Schule des Rades

Dago Vlasits

Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades

Teil II – 15   Gewahrsein, Bewusstsein und die Dimensionen des Rades

Dimension heißt Ausdehnung. Die prinzipiell möglichen „Ausdehnungen“, in welchen wir uns und die Welt erleben, sind im Dimensionskreis des Rades dargestellt. Wie die Abbildung Nr. 2 zeigt, besitzt er vier Raumdimensionen (Linie, Fläche, Volumen und vierdimensionales Kontinuum) und vier Zeitdimensionen (Augenblick, Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit). In ihnen entfaltet sich die Arithmetik der fünf Zahlenarten: die natürlichen, die ganzen, die rationalen, die reellen (welche auch die irrationalen Zahlen enthalten) und die komplexen Zahlen (die sich aus einer reellen und einer imaginären Zahl zusammensetzen). Im Rad-Denken bildet dieser ganze mathemaische Komplex das „A priori“, welches den formalen Grund für die Bildung der begrifflichen Kategorien des Verstandes und der Vernunft liefert. Auf dieser mathematischen Grundlage lassen sich also aus den vier Raum- und vier Zeitdimensionen und den dazugehörigen Rechenwegen die vier Bewusstseins-Funktionen empfinden, denken, fühlen, wollen, und die drei Bewusstseins-Bereiche Körper, Seele, Geist, und das nullhaften Gewahrsein ableiten. (Keyserling nennt sie die Inbegriffe oder Ur-Begriffe.) Der Dimensionskreis lässt sich auch als ein Schichtenmodell lesen, und zeigt dann eine fünffältige Ordnung, in Entsprechung der Domänen der 5 Zahlenarten, die als die fünf Stufen des Gewahrsein, des Wachens, der Reflexion, des Traumes und des Schlafes zu interpretieren sind.

Von diesen Grundbegriffen ist wohl der am schwierigsten zu vermittelnde der des Gewahrseins. Über das Gewahrsein zu sprechen und zu schreiben bereitet gewisse Schwierigkeiten, da jede sprachliche Formulierung in der einen oder anderen Weise zu Missverständnissen führt. Riskiert man es trotzdem, muss man sagen, dass es das wahre Subjekt jedes Wesens in diesem Universum ist. Insofern es leer und unbestimmt ist, ist es überall identisch, also ein einziges Subjekt. Insofern es sich in der materiellen Raumzeit manifestiert und aktualisiert, wird es zu individuellen „Seins-Funken“ – wenn man so will, zu „Quanten des Seins“. Wer meint, es ist die Selbst-Erfahrung des „Ich bin“, hat schon zu viel gesagt, denn so spricht das reflektierende Bewusstsein, das um seine Existenz weiß. Denn wovon wir hier reden, ist die Existenz vor aller Reflexion, die sprachlich vielleicht am ehesten mit dem Wörtchen „bin“ anzudeuten ist. Diese „bin“, dieses leere Gewahrsein ist die Voraussetzung jeglichen inhaltlichen Bewusstseins.

Man kann zwar sagen, durch den „Input“ der 3 Bereiche und der 4 Funktionen wird unser leeres Gewahrsein zu einem „inhaltsvollen“ Bewusstsein. Doch damit handelt man sich eine gewisse Spaltung ein. Es ist daher wohl die Formulierung zutreffender, dass das Gewahrsein alle sieben durchdringt, bzw. dass es unmöglich ist, von erscheinenden Körpern, von personalen Begegnungen, von Gedanken, Gefühlen, Wahrnehmungen, etc. als Phänomenen zu sprechen, ohne dass ein Gewahrsein immer schon gegenwärtig ist. Alles was aus den sieben kommt, ist unsere Welt, konstituiert unser Bewusstsein. Aber es gibt kein Bewusstsein ohne Gewahrsein. Wo immer etwas bewusst wird, wo immer ein Bewusstsein ist, ist ein Gewahrsein, dem „etwas“ bewusst wird.

Keyserling betonte immer die Wichtigkeit der Unterscheidung von Gewahrsein und Bewusstsein, eine Unterscheidung, welche die Nebel in der heutigen Diskussion um das Wesen des Bewusstseins etwas lichten könnte. Denn in der heutigen neurologischen und philosophischen Bewusstseinsforschung wird eine solche Unterscheidung meist nicht getroffen. Es würde bedeuten, Gewahrsein als etwas anzuerkennen, das nicht nur wir und manche Tiere immer schon sind, und nicht erst in langen Entwicklungsprozessen erworben haben. Gewahrsein wäre demnach etwas, das allen Seienden, (nicht nur lebendigen, oder gar nur den reflektierenden) zukommt. Es eignet jedem Wesen, weil es eben ein „Wesen“ ist und daher erlebt, erfährt, erleidet oder agiert. Dabei kann eine Reflexion (welche die erlebte Welt immer in Subjekt und Objekt spaltet) über das Erlebte stattfinden oder auch nicht, also Bewusstsein aktualisiert werden oder auch ausbleiben. Ob dies geschieht, hängt von der Organisationskomplexität ab. Reflexion ist bei manchen Wesen nur zeitweilig, bei anderen bis beinahe dauernd gegeben, und bei wieder anderen gar nicht möglich. Auch eine Mikrobe „erlebt“ etwas, aber sie ist weit davon entfernt, über das eigene Erleben reflektieren zu können wie der Mensch.

