Schule des Rades

Dago Vlasits

Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades

Teil II – 16   Das Wirken der Zahl

Die gesamte Struktur des Rades entfaltet sich aus den Zahlen, dargestellt im pythagoreischen Zahlenkreuz, dem sogenannten Chi. Vier Zahlenreihen, bestehend aus den Zahlen von 1 bis 10 bilden seine Gestalt, mit der Null als Mitte, die als Ursprung der natürlichen Zahlen gilt. In einem der vier Quadranten finden sich die Multiplikationsprodukte, und im gegenüberliegenden die entsprechenden Brüche. Im Multiplikationsfeld lassen sich die wesentlichen Zahlen der Atomstruktur ablesen – die sieben Hauptquantenzahlen der Energieniveaus, und die Anzahl der Elektronen, die jedes der Energieniveaus fassen kann (2, 8, 18, 32). Der andere Quadrant, das Divisionsfeld, zeigt die Tonzahlen der Musik – das Resonanzfeld der Töne und ihrer Intervalle. Die Null ist die Chiffre des unerschöpflich Schöpferischen. Dieses ist formlos und die Zahlen sind gleichsam sein erster Ausdruck. Bei den kleinsten Partikeln beginnend, strukturieren sie die gesamte natürliche Wirklichkeit (zu der auch unser Erkenntnisvermögen gehört). Zahlhafte Unterschiede bestimmen die sinnlichen Phänomene – akustisch, optisch, aber auch die stoffliche Qualität, wie im Bereich der chemischen Elemente durch die unterschiedliche Anzahl von Protonen im Atomkern. Im Denken bestimmen die Zahlen die Grammatik, emotional sind sie unsere innerpsychischen Wirkkräfte, unsere Motive und Antriebe, und sie sind auch der Grund allen Subjekt-Seins – unseres eigenen, wie auch aller sonstigen Wesen im Diesseits und Jenseits. Da Zahlen die Matrix aller Kategorien oder Konzepte sind, erfassen wir durch sie sowohl den Sinn als auch den Zusammenhang in den Sätzen und Formeln aller Sprachen.

Die von Jullien in Abrede gestellte Möglichkeit, das Universelle zu formulieren, wird im Rad also durch das Mathematische realisiert. Arnold Keyserlings Einstellung zur Mathematik deckt sich mit der seines Vaters, an dessen Werk er anknüpft. In „Das Gefüge der Welt“, seinem Erstlingswerk, meinte der junge Hermann Keyserling: „Die Grundgesetze der Mathematik sind die Gesetze des Menschengeistes – des Menschengeistes nicht nur nach außen zu, zum Erkennen, sondern auch nach innen zu, als Naturprodukt, als abgeschlossenes Objekt betrachtet; sie sind nur insofern reinmenschlich, als das Menschliche Ausdruck des Natürlichen, des Universalen ist – nicht menschlich im Gegensatz zur Natur; sie regieren den Menschengeist im selben, unbedingten Sinne, wie der Bauplan das Sein und Wirken jedwedes Organismus beherrscht; sie sind der begriffliche Ausdruck dessen, was der Mensch als ein Teil der Natur ist“.

Jullien indes schlägt das Mathematische dem europäischen Geist zu, als eine der Ursachen für dessen Beschränktheit. Doch das Mathematische in Europa ist nicht nur Teil der wissenschaftlichen Rationalität, mit all ihren Verirrungen und lebensfeindlichen Einseitigkeiten, die sie neben ihren Triumphen hervorgebracht hat. Sondern es hat auch immer als hermetische Mathematik und Pythagoräismus im Untergrund existiert, und lässt sich nicht so einfach unter Julliens Chiffre „europäischer Denkzugang“ einordnen. Auch der prominenten Rolle, welche die Zahl in der chinesischen Tradition spielt, schenkt Jullien wenig Beachtung. Den 42. Vers des Dao Te King, wo es heißt: „Das Dao zeugt die EINS, die EINS die ZWEI, die ZWEI die DREI, und die DREI zeugt die zehntausend Wesen“, (Jullien 2015), identifiziert er bloß als Überreste kosmogonischen Denkens, der Idee der Weltschöpfung, die ja in China nie eine große Bedeutung gehabt hätte. In den Worten, die diesem Satz sogleich folgen, „Alle Wesen tragen das Yin auf ihrem Rücken, und halten das Yang in ihren Armen, aus dieser Mischung der Energien ergibt sich die Harmonie“, meint er schon eher das Charakteristische chinesischen Denkens erkennen zu können.

