Schule des Rades
Dago Vlasits
Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades
Teil II – 12 Rationalität im Rad
Heute wird ein Zuviel an Rationalität beklagt, wenn (eine falsch verstandene) Vernunft sich zerstörerisch auswirkt, doch genauso wird ein Zuwenig an Rationalität kritisiert, etwa wenn der sich gegenwärtig wieder breitmachenden Religion oder Esoterik vorgeworfen wird, sie würde Gründe annehmen, die nicht für alle in gleicher Weise nachvollziehbar sind – z. Bsp. Kräfte oder Einsichten, die nur in besonderen Bewusstseinszuständen erfahrbar sind, persönliche Offenbarungen, oder der Glaube an die Offenbarung, die ein anderer Mensch irgendwann in der Vergangenheit empfangen hat. Diese Kritik besteht zu Recht, wenn etwa religiös begründete Sitten mit den allgemeinen Menschenrechten kollidieren. Sie geht aber zu weit, wenn sie alle sinngebenden Einstellungen vernichtet, die vom Verstand nicht rational fassbar sind, in dem Wahn, alles was nicht rational beweisbar ist, wäre blanker Unsinn. Es ist klar, dass ein solches Urteil nur aus dem anmaßenden wissenschaftlichen Verstand resultiert, der die Dimension der Vernunft, die über das Gegenständliche hinaus ins Ungegenständliche (nach Kant das Übersinnliche) reicht, noch gar nicht betreten hat. Es ist falsch, diese Dimension für inexistent zu erklären, wo doch offenkundig ist, dass der Mensch dauernd von außerrationalen bzw. irrationalen Gründen und Quellen maßgeblich bestimmt ist, im Guten wie im Schlechten. Man lässt sich etwa durch Gefühle zu einem dummen oder verhängnisvollen Verhalten hinreißen, das ins Verderben, oder aber auch zur Erfüllung führt. Oder auch, dass man Gr0ßes schafft, beflügelt durch Liebe, durch Begeisterung, durch Verfolgen eines Traums. Oder man gründet sein ganzes Leben auf die verstandesmäßig unfassbare Wirklichkeit seines Gottes. Das, was für den bloßen Verstand außerrationale, somit irreale Gründe sind, ist offensichtlich unermesslich wirkmächtiger, als alles, was der Verstand mit seiner Rationalität an anschaulichen Gründen einsehen oder beweisen kann.
Aber wie kann generell Kommunikation gelingen, in der doch meist Rationales und Irrationales im eben erklärten Sinne miteinander verwoben sind? Sich verständlich machen heißt immer, in ein rationales Verhältnis mit dem anderen zu treten, egal, welche außerrationalen Beweggründe der Sprecher sonst noch im Spiel sind. Rational-sein für den anderen heißt demnach nicht zuletzt, sich im Gespräch mit den eigenen irrationalen Überzeugungen zurückzuhalten – vielleicht nur vorerst, solange ich sie nicht „rationalisieren“, also nicht verständlich machen kann; vielleicht auch dauernd, falls die eigene Behauptung unverständlich bleibt, sich also keine Resonanz mit dem Gegenüber einstellt.
Der berechtigte Appell, Außerrationales als psychologische Beweggründe, oder metaphysisch als letzten Quellgrund anzuerkennen, ist eine Sache, der Anspruch, für den anderen verständlich zu sein und daher Irrationalität zu vermeiden, eine andere. Beide Ansprüche sind berechtigt und notwendig. Jene Stimmen, die mangelnde Rationalität beklagen, fordern Verständlichkeit, denn nur durch gegenseitiges Verstehen ist Zusammenleben, ist Begegnung und befruchtende Interaktion möglich. Wenn der Andere unverständlich bleibt, kann man ihn bestenfalls tolerieren, was konsequenterweise oft nichts anderes heißt, als ihm auszuweichen, bzw. im bloßen Nebeneinander zu existieren. Trotz vorläufig friedlichem Nebeneinander kann man sich dann aber doch auch in die Quere kommen. Dann zeigt sich, dass das Begnügen mit Toleranz ohne Verstehen nicht ausreicht, denn Nicht-Verstehen heißt letztlich Krach – von der harmlosen Meinungsverschiedenheit bis zum Krieg.