Nun kann das Gewahrsein streng genommen eigentlich niemals Objekt der Betrachtung sein, denn es ist der Betrachter. Es muss nicht, (kann gar nicht) erklärt werden, wir sind es. Man kann nur seiner innewerden, bzw. im Reden darüber darauf hinweisen – aber auch das nicht in der Weise, wie man etwa auf einen Tisch hinweist. Man kann vielleicht sagen, dass es absolut strukturlos ist, und damit auch, dass es auf nichts gerichtet ist. Und man kann sagen, dass Bewusstsein hingegen Struktur ist, und dieses immer intentional ist, wie schon mittelalterliche Philosophen meinten – also immer auf etwas zielt, immer auf einen Gegenstand gerichtet ist. So wie es beispielsweise gerade hier geschieht, wenn wir dann doch vom Gewahrsein reden wie von einem Ding. Wir machen es dabei zu einem Gegenstand, zu einem Objekt des Bewusstseins. Doch im Unterschied zu einem Ding kann das Gewahrsein nur als Begriff und Wort zum Objekt werden, aber nicht als reale „Anschauung“ – so wie etwa „Tisch“ nicht nur als Begriff, sondern auch als real gegebener Gegenstand „draußen“ wahrgenommen werden kann. Gewahrsein kann also niemals „reales“ Objekt sein, denn es ist unser jeweiliges Sein im Augenblick. Bewusstsein – von dumpf bis erleuchtet – setzt immer Gewahrsein voraus.

Eine solche Voraussetzung lehnen viele Bewusstseinsforscher ab, denn sie ist unwissenschaftlich. Sie meint etwas, das in keiner Weise objektiv ist, sondern rein subjektiv, ja im Grunde „außerhalb“ der Welt steht. Doch wenn Materialisten das Bewusstsein erklären wollen, wollen sie das innerhalb der Grenzen der Welt bewerkstelligen. Ein immer schon allem Bewusstsein (somit aller Welt) vorrausgehendes Gewahrsein vorauszusetzen ist für sie ein fauler Trick, bei dem das eigentlich zu Erklärende am Anfang vorausgesetzt (und somit erschlichen) wird. Diese Bewusstseinserklärer gehen im Unterschied dazu mit einer Selbstverständlichkeit davon aus, dass Bewusstsein ein spätes Produkt der Evolution ist. Tatsächlich haben sie ja zum Teil Recht, denn das, was sie als „Bewusstsein“ beim Menschen erforschen, und in Rudimenten vielleicht noch bei höheren Tieren vorfinden, lässt sich beim Herabsteigen der evolutionären Leiter bei niedereren Materieformen nicht entdecken. Aber das gilt nicht für das Gewahrsein, so wie wir es hier verstehen und voraussetzen. Hier wollen wir Gewahrsein als etwas begreifen, das in allen Entitäten, allen „Teilen“, allen Teilnehmern dieser Welt gegenwärtig ist, und die daher allesamt als Akteure begriffen werden müssen. Jeder Akteur, jedes Wesen in diesem Universum, so einfach es sein mag, hat eine „Innenperspektive“ und „erlebt“ eine Welt, auch wenn diese Welt kaum Ähnlichkeiten mit der Welt hat, die sich einem reflektierendem Bewusstsein auftut.

Wenn wir hier dann konsequenterweise sagen müssen, dass etwa auch ein Atom Gewahrsein besitzt, haben wir es damit nicht gleich zu einer koboldartigen Kreatur erklärt. Ein Atom hat im Vergleich zu einem Kobold, (falls man glaubt, dass es auch so etwas gibt) oder einem Menschen ein ungleich primitiveres Bewusstsein, nach menschlichen Maßstäben so gut wie keines. Den tatsächlich gibt es „Bewusstsein“, also ein „Wissen“ um ein „Sein“, (um das eigene oder eines anderen Dings oder Wesens) erst dann, wenn sich in einem langen Evolutionsprozess die Atome in einer Weise zu Gehirnen organisiert haben, die Reflexivität ermöglichen, bzw. ein Selbst-Bewusstsein und Objekt-Bewusstsein besitzen. Diese Organisationsformen, ihre Entstehungsgeschichte und Funktionsweisen aufzuklären, ist die wichtige und gar nicht leichte, aber prinzipiell erfüllbare Aufgabe der wissenschaftlichen Bewusstseinsforschung. Bis heute besteht allerdings noch immer eine gewaltig Erklärungslücke, wenn es um das Verständnis der Entstehung der „Innenperspektive“ bzw. des Selbst-Bewusstseins geht. Sie wird von den Materialisten geflissentlich heruntergespielt, und das endgültige Schließen dieser Lücke betrachten sie bloß als eine Frage Zeit.