Zahlen haben also nicht nur im wissenschaftlichen Europa, sondern auch in dessen außerwissenschaftlichen Traditionen eine Rolle gespielt. Sie sind keine „bedeutungsvollen“ Begriffe, sondern inhaltsleere Fältigkeiten. Sie bestimmen die Fältigkeit von Gestalten, Prinzipien, Kräften und Subjekten. Durch sie vollzieht sich nicht nur jede Gestaltwerdung und jede grammatikalische oder philosophische Kategorienbildung, sondern sie sind auch die Matrix aller Motivationen und Intentionen, das, wovon man getrieben wird, und das, zu dem man hinstrebt. Sie sind letztlich die Kräfte und Energien, die die Selbstorganisation des Universums bewirken. Durch ihre Kenntnis, durch das Erlernen dieser Prinzipien stimmen wir uns auf diesen Prozess ein, und wirken konstruktiv an ihm mit.

So ein Ansatz ist auch China nicht fremd, wie man im ältesten philosophischen Essay der Chinesen, den Hung-Fan entdecken kann. Der Titel bedeutet „Großes Vorbild“ oder „Umfassendster Plan“, und ist eine dem mythischen Kulturheroen Yü vom Himmel offenbarte Ordnung der Wesen. Sie gewann die Gestalt einer dem König Wu vorgetragenen 9-Punkte-Abhandlung, die Marcel Granet folgendermaßen kommentierte: „Ganz gewiss war das, was der Himmel dem Yü anvertraute, nicht die Glosse zum Text, sondern dieser selbst, oder richtiger: dessen Chiffre; es war ein chiffriertes Modell, ein aus Zahlen gestaltetes Abbild , die Welt selbst.“ Es wären, „ganz einfach, die neun ersten Zahlensymbole“ gewesen – auch wenn sich viele Gelehrte weigern, dies als die Essenz des Textes zu erkennen, der die Verhaltensregeln eines würdigen Herrschers zum Gegenstand hat, meint Granet.

Zahlen sind also eigentlich leere Formen, die aber wirken. Linguistisch und semiotisch gesprochen sind sie leere Signifikanten, die durch kein Signifikat völlig erfüllt werden können. Keine Bedeutung, kein positiver Inhalt, kein Begriff, den wir finden, kann ihren Sinn erschöpfend beschreiben. Das Unvermögen der sprachlichen Begriffe, das Universelle zu erfassen, ist für Jullien der Grund, die Möglichkeit einer Metasprache zu verwerfen – es kann keine begrifflichen Universalien geben! Keine begrifflichen Universalien, zugegeben: aber die zahlhaften sind allgegenwärtig. Sie sind der Grund unseres Verstehen-Könnens. Während Jullien das Verstehen-Können schlicht auf die allgemeine Intelligenz zurückführt, die dauernd evolviert, ist dieses Verstehen-Können in der Radphilosophie auf dem Vermögen des Menschen begründet, über die Fältigkeiten der Zahlen Sinn und Zusammenhang zu erfassen. Was natürlich nicht bedeutet, dass wir dauernd zählen, oder dass Zahlen dauernd in unserem Bewusstsein sind, was offenkundig nicht der Fall ist. Dieses Wirken der Zahl als Generator von Sinn und Zusammenhang vollzieht sich oberhalb des Bewusstseins, ist aber durch eine analytische Betrachtung in den natürlichen Erscheinungen und menschlichen Konstruktionen erkennbar. Wir können ihr unbewusstes Wirken beispielsweise auch in Julliens Ausführungen zum Universellen finden:

Das Universelle ist für ihn ein Begriff, den wir nicht aufgeben können. Es handelt sich nicht um „einen alten totalitären Traum der Philosophie“, den man „für ein bisschen wahnsinnig hält und den man endlich vergessen sollte“, sondern es ist ein „Zielpunkt“, der „nunmehr in die Geschichte der Welt eingeschrieben ist“. Doch alles, was dem Universellen an Begriffen entsprießt, ist immer nur relativ. Der Begriff des Universellen ist für Jullien also ein „leerer Signifikant“, „dessen sukzessive Füllungen“, sich als vorübergehend und zufällig, als „transitorisch und kontingent enthüllen“. Die Leere, die man diesem Begriff vorwirft, würde ihn aber nicht daran hindern, wirksam zu sein. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall, „es ist gerade die Leere, die kein Signifikat füllt oder sättigt, die bewirkt, dass es noch wirksam ist.“ (Jullien 2009)