Der post-moderne Geist ist von der Überzeugung getragen, dass kein rationales System jemals als fundamental und universell gelten kann. Lässt sich dann überhaupt etwas Substantielles über Rationalität sagen, über die Vernunft, die uns (gegenseitiges) Verstehen ermöglicht, die uns so etwas wie eine gemeinsame Welt und gemeinsame Wahrheit erkennen lässt? Handelt es dabei immer nur um einen konstruierten, relativen Konsens? Oder gibt es neben der (immer notwendigen) dialogischen Suche nach dem Gemeinsamen, der Suche und der Konstruktion dessen, was für alle Gesprächspartner verständlich ist, auch ein allgemeines System, das alle erkennen können? Keines, das man gemeinsam konstruiert, sondern eines, das ohnehin immer schon wirksam ist, und nur mehr bewusst werden muss? Im vorigen Kapitel habe ich versucht kurz darzustellen, wie Kants positive Antwort auf diese Frage ausgefallen ist, bei Jullien haben wir eine negative Antwort darauf gesehen, und bei Keyserling finden wir wieder eine positive.
Wir erinnern uns: Für Jullien gibt es kein solches System, nur ein begriffloses, unfassbares Gemeinsames, das immer im Kommen ist. Es ist der gemeinsamen Intelligenz zugänglich, die aber über keinen Fundus von begrifflichen Archetypen oder Universalien verfügt. Keyserling hingegen war von deren Existenz überzeugt, wenngleich auch er sie nicht auf der Ebene der sprachlichen Begriffe angesiedelt sah. Rationalität sieht er im Mathematischen gegründet, es beruht seiner Auffassung nach im Wesentlichen auf den mathematischen Gesetzen der Musik. Gegenseitiges Verstehen bedeutet demnach immer: In-Resonanz-sein. Was in Resonanz ist, ist in einem rationalen Verhältnis.
Diese Suche nach Rationalität bzw. Resonanz (die bis zur Frage reicht, wie Resonanz, bzw. ein rationaler Zusammenhang zwischen Begriffen oder Wahrnehmungen zu finden ist, die aus verschiedenen Begriffssystemen, verschiedenen Sprachspielen bzw. unterschiedlichen Arten von Wahrnehmungsphänomenen stammen) hat also in etwas ganz Konkretem ihr Vorbild und Paradigma: in der Physik, in der Welt der Schalls, der schwingenden Massen. Dort entsteht Resonanz allerdings nur dann, wenn rationale, also ganzzahlige Verhältnisse vorliegen. (Ja, in einem noch grundlegenderen Sinn ist Resonanz sogar die Bedingung der Existenz der Entitäten füreinander. Denn was völlig irrational ist, ist mit nichts verbunden, ein solches Ding oder Wesen kann unmöglich als Teil der Welt existieren.)
Ist diese Rationalität, die alle Bedeutungsebenen der menschlichen Wirklichkeit durchdringt, in einem System zu begreifen? Wie wir gesehen haben, kann laut Jullien kein Begriffsgebäude die Vernunft fassen, Keyserling hingegen findet das Rationale formal fassbar in den Zahlen und im Gliederbau der Sprache. Bei ihm spielt der Rationalitätsbegriff der Zahlentheorie eine zentrale Rolle, also etwas, das gewöhnlich eher mit den erwähnten Schattenseiten der Vernunft assoziiert wird. Zahlen, bzw. die nackten mathematischen Relationen zwischen den Dingen und Wesen gelten ja vielen als der Inbegriff des Entseelten und Toten, und philosophisch Bewanderte werden sie vielleicht flugs Heideggers „rechnendem Denken“ zuschlagen, welches bloß die Welt des „Gestells“ erfasst.