Dass im Rahmen des Naturalismus tatsächlich das „Geheimnis“ des Bewusstseins gelüftet werden kann, glauben jedoch nicht alle Bewusstseinsforscher. Der Philosoph David Chalmers etwa ist der Ansicht, dass die materialistisch eingestellten Neuro-Wissenschaftler und Geist-Philosophen nur das leicht lösbare Problem, das soft problem behandeln, nämlich das Erforschen der neurologischen Strukturen und Aktivitäten, die mit verschiedenen Bewusstseinszuständen korrelieren. Das eigentliche hard problem wäre jedoch das Unterfangen, zu erklären, wie eine materielle Substanz, bzw. der Prozess, in welchem sich diese Substanz befindet, ein subjektives Erleben erzeugt. Wie eine Nadel in lebendiges Fleisch fährt, und welche Reaktionen und Verhaltensweisen dieses Fleisches dann zeigt, lässt sich vielleicht einigermaßen vollständig physikalisch, chemisch oder behavioristisch, also wissenschaftlich erklären, gleichsam mit einem Blick von „Außen“ – aus der „Dritte-Person-Perspektive“, wie man heute zu sagen pflegt. Dass es aber dabei auch eine „Innenperspektive“ gibt, ein subjektives Schmerzerlebnis, das erfasst laut Chalmers der wissenschaftliche Ansatz nicht. Berühmt ist sein Zombie-Welt- Argument, mit welchem er zeigen will, dass die Materialisten das Bewusstsein (in unserem Ansatz „das Gewahrsein“) überhaupt nicht erklären, sondern eigentlich wegerklären. Mit seiner Zombie-Metapher drückt er aus, dass wenn die Naturgesetze tatsächlich so funktionieren, wie die Materialisten bzw. Naturalisten glauben, dann könnte unsere Welt funktionieren wie sie es tut, auch ohne dass jemand „zu Hause“ ist, also ohne jemanden, der bewusst erlebt und entscheidet. Chalmers versteht „Bewusstsein“ als das Erleben der sogenannten Qualia, als das subjektive Erleben von Qualia wie „Schmerz“, „blau“, „angenehm“ etc., und erkennt darin etwas, was in den materialistisch verstandenen Naturgesetzen überhaupt nicht vorgegeben ist. Hingegen sind die materialistischen Philosophen wie der bereits erwähnte Daniel Dennett davon überzeugt, dass die Qualia nichts vom Wirken der Naturgesetze Verschiedenes sind, ja eigentlich gar nicht real existieren, sondern von Philosophen wie Chalmers zu einer eigenständigen, von der Materie unabhängigen Wirklichkeit aufgeblasen werden. In seinen Augen erliegen Denker wie Chalmers einfach dem bereits erwähnten „kartesischen Theater“, und halten sich für ein Ich, das Welt erlebt. Wir wollen hier aber davon ausgehen, dass jede Entität in diesem Universum, egal ob sie Bewusstsein besitzt oder nicht, so etwas wie eine „Innenperspektive“ hat, also etwas ist, dem Welt widerfährt und das auf diese Welt reagiert – etwa bei Materieteilchen ihr gegenseitiges Sich-Abstoßen oder -Anziehen.

Die Vorstellung eines allbeseelten Kosmos, welcher aus einer solchen Annahme resultiert, findet sich bei den archaischen Kulturen bis hin zu Philosophien der Neuzeit und der Gegenwart, findet sich in indigenen Kulturen genauso wie bei Leibniz, Whitehead und etwa Bruno Latour. Diese unterschiedlichen animistischen, pantheistischen und panpsychistischen Perspektiven auszuloten, sie zu vergleichen und auf ihre Schlüssigkeit hin zu beurteilen, ist gewiss eine lohnende, aber gewaltige Aufgabe. Insbesondere im 21. Jahrhundert ist nämlich das Interesse für diese Positionen wieder erwacht, und die Liste der einschlägigen Autoren wächst beständig. Im Folgenden wollen wir uns einer etwas bescheideneren Übung zuwenden, und noch einmal eingehender erörtern, wie sich die prinzipielle Beschaffenheit des menschlichen Bewusstseins in der Struktur des Rades spiegelt.

