Sprachregelung also achten? Vielleicht lohnt es sich, die eben besprochenen Verhältnisse in Wittgensteins Sprache zu übersetzen. Der Autor des „Tractatus logico-philosophicus“ war der Überzeugung, dass das, was sich überhaupt sagen lässt, sich immer klar und eindeutig sagen lässt. Und was sich so nicht sagen lässt, darüber müsse man schweigen – wenngleich das Unsagbare durchaus existiert und sich zeigen kann: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies ‘zeigt sich, es ist das Mystische.“ (Wobei sein Begriff des Mystischen nicht auf die traditionelle mystische Erfahrung beschränkt ist, sondern sich auch in gewöhnlichen ästhetischen Erfahrungen und sprachlichen Erkenntnisakten ereignet.) Für das Sagbare aber entwarf er im „Tractatus“ ein strenges, formales Modell, das wie die ultimative Spielregel für die Verwendung der Sprache als Mittel der Realitätserfassung dastand. Später wandelte sich seine Auffassung von Sprache, und in seinen „Philosophischen Untersuchungen“ vertrat er die Ansicht, dass es keine privilegierte Sprachform gibt, die als einzig richtige gelten könne. Was der Mensch vollzieht oder erfindet, sind einfach immer nur verschiedene Sprachspiele, und die Bedeutung eines Begriffs etwa hängt immer davon ab, in welchem Sprachspiel er verwendet wird. Entscheidend ist dabei auch die Einsicht, dass in einem Sprachspiel niemals alles für das Mitteilen und Verstehen Relevante tatsächlich sprachlich erfasst bzw. artikuliert wird. Denn jedes Sprachspiel ist eine „Lebensform“, ist eingebettet in eine bestimmte Lebenspraxis, einen Kontext, und vieles des zu Verstehenden und Mitzuteilenden schwingt unausgesprochen mit, und wird verstanden. (Etwa in der Geste, der Pause, der Mine, oder dem Schweigen, in dem, was nicht gesagt wird …) Es zu artikulieren ist nicht nur unnötig, sondern gar unmöglich und kontraindiziert, denn es würde die Kommunikation völlig überlasten und verkomplizieren.

Wenn man mit Wittgensteins Diktion an Kants Unterscheidung von „Vernunft und Verstand“ herangeht, wäre wohl „Verstand“ dasjenige, was sich in den verschiedenen Sprachspielen betätigt. Er ist jene Instanz, welche die Regeln und Begriffe der Sprachspiele findet, kennt, erfindet, anwendet. Die Vernunft hingegen ist an kein bestimmtes Sprachspiel gebunden – wiewohl sie in allen Sprachspielen anwesend ist und sich dort einerseits verbal, durch den Verstand ausdrückt, und andererseits auch ohne Worte einen Sinn vermittelt. Als jenes Organon, das bei Kant die engen Grenzen des Verstandes übersteigt, jenes Verstandes, der in einem seiner Sprachspiele engagiert und gebunden ist, wäre die Vernunft dann die Instanz, welche frei entscheidet, welches Sprachspiel gerade zu spielen ist. Und wenn wir mit Kant das entscheidende Problem der Beschränktheit der menschliche Erkenntnis formulieren als das Unvermögen, vom erfahrungsgebundenen Verstand zur Freiheit der ganzheitlichen Vernunft zu schreiten, dann wäre es ihm Rahmen der Wittgensteinschen Begrifflichkeit das Erliegen der Gefahr, sich mit dem Sprachspiel unangemessen zu identifizieren, also einem Sprachspiel (oft nur einem einzigen) verhaftet zu sein. Auch Wittgensteins Wort von der „Verhexung durch die Sprache“, welcher der Mensch erliegen kann, schlägt in diese Kerbe.

Einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts war der 1889, im gleichen Jahr wie Wittgenstein geborene Martin Heidegger. Wenn wir die eben besprochenen Verhältnisse auch im Rahmen seiner Begrifflichkeit, im Rahmen seines „Sprachspiels“ darstellen, dann sind diese Verhältnisse dort mit anderen Begriffen belegt. Heideggers Rede vom „rechnenden Denken“ und seine Rede vom „Gestell“ – zu dem alles zählt, was dem Wortstamm „stellen“ zuzurechnen ist: die Vorstellung; das was wir uns als Gegenstand gegenüberstellen; das, was wir bestellen; das, dem wir nachstellen etc. – besetzen den Pol, an dem Kant vom Verstand spricht. Und Kants Vernunft ist bei Heidegger das, was nach dem Sein fragt, nach dessen Sinn und dessen Wahrheit. Der gewöhnliche Mensch fragt nicht danach, er ist „seinsvergessen“ und „seinsverloren“, er lebt in der Welt des „Gestells“, ist von den Vorstellungen, den Dingen, den Gegenständen eingenommen – so wie wir oben sagten, dass der Mensch dem Sprachspiel verhaftet ist. Was ist laut Heidegger für den Menschen notwendig, um aus der Identifikation mit dem „Gestell“ zur Seinsoffenheit zu gelangen? Er muss sein Gestell in ein „Geviert“ verwandeln, er muss sein Leben zwischen vier Polen, zwischen dem Himmel, der Erde, den Irdischen und den Göttlichen ausspannen. Erst das, was uns öffnet für das Sein, ist laut Heidegger wirkliches Denken. Wissenschaftliches Denken ist seiner Ansicht nach dazu nicht imstande, „Wissenschaft denkt nicht!“, behauptete er (was von vielen als Wissenschaftsfeindlichkeit missverstanden wurde). Es scheint unschwer zu erkennen, dass der Sinn dieses Verdikts sich mit Kants Auffassung deckt, dass der bloße Verstand den Sinn und das Wesen unseres Daseins nicht richtig erfassen kann, und dass das, was nach Heidegger erst echtes Denken genannt werden darf, schlicht Kants „Vernunft“ ist.