In einem unveröffentlichten Manuskript (Lehrbuch der Systemik) bezeichnet Keyserling den Gliederbau der Sprache, der seinem Verständnis nach mathematisch ist, als den Ursprung der Vernunft: „… die rationale Ebene, die Vernunft ist weder eine Ordnung der Außenwelt noch der Innenwelt; sie hat ihren Ursprung im Gliederbau der Sprache und in dessen Anwendung auf die Erfahrungen und Offenbarungen.“ Und weiter: „Das Rationale [ … ] ist auch nicht das Ichbild; ICH als Zentrum des Lebensstils ist frei und ungebunden, genauso unvoraussehbar wie das Wetter. Nur der Stil ist das Was des ICH, der besondere Zusammenhang meines Wesens und Handelns; bei allen Menschen aus gleichen Elementen gefügt, aber in verschiedener Kombination und in verschiedenem Ausdruck, ebenso wie keine zwei Menschen den gleichen Fingerabdruck haben. Die Welt des Rationalen, der Vernunft – wie es seit Descartes und Kant genannt wird – ist die eigene Welt des Menschen. Menschwerdung bedeutet, seiner Vernunft mächtig zu sein, aus dem Sein heraus zu handeln und das eigene Wesen genauso wie das des anderen im sprachlichen Dialog zur Entfaltung zu bringen.“
Rational zu sein heißt einerseits, die Teile bzw. Elemente eines Systems, eines Sprachspiels in adäquater Weise zu identifizieren und zu benennen, um sie dann „vernünftig“ zu verknüpfen und sie in ihren kausalen, logischen oder funktionalen Zusammenhängen zu verstehen – je nach System und dessen Prämissen und wertenden Voraussetzungen. Doch zur Gewinnung eines persönlichen Lebenssinns, der über eine erfolgreiche Anpassung hinausgeht, ist bloß wissenschaftlich-rationales Denken, das immer nur in einem einzigen Bedeutungskontext bleibt, nicht ausreichend. Um in einer kreativen Weise aus der Vernunft zu leben und seinen Lebenssinn zu schaffen, gilt es alle partikulären „Rationalitäten“ zu überwinden. Vernunft, Rationalität in seiner tiefsten Bedeutung heißt dann, auf keine semantische Ebene fixiert zu sein, keine zu verabsolutieren. Es heißt, alles Konstruierte in seiner Konstruiertheit zu durchschauen, alles Begriffliche, alles Wissen bis zum Seinsgrund zu durchdringen und zur Leere des Gewahrseins durchzustoßen – unserem wahren Subjekt und kreativen Quellgrund der Wirklichkeit. Diese Vernunft, die an keine besonderen Wirklichkeits- bzw. Bedeutungsebenen gebunden ist, nannte Keyserling Seins-Vernunft. Wer in ihr west, ist mit der Welt in dialogischer Beziehung, was bedeutet, nicht im engen Korsett eines beschränkten Kalküls zu argumentieren, verstehen und kommunizieren, sondern die verschiedensten Ebenen wahrzunehmen und einzubeziehen, um einerseits den anderen zu verstehen (daher auch etwa seine unausgesprochenen/unbewussten Motive und Bedürfnisse zu erspüren versuchen), und andererseits den persönlichen Lebenssinn zu finden bzw. zu erschaffen. Der entscheidende Unterschied dieses Ansatzes zu dem zu eng geführtem heutigen Vernunftverständnis ist also, dass der hergestellte, bzw. erkannte Zusammenhang der Ebenen, bzw. der aktuellen Wahrnehmungen und Ereignisse, nicht bloß kausaler Natur ist. (Da ja der Kausalzusammenhang immer nur für die jeweils betrachtete Wirklichkeitsebene gilt). C.G. Jung hat dies als Synchronizität bezeichnet. Was im Laufe des Lebens geschieht und sich ereignet, auch wenn es vordergründig logisch und kausal gar nicht zusammenhängt, wird sich dem Menschen, der sich dieser Vernunft anvertraut, als zugehörig zu seinem Lebenssinn erweisen. Das mythische Bild dieser Vernunft ist der geflügelte Hermes, der alle Welten durcheilt, in allen Welten zu Hause ist.