Ist es aber tatsächlich der Begriff „das Universelle“, der wirkt? Und kann man ihn denn überhaupt als leer bezeichnen, da er doch historisch mit vielen Bedeutungen aufgeladen ist? Wirkt da nicht etwas anderes „Leeres“, sozusagen hinter oder oberhalb oder unterhalb dieses Begriffs? Solchen Intuitionen trauend, hätte man sich natürlich geradewegs in die „Hinter-Welt“ oder „Hinter-Sprache“ verirrt, deren Existenz Jullien bestreitet. Jullien will ohne eine solche auskommen, und so nähert er sich dem Verständnis des Universellen an, indem er das Begriffsdreieck von UniversellesEinförmigesGemeinsames betrachtet. Das „Einförmige“ identifiziert er als ein falsches Universelles, als dessen Zerrbild und Schatten. Als bedenkliche Gleichschaltung und Normierung scheint es zurzeit, bedingt durch Globalisierung und Kommerzialisierung, die Menschheit in eine kulturelle Verarmung zu führen. (Dass zu diesem Zerrbild auch die Uniformität und Gleichschaltung gehört, welche die Religionen zuweilen fordern, sei noch hinzugefügt.) Und um die Gleichsetzung des „Universellen“ mit der schneidenden Schärfe der europäischen Logik zu vermeiden, hat Jullien als drittes das Universelle zum „Universalisierenden“, bzw. zum „Gemeinsamen“ gemacht, das immer nur „im Kommen“ ist. Eigentlich ein politischer Begriff, der auf eine soziale, progressive Dynamik hinweist, soll das „Gemeinsame“ also den ewig werdenden Charakter des Universellen ausdrücken. Das Universelle als Gemeinsames ist ewig Zukunft.

Aber hier liegen ja eben drei Begriffe vor, und alle drei Begriffe scheinen irgendwie vom selben zu handeln. Wenn das so ist, verweisen sie auf ein noch anderes, also etwas, das außerhalb von ihnen liegt! Oder beziehen sich die drei – (1.)die Eindeutigkeit und Allgemeinheit der Logik, (2.) dessen Schatten als kulturelle Uniformität, und (3.) ihre mögliche Überwindung durch das Streben nach dem Gemeinsamen – immer nur wechselweise aufeinander? Wird ein Begriff nur verständlich und durchsichtig, wenn er sich einem anderen Begriff gegenüberstellt? Oder hat jeder Begriff immer schon eine Referenz zu etwas, das nicht wieder ein Begriff ist? Wenn wir letzteres annehmen, betreten wir die Ebene der Zahlen. Jullien vollzieht diesen Schritt nicht. „Jenseits“ des Begriffs beginnt für ihn die Sprach- und Formlosigkeit, „jenseits“ des Begriffs ist die unerschöpfliche Quelle, die alles speist, aber durch keinen Namen genannt werden kann. (Außer den Begriffen gibt es für Jullien aber immerhin Formeln, die er sogar als ewig gleichbleibend versteht!) Nun ist auch aus der Sicht des Rades die „Quelle“ jenseits von Sprache und Form. Aber noch vor den sprachlichen Begriffen, gleichsam zwischen dem Namenlosen und der Sprache lässt sich etwas erkennen und vernehmen. Hier „raunt“ etwas, jenseits der eindeutigen Begriffe, nämlich die Fältigkeit der Zahlen, denen der Sinn aller Begriffe entstammt, die aber auch jeglichen Zusammenhang eines „Moments“ formen.

Betrachtet man die von Jullien behandelte Thematik im Spiegel des Rades, so zeigt sich, dass alle drei von ihm behandelten Begriffe auf die Einfältigkeit, auf die Einheit, die Eins deuten. Ob Einheit durch logische Identität, Einheit durch beschneidende Reduktion oder das Streben nach der gemeinsamen Einheit – alle drei sind ein Ausdruck und ein Wirken der natürlichen Zahl Eins. Der Sinn der Einheit kann durch viele Begriffe aus- und angesprochen sein. Man kann etwa von der Einheit Gottes, von der Einheit der Menschheit, der Einheit des Quantums oder von der vereinigenden Kraft der Liebe reden – oder von der Uniformität, der Karikatur der Einheit. Einheit bezeichnet die isolierte Einzelheit, das kleinste Element, aber Einheit ist auch der allergrößte Zusammenhang, die Einheit von allem. Auch das Wirken der Dreifältigkeit, um noch ein Beispiel herauszugreifen, lässt sich in Julliens Ausführungen „heraushören“. Denn in der Art und Weise, wie er dem (1.) logisch Allgemeinen/Universellen (2.) dessen beschränkte Verwirklichung, die Einförmigkeit, als Zerrbild und Schatten gegenüberstellt (gleichsam eine Antithese; die immer Exklusivität schaffende Uniformität als Gegensatz echter Universalität), und wie er dann (3.)durch Bestimmen des Strebens nach dem „Gemeinsamen“ eigentlich eine Synthese artikuliert, erinnert an den dialektischen Dreischritt.