Heutzutage spricht man in der Philosophie nicht so sehr von der einen Vernunft, sondern von den vielen Rationalitäten, und unterscheidet etwa eine reine oder formale Folgerungsrationalität, hierarchisch-architektonische Rationalität, Zweckrationalität, entscheidungstheoretische Rationalität (abstrakt-formal, strategisch-spieltheoretisch, dialogisch), Rationalität als nachträgliche Selbstrechtfertigung, Wertrationalität, Rationalität der öffentlichen Vertretbarkeit, Verständigungsrationalität, etc. Dass man zig verschiedene Formen von Rationalität unterscheiden kann, zeigt aber nur, dass es sich immer um die gleiche „Vernunft“ handelt, die sich aber an einen spezifischen Inhalt binden, sich im Rahmen einer beliebigen Semantik, eines beliebigen Sprachspiels betätigen kann. Dabei geht aber das Gewahrsein der einen Vernunft, die alle semantischen Ebene durchdringt, leicht verloren. Ja, die e i n e Vernunft scheint vielen etwas völlig Unfassbares, wenn nicht gar Inexistentes zu sein. Und doch ist jede Einigung und Übereinstimmung, jede Konfliktlösung und jeder Kompromiss, jeder gelingende Dialog in dieser einen Vernunft begründet. Es gibt keine Kommunikation und Verbindung zum anderen ohne Vernunft, ohne Rationalität.

Der europäische Vernunftbegriff, wie er sich seit der Aufklärung durchgesetzt hat, kann dank seiner praktischen Anwendung in den Wissenschaften auf eine einzigartige Erfolgsgeschichte verweisen. Unsere gesamte moderne Zivilisation legt Zeugnis von diesen Erfolgen ab. Dennoch sind uns heute manche Überzeugung des Zeitalters der Aufklärung fragwürdig geworden, etwa die, dass wenn man den Gesetzen der Vernunft folgt, man sich unweigerlich auf das Erreichen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, Wissen und Fortschritt zubewegt. Denn wie man sehen kann, ist die Geschichte der „Vernunft“ nicht nur eine Geschichte der Triumphe über Aberglauben und Tyrannei. Im dem auf die Aufklärung folgenden Geschichtsverlauf wurde die Vernunft eigentlich zur Unvernunft, zu eine Vernunft-Ideologie und -Mythologie, und offenbarte eine zerstörerische Seite. Der herkömmlichen Vernunftauffassung wird zu Recht Lebensfeindlichkeit vorgeworfen und Mittäterschaft bei so manchen menschlichen Gräueln, und sie steht zu Recht in der Kritik, geistige und kulturelle Verarmung zu verursachen, wenn sie sich zu enge Grenzen setzt und wenn nichts, was diese engen Grenzen überschreitet, Geltung beanspruchen darf. Ein falscher Gebrauch der Vernunft, ein zu beschränktes Verständnis von dem, was sie eigentlich ist und kann, bringt ein „vernünftiges“ Denken hervor, welches den Menschen wesentlicher Dimensionen seines Lebens beraubt, und vieles zerstört, was auf dem Boden sinnvoller Traditionen gewachsen ist.

Ist aber nur der falsche Vernunftgebrauch das Problem, oder ist der Vernunftbegriff insgesamt falsch und muss entsorgt werden? Wer an der Existenz der Vernunft (im Sinne Kants) nicht zweifelt, kann die Fehlentwicklungen seit der Aufklärung nur einem missverständlichen Gebrauch der Vernunft anlasten, bzw. einer Fehleinschätzung, oder einem Verkennen oder Leugnen dessen, was die Grenzen der Vernunft sind. Vor allem die Frage, was uns die Vernunft an Auskunft geben kann darüber, was jenseits ihrer selbst als ein niemals Fassbares liegt, ist ein strittiger Punkt. Kann man überhaupt – und wenn, mit welchen zutreffenden Grenzbegriffen – darüber reden? Laut Kant kann man darüber reden, nach Kant erkennt die Vernunft, wenn sie sich selbst befragt, die Aprioris der Verstandeskategorien und die Aprioris der sinnlichen Formen von Raum und Zeit. Und den Verstand und die Sinnlichkeit übersteigend, erkennt sie die Ideen von Welt, Seele und Gott. Was die Fehentwicklungen seit der Aufklärung betrifft, ist dann wohl vor allem das Abweichen von Kants Ideenkonzept dafür verantwortlich – also die Abkehr vom Denken des Allzusammenhangs, der Unsterblichkeit und des Ur-Grundes. Doch wie vorher erörtert, ist auch an Kants Konzept einiges auszusetzen. Auf jeden Fall hat sich seine Hoffnung nicht erfüllt, nämlich dass das, was er als schmalen Fußsteig freigelegt hat, einst zu einer breiten „Heerstraße“ wird.

Dago Vlasits
Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades · 2019
Teil II – 11   Vernunft, Verstand und Sinnlichkeit
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