Keyserling war ein konfessionsloser Religionsphilosoph, der sich jeglicher öffentlichen Kritik anderer Ansätze enthielt und betonte, das Rad würde in keinem Gegensatz zu den überlieferten Traditionen und Religionen stehen. Doch dieser Ansatz fordert Rationalität auch von Religion und Esoterik, wenn sie sich (intentional oder bloß habituell) den anderen mitteilen, und ist auch kritisch gegenüber „der falschen Rationalität: den philosophischen Systemen, gleichsam Spinnennetzen, welche Philosophen um ihre Person als Mitte ausgespannt haben, worin sie alles fangen, was in die Maschen hineinpasst.“ Aber „noch schlimmer ist die Identifikation im jenseitigen Bereich, im Bekenntnis [ … ] , die Ichinflation eines religiösen Gebäudes, das sich anheischig macht mit Gründung einer Elite, einer auserwählten Gemeinschaft alle Feinde zu vernichten – so wie Cromwell gleichgültig dem Gemetzel seiner Soldaten in der irischen Stadt Drogedha zuschaute, und Paul Gerhard, der evangelische Verfasser vieler schöner Kirchenlieder als die Hauptfreude der Erlösten im Paradies die Betrachtung der Qualen der Verdammten in der Hölle anführte, oder Luther es als Unfrömmigkeit brandmarkte, beim Verbrennen einer Hexe mit dieser Mitleid zu haben“. Nur Rationalität bewahrt vor solchem Irrsinn, doch nicht eine Rationalität, die alles Außerrationale in einem Kurzschluss zum Unsinn erklärt. Denn eine beschränkte Rationalität hat das Potential, in einer irrationalen Weise vieles von dem, was in Natur und Kultur gewachsen und durchaus erhaltenswert ist, zu zerstören. Keyserling war daher bestrebt, so etwas wie eine „rationale Esoterik“ zu schaffen. Wir sollten davon ausgehen, dass der Mensch und die Welt als Ganzes im unfassbaren, unerschöpflichen Urgrund wurzeln. Diesem entströmt alles, was auf unser Bewusstsein einwirkt, und über die Sprache wird das, was sich uns als empirische Realitäten und als Imaginationen und Offenbarungen darbietet, rational verständlich – und somit überhaupt erst erkennbar.
Um sich Keyserlings Auffassung von Rationalität, die auf einem mathematischen Sprachverständnis gründet, noch mehr anzunähern, nehmen wir vorerst den „Umweg“ über Jullien, und betrachten noch einmal, wie dieser an das Verstehen-Können und das Sich-verständlich-machen-können herangeht: Dass wir übersetzen (und überhaupt verstehen) können, läge an der gemeinsamen Intelligenz, die aus der Ur-Quelle – „im Sinne dieses unendlich Teilbaren und Mitteilbaren“– schöpft. Jullien beruft sich auf Kant, der in der Kritik der Urteilskraft sagt, Erkenntnisse und Urteile „müssen sich […] allgemein mitteilen lassen“. Das „ist […] das einzige Transzendentale, das ich erkenne“, lautet Julliens äußerstes Zugeständnis an den transzendentalen Idealismus. Verstehen-können wäre aber an keine wie auch immer geartete kategoriale Formen gebunden, es gibt keine gemeinsamen Stamm- oder Universalbegriffe, die etwa zwischen dem Chinesischen und Europäischen vermitteln würden. Es gibt ohnehin die allgemeine Mitteilbarkeit! wird Jullien zu jedem sagen, der glaubt, die Existenz universeller Kategorien wäre die unverzichtbare Voraussetzung des (gegenseitigen Sich-) Verstehens. Ist aber nicht jedes Erkennen bis zu einem gewissen Grad immer ein „Wiedererkennen“? Beziehen wir uns beim Übersetzen bzw. Erkennen nicht doch immer, wenn schon nicht auf Identisches, zumindest auf Ähnliches? (Nebenbei bemerkt: nichts was real existiert, ist mit einem andern Existierenden identisch, Identität gibt es nur im Abstrakten.) Die Notwendigkeit eines Beziehens auf Ähnliches beim Erkenntnisakt schließt Jullien kategorisch aus. Es wäre überflüssig, denn wir können ohnehin das Fremde und Neue verstehen, ohne es als „Ähnliches,“ also bereits Bekanntes „wiedererkennen“ zu müssen, ja dadurch würden wir ihm bereits Gewalt antun – wir würden bei solchem „Vergleichen“ das Andere, Fremde nicht wirklich in seiner Originalität verstehen, sondern nur in das eigene Denkschema einordnen.
Es ist aber doch evident, dass Übersetzen und Verstehen nur gelingt, weil sich dabei irgendetwas gleicht oder ähnlich ist. Übersetzen wäre ja überhaupt nicht möglich wenn nicht in gewisser Weise doch der gleiche Sinn, also ein gemeinsamer Sinn „hinter“ den eigenen und den fremden Begriffen vorhanden wäre.