Abbildung 2: Dimensionskreis

Was wir gewöhnlich als Bewusstsein bezeichnen, ist ein eher ungeordnetes Durchströmt-werden von Wahrnehmungen, Gedanken und Phantasien. Unter Umständen die Quelle literarischer Produktivität und in diesem künstlerischen Zusammenhang als „Bewusstseinsstrom“ bezeichnet, ist dieses „Strömen“ im Normalfall des banalen Alltags einfach unser Mitgerissensein von verschiedensten Assoziationen, Routinen, Vorurteilen, Emotionen, etc. Die Lektion des Rades lautet daher, nicht nur die sieben Bewusstseinskomponenten grundsätzlich zu unterscheiden, sondern die vier Funktionen zu trennen, und die drei Bereiche zu vereinen. So soll die sinnliche Wahrnehmung nicht durch Vorurteile und Ideologien des Denkens verzerrt, und die denkerischen Schlüsse nicht durch emotionale Vorlieben und Abneigungen korrumpiert werden. Und eine vielleicht voreilig getroffene Entscheidung sollte nicht etwa die warnenden und korrigierenden Signale aus dem Fühlen unterdrücken. Hingegen geht es bei den Bereichen Körper, Seele und Geist darum, sie als Kontinuum zu begreifen. Bekanntlich hat auch die Medizin einen Schritt in diese Richtung gemacht, insofern ja in der Psychosomatik Körper und Seele als Einheit verstanden werden. Und wenn Billeter dem Begriff Körper eine neue Bedeutung gibt, indem er in diesen alle bewusste und unbewusste Aktivität verlegt, und behauptet, der Körper wäre „die Gesamtheit aller Kräfte, die mein Handeln speisen und stützen“ (Billeter 2017), zielt wohl auch er auf die Ganzheit, in der Körper, Seele und Geist eine integrale Einheit bilden, die man gemeinhin als „Leib“ bezeichnet. Aber wie Jullien, scheint auch Billeter ohne der Annahme von Seele und Geist als fundamentalen anthropologischen Konstanten auszukommen. Wohl um zu vermeiden, sich bei einer solchen Annahme letztlich doch Transzendenz einzuhandeln: denn Seele und Geist scheinen ja im Verhältnis zur handgreiflichen Evidenz der Körperlichkeit doch etwas Transzendentes zu sein. Gleichzeitig aber bestimmt er das Erscheinen der Person als das „höchste Phänomen“, als „die Vollendung des komplexesten Integrierungsprozesses, den es gibt, aus dem die höchste Potenz entsteht“ (Billeter 2017). So ganz ohne irgendeinen „Seelenbegriff“ geht es bei ihm also dann doch nicht, auch wenn er die „Person“, aus der die „höchste Potenz entsteht“, als immanent erachtet, und nicht im Transzendenten verwurzelt sieht.

Welchen Platz nimmt das Konzept „Seele“ im Rad ein? Keyserling hat die zwölf mythischen Bilder des Tierkreises, welche die menschliche Ganzheit symbolisieren, mittels der sieben Inbegriffe definiert, die für das leere Gewahrsein das inhaltliche Bewusstsein bestimmen. „Seele“ findet sich in diesem kreisförmigen Menschbild daher gleich viermal, nämlich bei den Zeichen, die in der traditionellen Astrologie als die „kardinalen“ bezeichnet werden.

• Im Zeichen Steinbock, das sich durch das Begriffspaar [Seele empfinden] konstituiert: als das Subjekt [= Seele), das sich in der beruflichen Öffentlichkeit sachlich (= empfinden] verantwortet,

• im Krebs, [Seele fühlen], welcher den (der Öffentlichkeit oppositionell gegenübergestellten) privaten, intimen Bereich der Familie symbolisiert, in dem das seelische Subjekt seine emotionale Verbundenheit und Geborgenheit findet,

• in der Waage [Seele – denken], dem Zeichen für Gesellschaft und Partnerschaft, der Sphäre der Begegnung, der Gemeinschaft von Ich und Du. Doch diese Gemeinschaft kann auch misslingen, der Dialog abbrechen. Die Gesellschaft der vielen einzigartigen (in vieler Hinsicht oft eigentlich gar nicht miteinander „kompatiblen“) Seelenindividuen kann nur zusammenhalten, wenn sie sich auf einer rationalen Ebene (=denken] begegnen, was ja Einigung auf etwas Gemeinsames, auf ein gemeinsames Maß, bedeutet. Jede Gesellschaft hat gemeinsame Normen, Gesetze, Regeln, Sitten und Gebräuche, die das Zusammenleben unterstützen. Diese Normen und Regeln sind die kodifizierte Rationalität, auf deren Basis sich die Menschen begegnen (müssen). Normen und Sitten können aber auch fragwürdig werden, oder ganz ihre Rationalität verlieren, wenn sich die Zeiten, wenn sich die Umstände und Bedingungen ändern. Doch nur wenn immer wieder die Rationalität erreicht, nur wenn rational kommuniziert wird, können Dialog und Gemeinschaft gelingen.

• Und als viertes findet sich der Begriff Seele im Zeichen Widder [Seele – wollen], der wiederum dem Zeichen Waage oppositionell gegenübersteht. Der zwölffältige Lebenskreis der Astrologie beginnt mit dem Zeichen Widder, das für die Geburt und die ersten sieben Lebensjahre steht, in denen sich die Persönlichkeit entwickelt und durchsetzt. Im Körperschema des Tierkreises repräsentiert der Widder den Kopf, und im Raddiagramm nimmt dieses Zeichen seinen Anfang im Nullpunkt des Chi, dem pythagoreischen Zahlenkreuz, das sich in der linken oberen Ecke befindet. Die Leere dieses Punktes steht für die kreative Potentialität, den unerschöpflichen, unergründlichen göttlichen Urquell. Der Begriff der „Person“, dem Billeter den höchsten Wert beimisst, ist im Rad also im Widder verortet, und die Bedeutung dieses Begriffs erschließt sich durch seine Etymologie: „Persona“ im Griechischen ist die Maske, was von personare, durchtönen, kommt. Im Theater trug sie der Schauspieler, um durch sie eine Gottheit sprechen zu lassen. Diesem Bild folgend heißt das: authentisch und unverwechselbar, eine Person im vollen Wortsinn sind wir dann, wenn wir nicht mit der Maske identifiziert sind, sondern ein besonderes, einzigartiges Durchgangstor für die schöpferische Kraft.