Mit solchen Überlegungen haben wir das konzeptbildende Vermögen der Zahl bloß ein wenig gestreift. Über das Wirken der Zahlen – nicht nur im reflektierenden Denken, sondern auch im sinnlichen Empfinden, im triebhaften Fühlen und im intuitiven Wollen – können wir uns hier nicht weiter verbreitern. Aber einige „numerologische“ Überlegungen zu den ganz am Anfang erwähnten Begriffen, welche die Themen der europäischen Philosophie bilden – Sein, Sinn, Subjekt, Substanz, Attribut, Kausalität, Wahrheit – wollen wir abschließend noch kurz untersuchen, also der Frage nachgehen, wie diese Themen oder Gegenstände durch die grammatikalischen und syntaktischen Kategorien, und damit durch die Zahlen bedingt sind. Hier eine kurzgefasste Antwort (die vielleicht Keyserlings Auffassung, Grammatik wäre die einzig gültige Metphysik, noch etwas verständlicher macht):

„Sein“ entstammt dem 3-fältigen Verb, das syntaktisch transitiv, intransitiv oder modal sein kann (Bsp.: ich laufe einen Marathon– ich laufe – ich möchte laufen). Diese Dreifältigkeit entspricht bei den grammatikalischen Wortarten den drei Hilfszeitwörtern – eigentlich die Ur-Zeitworte – haben, sein und werden. „Kausalität“ wiederum entstammt dem 8-fältigen Umstandswort, acht Arten der Umstände lassen sich unterscheiden, der Umstand des Grundes ist nur einer davon. (Ebenso lässt es sich nach dem Umstand der Zeit, des Ortes, der Art und Weise, und noch nach vier weiteren Umständen fragen.) „Attribut“ wiederum entstammt dem 5-fältigen Eigenschaftswort, eine Eigenschaft (Attribut) kann ein Positiv, ein Komparativ, ein Superlativ, ein bestimmtes oder ein unbestimmtes Zahlwort sein. Und die Kategorie „Substanz“ entstammt dem 2-fältigen Substantiv, das im Singular oder im Plural steht, ein Besonderes oder ein Allgemeines bezeichnet, ein Name oder ein Begriff ist. Wie steht es um den zentralen Begriff „Sinn“? „Sinn“ ist in dem hier besprochenen Kontext eben der Sinn eines abgeschlossenen, grammatikalisch richtig durchgebildeten Satzes – wobei ein Satz auch aus nur einem Verb bestehen kann, wie etwa „Geh!“. An diesem einfachsten Beispiel kann man dann auch erkennen, wie in jedem Satz ein „Subjekt“ steckt. Bei „Geh!“ wird das Du nicht explizit ausgesprochen, aber natürlich ist das Subjekt durch die Konjugation in das Verb eingewoben.

Steckt kein „Subjekt“ in einem formelhaften Satz, in einer chinesischen Formel? In den nicht konjugierten Verben (wie „gehen“), die typisch für die chinesische Sprache sind, ist kein Subjekt, im Infinitiv steckt tatsächlich kein Du, kein Ich und kein Er/Sie/Es, weshalb es eben die reine Prozessform abbildet. Doch kein Prozess ist ohne die „Quelle“ (source) zu denken. Das Wirken der Quelle, die sich als der Prozess äußert, heißt chinesisch Dao. Dieses nun zum Subjekt des Prozesses, bzw. aller Prozesse zu erklären, wäre nicht chinesisch gedacht (zumindest nicht im Sinne der „himmlischen Aktivität“, von der Zhuangzi und Billeter sprechen). Man würde dabei etwas auseinanderreißen, was im Chinesischen eben nicht auseinandergerissen wird. Aber die Quelle kann auch als Subjekt aller Einzelwesen, als „Gott“ verstanden werden. Ob man das tut oder nicht, hängt von etablierten (kulturellen) Denkgewohnheiten ab, aber auch von ganz individuellen, oder auch von situativ bdingten Dispositionen und Entscheidungen.