Existiert das Gemeinsame tatsächlich nur „im Kommen“, ohne fassbare Form, und kommt erst im Dialog zustande, wie Jullien behauptet, oder gibt es da vielleicht doch noch etwas anderes, das sehr wohl formal fassbar ist? Sind denn nicht die Zahlen, bzw. das zahlhafte Unterscheiden, das Unterscheiden von Fältigkeiten, etwas, was jeder Mensch – bewusst und unbewusst – vollzieht, und was jede Kultur kennt, einschließlich der isoliert lebenden kleinen Gruppen, die angeblich mit bloß drei oder noch weniger Zahlen auskommen? Denn der Grund aller Gestalt, aller Vielfalt ist der Unterschied, bzw. das Unterscheiden. Das Erleben einer vielfältigen Wirklichkeit setzt Teilungen voraus, ohne Differenzieren, Abgrenzen und teilendem Unterscheiden gibt es keine vielfältigen Phänomene, sondern nur die absolute Gleichheit, die absolute Symmetrie – also nichts, was man als „Welt“ bezeichnen könnte. Die Welt, das sind die Unterschiede.
Nun gibt es ja unendlich viele Unterschiede, auf verschiedensten Ebenen. Bei jeder Unterscheidung werden Qualitäten festgelegt –, wie etwa schwarz/weiß, oder leicht/schwer, oder hart/ weich um nur einfachste Beispiele genannt zu haben. Keine Qualität lässt sich auf eine andere zurückführen, jede behauptet ein eigenes Dasein. Schwarz etwa lässt sich nicht auf Weiß zurückführen und umgekehrt. Und obendrein kann eine Qualität auf verschiedensten Ebenen ihre Bedeutung haben: Ob ein Ei oder ein Schlag hart ist, bedeutet jeweils etwas anderes, ebenso ob meine Zukunft oder meine Haare schwarz sind. Jedoch lässt sich jede Differenz immer auch quantifizieren – als mehr oder weniger weiß, mehr oder weniger leicht, mehr oder weniger hart. In einer solchen Rückführung auf die Zahl sehen viele nur eine verarmende Reduktion. Doch tatsächlich ist der quantitative Aspekt einer Sache nicht bloß ein untergeordneter Aspekt, sondern die entscheidende Differenz, die die Qualität bestimmt. Dieser Gedanke, dass Qualität sich auf Quantität zurückführen lässt, findet sich nicht nur schon bei einem der ersten Vorsokratiker, bei Anaximenes, sondern hat in der modernen Physik seine Bestätigung erfahren. So macht z. Bsp. eine bestimmte Anzahl von Schwingungen eines elektromagnetischen Feldes rotes Licht, eine andere Anzahl aber blaues. Ähnlich verhält es sich beim Schall. Das Paradebeispiel für die Richtigkeit dieses Gedankens liefert aber das periodische System der Elemente: die Anzahl der Protonen im Atomkern bestimmt, ob wir es mit Eisen oder Natrium, oder Sauerstoff, Gold oder Uran, etc. zu tun haben.
Das Gemeinsame ist „im Kommen“, sagt Jullien. Ja, aber es existiert auch im Vermögen aller Menschen, zwischen Allem und in Allem Unterschiede bzw. Teile, also zahlhafte Fältigkeiten zu unterscheiden. Eigentlich ist das auch schon in Julliens knapper Definition der Intelligenz enthalten, in seinem Hinweis auf die Existenz „dieses unendlichen Teilbaren und Mitteilbaren“. Wobei er aber kategorisch ausschließt, dass es irgendwelche feststehende „Ur-Teilungen“ gibt. Aber kann man denn anders teilen, als in Eines und ein Anderes, was dann eben eine Zweiteilung ist, und weiter ein Teilen in drei, in vier, etc. Heißt „teilen“ denn nicht immer, eine Größe festzustellen bzw. sie von einer anderen Größe zu unterscheiden und neue Größen, die resultierenden Bruch-Teile, zu erkennen bzw. herzustellen? Und dass „mitteilen“ möglich ist, heißt doch nichts anderes, als dass ich dem Anderen die gleichen Teile, die gleichen Größen, wie ich sie erfasse, als solche vermitteln kann. Keplers Grundsatz zum menschlichen Erkenntnisvermögen gilt meiner Ansicht nach uneingeschränkt: „Nichts als Größen, oder durch Größen vermag der Mensch vollkommen zu erkennen.“