Nach diesem Kombinationsmuster der Verquickung einer der vier Funktionen mit einem der drei Bereiche bilden sich auch noch vier körperliche und vier geistige Sphären des Erlebens, eben das ganze zwölffältige Menschenbild des Astralmythos.

Wie bereits erwähnt und aus der Grafik zu ersehen ist, besitzen die sieben Bewusstseinskomponenten plus dem Gewahrsein eine arithmetische Entsprechung in acht elementaren Rechenwegen, die sich in fünf Domänen, in den fünf Zahlenarten – den (N) natürlichen, (Z) ganzen, (R) rationalen, (Q) reellen, und (C) komplexen Zahlen vollziehen. Werfen wir einen kurzen Blick auf diese elementarste Thematik des Rades. Sie ist einigermaßen herausfordernd, da es eine unübliche Erklärung dessen darstellt, was sich dauernd in unserem Bewusstsein abspielt:

Das Empfinden unserer Sinne folgt der Addition. So bedeutet beispielsweise eine bestimmte Anzahl (Summe) an Schwingungen einer elektromagnetischen Welle eine bestimmte Farbe, und im Bereich des Hörens bedeutet eine bestimmte Frequenz einer Longitudinalschwingung einen bestimmten Ton. Die Linearität, die Eindimensionalität finden wir auch beim Bewusstseinsbereich Geist. Doch dessen geometrisches Bild ist nicht die Linie, sondern die Eindimensionalität in der Zeit ist die Bahn. Sie führt in die Zukunft, zu dem, was noch nicht ist, bzw. nur negativ existiert. Da „Geist“ den Sinn von „Bahn“ hat, wird geistiges Leben in vielen Traditionen als ein Auf-dem-Weg-sein verstanden, Buddha etwa verkündete den achtfachen „Pfad“. Hinter allen „Wegen“ steht aber die geometrische Ur-Intuition der eindimensionalen Bahn. Ebenso wurde geistiges Leben mit dem Aufgeben falscher Vorstellungen, mit einem sich Leer-machen, ja mit Armut im Geiste konnotiert. Diese Konzepte der „Selbst-Verringerung“ haben ihr mathematisches Urbild in der Subtraktion. „Weniger-werden“ im Bewusstsein heißt Offen-werden für das Unbekannte aus der Zukunft, für die erneuernde Inspiration und Vision – für das, was zwar positiv nicht existiert, sondern nur als Negativ, das aber dennoch als eine erregende, ja erschütternde Kraft auf das konkrete Leben einwirken kann.

Die Bewusstseinsfunktion des Denkens, das der 2. Dimension angehört, haben wir schon weiter oben erläutert. Für das Denken bildet die Division das Urbild, es ist die Fähigkeit, ein Ganzes rational zu zergliedern. Eine Gleichung, wie sie in einer Division zur Darstellung kommt (etwa 12:3= 4) ist das Urbild unseres denkerischen Verstehens. Nur wenn Analyse (12:3) und Synthese (4) im Gleichgewicht sind, bildet die Gleichung ein wahres Urteil (=). Zweidimensional ist auch die Welt der Seele. Ihre Dynamik hat in der Grundrechnungsart der Multiplikation ihr Urbild. Zwei Größen, durch Addition verbunden, ergeben eine Summe, durch Multiplikation aber ein Produkt, das ein Vielfaches der beiden Größen ist – echte Begegnung und Interaktion zwischen Personen schafft immer ein Mehr an Wirkung durch Synergie. Ihr geometrisches Urbild ist nicht die Fläche, sondern der Umlauf, ein Punkt, der um einen anderen Punkt kreist – wobei, wenn man die Relativität der Bewegung berücksichtigt, jeder der zwei Punkte gleichzeitig Peripherie und Mittelpunkt ist. Der Umlauf schafft die seelische Mitte, das, was ich als mein Seelenzentrum begreife, und schafft die Mitte zwischen Ich und Du.

Damit sind erst vier der acht Komponenten umrissen, doch wir wollen es bei diesen knappen Erläuterungen zu Keyserlings Zahlentheorie bewenden lassen, es ist damit nur das Prinzip aufgezeigt, wie Zahlenarten bzw. Rechenwege mit den Bewusstseinskomponenten in analoger Beziehung stehen. (In vielen Büchern Keyserlings findet sich eine vollständige, wenn auch dort immer nur sehr knappe Darstellung dieser Zusammenhänge.)