Und „Wahrheit“? „Wahrheit“ im gewöhnlichen Verständnis dieses Begriffs ist die eindeutige Übereinstimmung oder Korrespondenz eines Faktums mit einer prädikativen Aussage, mit einem Satz. Formeln sind nicht auf diese Weise wahr, denn sie sind vieldeutig, stimmen nicht nur mit einem Faktum überein. Sie sollen ja auch nicht stichhaltige Aussagen in Bezug auf einen bestimmten Sachverhalt liefern, sondern den Menschen in Resonanz mit dem laufenden Prozess bringen. Doch ihre „Adäquatheit“ ist nicht weniger ein Übereinstimmen (nämlich mit dem Prozess), als die „Wahrheit“ eines Satzes ein Übereinstimmen mit einer Tatsache ist.

Die chinesische Sprache schöpft die syntaktischen Möglichkeiten der neun grammatikalischen Kategorien nicht vollständig aus, da es dem chinesischen Denken um etwas anderes geht als dem europäischen. Aber auch wenn man die Wirklichkeit nicht als Substanz, nicht „substantivisch“ versteht, sondern als „Prozess“, „Wandlung“ oder „Regulierung“, entstammen diese Konzepte von Dynamik dennoch der Kategorie des dreifältigen Zeitworts, dem Verb, ohne dem für unseren Verstand keine Art von Bewegung oder Veränderung fasslich ist. Letztlich verhält es sich so mit allen Konzepten, aus welcher Kultur auch immer: für alle Konzepte bilden die neun grammatikalischen Kategorien eine Art Schablone oder Matrix.

Begreift man die Zusammenhänge des Rades, so wird es als die vereinigende Formel von Formel und Werkzeug verstehbar. In ihm wird die Zeit zyklisch gedacht, wie im chinesischen Denken, und wie dieses lädt es zur Einstimmung auf den natürlichen Prozess ein, kennt wie die chinesische Weisheit die ichlose Offenheit für die jeweilige Situation und für die rituelle Einstimmung auf das Jahr. Doch dass wir uns als Subjekte und Vereinzelte in isolierter Existenz erfahren, dass wir Getrenntes, Disparates immer wieder – konstruktiv – sinnvoll zusammenknüpfen müssen, ist ebenso eine menschliche Grunderfahrung und nicht nur eine europäische Spezialität. Menschen stimmen sich nicht nur auf die Welt ein, was ja tatsächlich immer eine gewisse Ich-Vergessenheit erfordert. Sie konstruieren, verändern und erschaffen auch – sich selbst und die Welt. Daher ist auch die Entfaltung des Wesens, die sich über das ganze Leben erstreckt, ein zentrales Thema des Rades. Eine solche Betonung des Subjekts scheint allerdings genau das Gegenteil von dem zu sein, was uns Jullien als den chinesischen Weg der Weisheit nahebringt. Er kritisiert in seinen Schriften immer wieder die Anmaßungen des (europäischen) Ich, das sich selber setzt, sich entwirft, sich schafft – sich wichtig nimmt. Kann man aber an diesem „eigenwilligen“ Ich einfach „vorbeigehen“? Und hat es denn je eine Kultur gegeben, die nicht von „Ichs“ geschaffen wurde?

Auch wenn sich die zwei Wege in Julliens strenger Unterscheidung logisch gegenseitig ausschließen – wir stehen nicht vor einer bloß einmaligen Entweder-Oder-Entscheidung. Regulierung und Orientierung mögen als ein komplementärer Gegensatz erscheinen, in Julliens Worten zwei Wege, die sich gegenseitig ausschließen. Im Lichte des Rades zeigt sich aber, dass eine ganzheitliche Schau erst durch eine Einung dieser Komplementarität möglich ist. Bei aller Wertschätzung des autonomen Individuums – der chinesischen Weisheit muss hinsichtlich der Gefahren der Ichbild-Fixierung (und dadurch der Zerstörung des „Himmels“ in uns) in keinem Wort widersprochen werden. Und bei aller Wertschätzung für die harmonische Einstimmung in den großen Zusammenhang – das („europäische“) Ich braucht doch nicht völlig abzudanken – es soll mitwirken und mitkonstruieren am Werk der Erde. Um ganz zu sein, muss das menschliche Wesen beide Pole umspannen. Das Rad ist eine Formel, die dieser Ganzheit entspricht.

Dago Vlasits
Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades · 2019
Teil II – 16   Das Wirken der Zahl
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