Rationalität ist das Vermögen zu teilen, und die Teile in Beziehungen, in Verhältnisse zu setzen – in zeitliche, räumliche, logische, funktionale, kausale, harmonische. Es ist eine Kompetenz, die in unterschiedlichem Maße alle Menschen besitzen. Solcher Auffassung nach ist Rationalität also das Vermögen, Fältigkeiten zu unterscheiden und Verhältnisse zu erfassen und zu erschaffen. Das macht der chinesische Geist nicht weniger als der europäische. Diese Rationalität ist immer am Werk – egal ob ich energetische Linien oder punktartige Subjekte unterscheide, egal ob ich ein Verhältnis zwischen Yin und Yang erkenne oder zwischen Ich und Gott. Doch fragen wir nochmals: Was ist ein rationales, ein vernünftiges Verhältnis? und lassen die Zahlentheorie antworten: Als rational gelten in dieser Teildisziplin der Mathematik jene Zahlen, die sich als ganzzahlige Brüche darstellen lassen, bzw. als jene Verhältnisse, die durch Gegenüberstellung zweier ganzer Zahlen gebildet werden. (… 1:2, 12:4, 1:92 …). Der Vernunftbegriff des Rades ist ganz diesem mathematischen Rationalitätsbegriff nachgebildet, eben der mathematischen Ur-Intuition, rationale, also aus ganzen Zahlen bestehende Verhältnisse erfassen zu können – was das Vermögen einschließt, rational von irrational, Größen, Gleichzahligkeit und Proportionen zu unterscheiden, und systematische Relationen und Abhängigkeiten bzw. Zusammenhänge zwischen den Teilen zu erkennen.
Erfassen der rationalen Verhältnisse ist das Erfassen der Kohärenz, die zwischen Teilen besteht (oder eben nicht besteht). Die Kohärenz kann kausaler, logischer, musikalischer oder sonstiger Natur sein und bedeutet einfach: verstehen – den Sinn und den Zusammenhang verstehen. Verstehen heißt aber immer, in der Fläche zu verstehen (was beim Thema „Diagrammatologie“ bereits näher erläutert wurde). Das heißt, dass Verstehen immer eine Veranschaulichung der Wirklichkeit in zwei, immer eine Reduktion auf zwei Dimensionen ist (auch wenn wir nicht mit einem Zeichenbrett arbeiten oder auf dem Bildschirm, sondern nur in der Vorstellung). Und welche Rolle spielen die erwähnten ganzzahligen Verhältnisse? Die Zahlen, welche in der Mathematik als die rationalen bezeichnet werden, sind im Rad die Zahlen der Fläche. (So wie die natürlichen Zahlen jene des ausdehnungslosen, nullhaften Punktes sind, die ganzen Zahlen jene der Linie, die reellen die des Volumens, und die komplexen die des Raumzeit-Kontinuums.)
Die rationalen Zahlen (Brüche wie 1:2, 5:27…, und die Dezimalbrüche), von denen es unendlich viele gibt, haben in der Fläche ihre Veranschaulichung, denn jede dieser Verhältniszahlen ist eine mögliche Teilung der Fläche. Entscheidend dabei ist, dass in allen Teilen die gleiche Einheit als Maß existiert, (was im Begriff vom „ganzzahligen Verhältnis“ ja vorausgesetzt ist).
Die Fläche ist also ein Feld von unendlich vielen rationalen Teilungsverhältnissen. Sie, die die rationalen Zahlen beherbergt, ist paradigmatisch für das Denken: Nur das, was in eines ihrer Verhältnisse gesetzt werden kann, wird verstanden. Auch wenn diese Behauptung vielleicht nicht gleich spontan einleuchtet, ist sie die wesentliche Aussage zum Vernunftbegriff des Rades. Verstehen heißt da: das zu Verstehende immer in seinen rationalen, in seinen ganzzahligen Verhältnissen zu verstehen. Und wenn in der Wirklichkeit etwas nicht ganzzahlig ist, also irrational, muss es „rationalisiert“ werden, an ein rationales Verhältnis angenähert werden. Oder es bleibt eben im Unklaren, Diffusen, kann nicht zu einem Verstandenen, nicht zum Wissen werden. Was jedoch nicht bedeutet, dass es deswegen zwangsläufig unwesentlich oder wertlos, bloß nebensächlich ist.