Über das dem Rad zugrundeliegende Verständnis von Zeit lässt sich festhalten, dass in ihm die Zeit ähnlich wie im chinesischen Denken als der Prozess der zyklischen „Jahreszeit“ verstanden wird – Zeit hat Phasen, hat Qualität. Dabei werden beim Jahr nicht nur die vier Jahreszeiten unterschieden, sondern vor allem 12 Monatsqualitäten. Außerdem gilt, dass wegen der hier vorliegenden unauflösbaren Verquickung der zyklische Zeit und der irreversiblen Zeit (des „Zeitpfeils“ der Thermodynamik), auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des europäischen Zeitkonzepts ihren Platz haben, ebenso die Vorstellung von einem sich entwickelnden individuellen Subjekt. Im Menschenbild des Rades – und der zwölffältige Tierkreis ist das eigentliche Bild des ganzen Menschen – gelten Subjekte nicht bloß als das, was sich im „Moment“ vergessen soll, sondern auch als Wesen, die Geburt, Tod, Werdegang und Geschichte kennen. Die Funktion des Rades ist es somit, einerseits der Einstimmung auf den „Lauf“, den Prozess des Lebens zu dienen, und andererseits der sinnschaffenden Konstruktion von Ich und Welt, wodurch der Mensch zum Mitarbeiter der Evolution erwächst.

Wie ist das Rad insgesamt grafisch gestaltet? Es zeigt auf schwarzem, quadratischem Grund den farbigen Tierkreis und die acht Himmelsrichtungen am äußersten Rand, wo sich auch die acht Trigramme des I Ging befinden. Dort stehen außerdem auch die acht Inbegriffe, welche unsere vier Bewusstseinsfunktionen (empfinden, denken, fühlen, wollen), die drei Bewusstseinsbereiche (Körper, Seele, Geist) und das leere Gewahrsein bezeichnen. Im weißen Feld im Inneren des farbigen Tierkreises gesellen sich die neun Planeten hinzu, zugeordnet zu den neun Positionen des Enneagramms, welches eine der islamischen Tradition entstammende und von I. G. Gurdjieff überlieferte Darstellung einer elementaren prozessualen Ordnung der ersten neun Zahlen ist. Unter anderem sind sie die Grundlage jeglicher Grammatik. Diesen von Gurdjieff behaupteten Zusammenhang von Sprache und Zahlen, der im Sufismus bekannt gewesen sein soll, hat Keyserling einsichtig gemacht. Er konnte zeigen, dass neun Wortarten, bzw. neun syntaktische Elemente einen vollständigen, sinnvollen Satz bilden, und dass diese neun Kategorien durch die Fältigkeit der ersten neun Zahlen bedingt sind.

Abbildung 3: Wortarten im Enneagramm

Im Rad sind also die Strukturen von Raum, Zeit und Zahl zur Darstellung gebracht. Wie bereits erwähnt, wird das Ganze formal aus den elementaren Verhältnissen von Arithmetik und Geometrie konstruiert; es folgt einer Logik, die sich aus den Möglichkeiten der Fläche ergibt. Maßgebend (und die mathematische Konstruktion und die philosophisch-metaphysische Spekulation beschränkend) sind hier aber die sinnlichen Gegebenheiten von Auge und Ohr, die Gesetze und Schranken von Ton (Musik) und Licht (Farbe). Die auf diese Weise gewonnen Formen und Beziehungen, die leer von Bedeutung sind, und gleichsam den abstrakten, den „reinen Sinn“ darstellen, gewinnen einen Inhalt, gewinnen eine Bedeutung durch ihre Entsprechungen in den natürlichen Erscheinungen – so wie sie dem Menschen als Phänomen gegeben sind, so wie die Welt dem „Subjekt“ erscheint. (Eine solche Auffassung bedeutet übrigens für unsere kosmische Situierung: vom geozentrischen Standpunkt aus – ein Sonnenaufgang ist ein Sonnenaufgang, und nicht „eigentlich die Drehung der Erde um sich selbst“.)

Wie im chinesischen Denken sind hier Raum und Zeit also keine Abstrakta, sondern Ensembles von Qualitäten, und beide bilden die theoretische Basis für die Ritualisierung des Jahres, um Sinn zu generieren und die persönliche Vision zu erneuern. Von der fundamentalen Rolle der Zahlen haben wir schon gesprochen. Unter anderem werden sie als die Planeten der Astrologie verstanden, im Geburtshoroskop als eine individuelle Kombination von neun Motiven, von denen jeder Mensch in seinem Verhalten und Handeln bewegt wird. Sie sind verschränkt mit den 12 Themen des Tierkreises. Dessen Zwölffältigkeit ist begründet durch das Sonnenjahr, welches durch den Mond zwölfgeteilt ist, formal aber durch die Mathematik des zwölffältigen Quintenzirkels. Entscheidend ist dabei aber die durch analoges Denken erzeugte und von der Tradition überlieferte Schau des Tierkreises als das Bild des menschlichen Körpers. Der Körper mit seinen zwölf Segmenten vom Kopf bis zu den Füßen, bzw. zwölf Organsystemen, ist die für unser Leben maßgebendste Entsprechung der Zwölfheit, wobei die zwölf Segmente und physiologischen Funktionen der Organsysteme auch in ihren seelischen und geistigen Entsprechungen verstanden werden müssen. (So steht etwa der Verdauungsapparat, der Stoffe verarbeitet, Verwertbares von Unverwertbarem unterscheidet, für die Welt der Arbeit , des Wirtschaftens, des „Mehrwertschaffens“, symbolisiert durch das astrologische Zeichen Jungfrau.)