Rationalität ist immer reduktiv, beschränkend und begrenzend. (So wie jedes Blatt Papier immer „begrenzt“ ist. Aber dadurch ist es auch immer eindeutig orientiert, also links- rechts, oben- unten liegen eindeutig fest. Erst dadurch würden wir etwas darauf lesen können, sagt die Diagrammatologin Sybille Krämer.) Keine rationale Analyse stellt die Wirklichkeit in ihrer Vollständigkeit und Ganzheit dar, die Wirklichkeit geht unendlich weit darüber hinaus. Selbst die ganz gewöhnliche Materie verhält sich nicht rational, wie wir heute durch die Chaostheorie wissen. Alles, was irrational bzw. außerrational ist, kann von der Rationalität nicht abgebildet werden. Sie rationalisiert höchstens das Nicht-Rationale – oft in einer verfälschenden Weise. Doch das Rationalisieren des Irrationalen bedeutet auch, die Möglichkeit in die Wirklichkeit, das Unendliche in die Endlichkeit zu holen. Dies ist die Autonomie der Sprache, von der Billeter spricht. Ähnlich sieht das Keyserling, wie aus obigem Zitat hervorgeht. Für ihn hat Rationalität, die Vernunft, „ihren Ursprung im Gliederbau der Sprache und in dessen Anwendung auf die Erfahrungen und Offenbarungen“. Es ist ein Gliederbau, der auf den neun schöpferischen Zahlen beruht. Dieser Gliederbau der Sprache konstelliert unsere Welt, auf seiner Grundlage „konstruieren“ wir die Welt. (Auf den Zusammenhang der neun Zahlen mit den grammatikalischen Wortarten und der Syntax werden wir weiter unten noch zu sprechen kommen.)
Voraussetzung gegenseitigen Verstehens ist das Ausgehen von einem gemeinsamen Maß. Erinnern wir uns an die mathematische Betrachtungsweise: Rational-sein und somit verständlich-sein, heißt, dass das, was in eine Beziehung gesetzt wird, ein gemeinsames Maß haben muss; eine Seite des Verhältnisses ist immer ein ganzzahliges Vielfaches oder ein ganzzahliger Bruchteil der anderen Seite. Nur mit einer „Elementar-Einheit“, die sich bei mir wie beim anderen gleicht, können wir einander verstehen. Eine Verallgemeinerung dieses Prinzips bedeutet dann schlicht, „eine gemeinsame Sprache sprechen“. Und wenn wir diesen Gedanken der notwendigen gemeinsamen „Elementar-Einheit“, bzw. das Finden des gemeinsamen Maßes (in jeder Kognition) noch weiter verallgemeinern und auf die Ebene der ethischen Werte transponieren, können wir dieses Prinzip wiedererkennen als die Orientierung aller an einer gemeinsamen Norm. Selbst die liberalste Gesellschaft, welche maximalem Pluralismus frönt, kann auf ein Gemeinsames nicht verzichten, auf das, was für alle gilt. In der Regel sind das heute, zumindest im Westen, die verfassungsmäßig gewährten Grundrechte bzw. die universellen Menschenrechte.
Tatsache ist aber auch, dass das Irrationale (also Gefühle aller Art, der Traum, bzw. Visionen, Inspirationen oder Offenbarungen, das Bewusstsein des Todes) die Menschen motiviert und ihre Zielsetzungen bestimmt. Und es ist unbestreitbar, dass ein Mensch, der nur rational ist, verödet. Absolut rational sind nur Maschinen, unsere tiefsten Gründe und höchsten Ziele sind eigentlich immer außerrational. Doch spätestens wenn man dem Anderen begegnet und mit ihm kommuniziert, muss man rational sein. Es bedeutet, sich auf Gründe zu einigen, die für alle nachvollziehbar sind. Nur wenn man füreinander verständlich ist, sich sprachlich durch Erzeugen von rationalen Verhältnissen in Übereinstimmung und Resonanz bringt, was letztlich bedeutet, sich im gleichen System zu bewegen, kann der Dialog gelingen. Wie man weiß, sieht die soziale Wirklichkeit allerdings anders aus. Statt eines Dialogs ist häufig ein Kampf der Kulturen im Gange, und er ist nicht nur auf ökonomische Ungerechtigkeiten zurückzuführen. Viele politische Kommentatoren dieser Konflikte unterschätzten die autonome Macht der außerrationalen Gründe, auf denen etwa religiöse Überzeugungen beruhen.
Jullien ist überzeugt, dass der Dialog zwischen den unterschiedlichsten Kulturen immer gelingen kann, dass Übersetzen immer möglich ist. Dafür verlangt er aber nichts weniger, als das Eigene zu verlassen, und zumindest temporär „Mitglied“ beim Anderen zu werden. Doch wer zu dieser Relativierung des Eigenen bereit ist, kann nicht mehr zum Eigenen einfach so zurückkehren. Auch wenn man sich nicht völlig zum „Anderen“ bekehrt hat: Sobald man sich auf den anderen eingelassen hat, ist man auf jeden Fall ein „anderer“ geworden. Traditionalisten wollen diesen Schritt nicht vollziehen. Sie wagen ihn nicht, da er ihnen wie eine inakzeptable Relativierung des Eigenen, als Selbstaufgabe und Identitätsverlust erscheint. Jullien sieht allerdings die Notwendigkeit des Relativierens nicht: „Durch ihr Aufeinandertreffen werden Kulturen nicht dazu gebracht, sich zu relativieren, sondern dazu, sich auf den Grund zu gehen. “(Jullien 2015). Sie würden sich in der Begegnung nur als unterschiedliche „Unternehmen oder Eroberungen“ begreifen, „die noch in den geringsten ihrer erprobten Optionen das Menschliche zugleich erschließen und entfalten“. Die Begegnung zwingt demnach nicht zur Relativierung des Eigenen, sondern erschließt nur neue Möglichkeiten, um neuen Reichtum zu entfalten.
Das klingt erfreulich und sehr optimistisch. Mit Blick auf die heutigen multikulturellen Gesellschaften und die sich dort zeigenden Konflikte scheint mir die Forderung nach dem Verlassen, dem Suspendieren oder Relativieren des Eigenen aber noch viel pointierter artikuliert werden zu müssen: Was nottut, ist nicht nur das Verlassen des Eigenen, um durch Begegnung mit dem Anderen sich gegenseitig zu bereichern, (was im Glücksfall, wenn Menschen rational miteinander sprechen, tatsächlich geschehen kann) sondern das Beschränken des Eigenen, insbesondere was religiöse Überzeugungen betrifft. In der globalisierten Welt müssen diese, da sie im Wesentlichen irrational sind, noch viel mehr zur „Privatsache“ werden, als heute von aufgeklärter Seite den Religions-Bekennern abverlangt wird. Sie gehören nämlich ganz in die Sphäre des Innenlebens des Einzelnen. Es bedarf der Einsicht, dass kein irrational begründeter geistiger Anspruch sich auf andere erstrecken darf. (Eigentlich nicht einmal auf die eigenen Kinder, wenngleich eine solche Enthaltsamkeit natürlich aus verschiedenen Gründen schwer umsetzbar ist.) Da ich nicht voraussetzen kann, dass der Andere von den gleichen Visionen begeistert ist wie ich, können diese keine gemeinsame Grundlage bilden. Um eine solche zu finden, um ins Gespräch zu kommen, muss man seine eigenen oder gläubig übernommen „Offenbarungen“ vorerst nach hinten reihen.
Letztlich ist es unerheblich, ob wir vom temporären Verlassen, vom Beschränken oder vom Relativieren des Eigenen sprechen, in irgendeiner Weise ist eine Distanz zum „Eigenen“ sicher notwendig, wenn ein echter Dialog gelingen soll. Doch ist das Gemeinsame immer nur erst im Dialog gegenwärtig, und immer nur als ein Neues zu erschließen, da das Gemeinsame immer nur „im Kommen“ ist, wie Jullien behauptet? Oder „haben“ wir nicht doch auch etwas Gemeinsames, gleichsam einen „geistigen Besitzstand“, über den (potentiell) alle Menschen verfügen? Für Jullien haben wir höchstens Teil an der allen Menschen gemeinsame Intelligenz, über deren Natur und Beschaffenheit aber nichts ausgesagt werden kann, was Universalität beanspruchen darf. Für Keyserling hingegen haben wir Teil an einer allen gemeinsamen Rationalität, die auch formal fassbar ist im Diagramm des Rades, welches auf den simplen Gesetzen der ebenen Geometrie und den Zahlen beruht.