Um vollständig, um ganz zu sein, müssen alle 12 Themen integriert werden. Die Themen von (I.) Widder bis (XII.) Fische sind: I. Person, II. Besitz, III. Werdegang, IV. Wurzeln, V. Meisterung, VI. Arbeit, VII. Gemeinschaft, VIII. Tod, IX. Weg, X. Beruf, XI. Werk und XII. Heilung. Als Horoskop zeigt der Tierkreis bzw. der sogenannte Häuserkreis unsere Anlage als Potential, eine individuelle Konstellation, bedingt durch Geburtszeit und Geburtsort. Diese Anlage legt die möglichen Richtungen für unser Tun und Streben fest. Dabei kommt alle Kraft aus unserer Motivation, die in ihrem ursprünglichen Ansatz der Selbsterhaltung und Selbstdurchsetzung dient, also egoistisch, somit auch der Ursprung des sogenannten Bösen, ist. Dieser Kraft gilt es ein Licht aufzusetzen, was Keyserling als Intention bezeichnet hat. Nicht integriert, nicht bewusstgemacht, gemeistert und angejocht bilden die 9 Motive daher unsere dunkle Seite, unseren Schatten, unsere Laster und Leidenschaften, die uns mitreißen: 1. Eifersucht/Jupiter, 2. Eitelkeit/Venus, 3. Ehrgeiz/Uranus, 4. Gier/Mond, 5. Habgier/Merkur, 6. Neid/Neptun, 7. Streitsucht/Mars, 8. Machttrieb(Angst)/Saturn, 9. Ruhmsucht/Pluto. Nur wenn man willens ist, das statische Ichbild und den Egoismus zu überwinden, sich für die Liebe (Sonne) und gegen den Hass zu entscheiden, werden sie zu 9 Intentionen, die auf den großen Zusammenhang gerichtet sind. Sie werden dann zu unserem Vermögen zu (1) heilen/integrieren, zu (2) gestalten, zu (3) erkennen, zu (4) sorgen, zu (5) unternehmen, zu (6) kommunizieren, zu (7) initiieren, zu (8) verantworten und zu (9) erfinden.

Das Zeit- Konzept im Rad gleicht also insofern dem chinesischen, als Zeit hier nicht der leere Lauf ist, wie sie in der europäischen Physik verstanden wird, um ihr die Kinetik und Mechanik der massiven Objekte einzuschreiben, sondern ist „qualitätsvolle“ Zeit, aus Phasen bestehend. (Jullien weist darauf hin, dass China zwei Ausdrücke für Zeit kennt: „Jahreszeit“, was „Moment- Gelegenheit-Umstand“ bedeutet, also die Qualität oder Phase erfasst, und „Dauer“, die sich auf die Konstanz der Erscheinung bezieht.) Die Phasen des Tierkreises sind die Phasen des Jahres, auch die des 24-Stunden Tages, und zugleich die Phasen der Menschheitsgeschichte, und schließlich die Phasen eines individuellen Lebenslaufs. Wie erwähnt, hat dieser Prozess, dieser „Lauf“ seine formale Grundlage im zwölffältigen Quintenzirkel. Es ist der „Prozess der Zeit“ überhaupt, der Ur-Zyklus, unabhängig von einem bestimmten Subjekt und auf verschiedenen Größenskalen in unendlichen Variationen im Gange. Ihre höchste Entsprechung hat diese zwölffältige Formel im besagten Tierkreis, dem Diagramm der vollständigen und vollendeten menschlichen Realität.

Wie steht es um den Raum? Der Raum ist im Rad nicht das abstrakte, dreidimensionale Volumen, in dem sich die physikalischen Objekte mit ihren Bewegungsmöglichkeiten befinden, sondern der Hort der Subjekte, eine Vorstellung, die allen panpsychistischen Ansätzen entgegenkommt, wie sie heute zunehmend auch von Naturwissenschaftlern ernsthaft in Erwägung gezogen werden, um mit dem hartnäckigen „hard problem“ der Bewusstseinsforschung zu Rande zu kommen. Auch Thales’ Ausruf, „Alles ist voll von Göttern!“ zeugt wohl von einem solchen Raumkonzept. Keyserling knüpft insbesondere am Schamanismus nordamerikanischer Indianerstämme an, am „Sacred Count“ der 10 kosmischen Wesenheiten, wie er ihm von Heymeost Storm und Harley Reagan „Swift Deer“ vermittelt wurde (und er konnte dieses Wissen nahtlos in die vorgegebene mathematische Struktur des Rades integrieren – wie ein Stück, das zur Vollendung des Radkonzeptes noch gefehlt hat). Dieser Raum ist erfüllt von Wesen und Mächten, die den sichtbaren und unsichtbaren Kosmos konstituieren, das Subjekt der Menschheit und das Subjekt des einzelnen Menschen, und das Subjekt aller sonstigen Wesen diesseits und jenseits – Steine, Pflanzen, Tiere, Ahnen, Geister… Eine mögliche Öffnung und rituelle Einstimmung auf diese Mächte kann im sogenannten Erdheiligtum eingeübt werden, welches Keyserling mit seiner Frau Wilhelmine begründet hat. Es handelt sich dabei um einen Platz im Wald, mit einem Kreis von acht Steinen, die acht Himmelsrichtungen markierend, und einem auf den Polarstern ausgerichteten Metallpfeiler im Zentrum. Ein solcher Kreis dient dazu, im Laufe des Jahres acht Feste zu feiern, bei denen nicht nur die Gemeinschaft der Freunde, sondern auch die Inspiration und Vision des eigenen Weges erneuert werden kann. Göttliches und menschliches Subjekt bilden in Keyserlings Ansatz eine Wirklichkeit, die durch die Sprache nicht konstruiert, sondern durch die Sprache bewusst wird, und er geht daher selbstverständlich von dieser Wirklichkeit aus. Er ist der Überzeugung:

Der Sinn des Lebens entsteht nicht durch den bürgerlichen Erfolg, sondern aus der Erfahrung der Transzendenz und der Entscheidung, dieses Erleben zum Angelpunkt des Daseins zu erheben. Glauben bedeutet, bereits in der irdischen Existenz auf das Paradies, die Ahnen und die Mitarbeit am Großen Werk gerichtet zu sein. Nach der kabbalistischen Überlieferung zeigt Gott dem Menschen vor seiner Inkarnation ein Bild, wie er im kommenden Leben den Durchbruch durch das große Holon erreichen könnte. Ob einer es dann tut oder nicht, ist seine freie Entscheidung.“

Für Julliens Geschmack wird hier gewiss zu viel konstruiert, behauptet und spekulativ riskiert. Transzendenz wird ganz selbstverständlich der Immanenz gegenübergestellt, der Mythos wird bemüht und ein Narrativ wird entfaltet. Dieses erstreckt sich zwischen der Dimension der Zukunft – als Paradies, das Keyserling für die heutige Wassermannzeit als Vision der „Neuen Erde“ bestimmte, und der Dimension der Vergangenheit – als Anknüpfen an den Erreichnissen der Ahnen und Pioniere. Und die Dimension der Gegenwart wird von ihm als Mitwirken am großen gemeinsamen Werk definiert. In Keyserlings Erläuterung des Sinnes gibt es also das göttliche und das menschliche Subjekt; und es wird ein Menschenbild skizziert, Allgemeines wird über „den Menschen“ ausgesagt: dass er als Individuum auf einzigartige Weise „gestimmt“ und „bestimmt“ ist, und dass er vor freie Entscheidungen gestellt ist.

Im Rad hat also auch das Subjekt seinen Platz, das – dauernd sinnschaffend – ein Ich und die Wirklichkeit konstruiert. Es ist geometrisch symbolisiert einerseits durch den Nullpunkt des Rades, (dort wo die Achsen des pythagoreischen Chi sich kreuzen, links oben, im „Osten“), gleichsam das „Ich“, das (noch) mit keinem Ich identifiziert ist – das Gewahrsein. Andererseits zeigt das Rad von diesem Punkt ausgehend, als Peripherie des ganzen Kreises, eine zwölffältige Struktur oder Matrix, in die sich das individuelle, biografische Ich hinein entfalten kann, bzw. zeigt es, welche Ich-Konfigurationen überhaupt möglich sind. Denn was wir Ich nennen, wird nicht nur einfach so geboren, es wird immer in eine Zeit geboren – in einen Augenblick, eine Stunde, ein Jahr, ein Leben, eine Epoche.

Das eigentlich konstruktiv Wirkende, das Agens des Ganzen sind aber nicht die 12 Ich-Typen , sondern die besagte Neunheit bzw. Zehnheit, deren Fältigkeiten als Elementargestalten, Prinzipien, Kräfte und Subjekttypen in Erscheinung treten. Die Zahlen bestimmen also den Elementcharakter des sinnlichen EMPFINDENS, die Grammatik und Syntax des sprachlichen DENKENS, die (weiter oben bereits aufgezählten) Motive, bzw. Kräfte oder Beweggründe des FÜHLENS. Und als viertes die Himmelsleiter der Wesen – von Feuer, Stein, Pflanze, Tier über den Menschen bis zu den ehrwürdigen Ahnen, helfenden Geistern, vermittelnden Engeln, inspirierenden Musen und dem „Großen Menschen“, die planetare Menschheit. Die Subjekthaftigkeit all dieser Wesen wurzelt in einer transzendenten Wirklichkeit und ist nur dem WOLLEN zugänglich, nämlich der Entscheidung, an ihre Realität zu glauben – „glauben“ nicht als ein blindes Für-wahr-Halten, sondern als ein intuitives Innewerden.

Dago Vlasits
Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades · 2019
Teil II – 15   Gewahrsein, Bewusstsein und die Dimensionen des Rades
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