Schule des Rades

Dago Vlasits

Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades

Teil – Nachwort

Zu beurteilen, ob Julliens Chinabild oder das seiner Kritiker zutreffender ist, sei den Experten überlassen. Seine Überlegungen zur Immanenz, zur Universalität und zum Subjekt fand ich jedenfalls anregend, und seine im Schlusswort von Denkzugänge (Jullien 2015) gestellte Frage, ob man denn „in der Philosophie nicht auf den Kurzessay zurückkommen“ könnte, einfach „um beschwingt dem Lauf einer Idee (zu) folgen, getragen von dem Verlangen zu denken, ohne noch danach zu trachten, sich hinter einem Schutzschirm aus Gelehrsamkeit zu verschanzen“, habe ich als Einladung verstanden und bin ihr gefolgt. Nicht jede von Julliens Positionen konnte ich zu meiner machen. Seine Differenzierung zwischen chinesischem und europäischem Denken wirkt einleuchtend, aber den Unterschied absolut zu setzen, um ihn dann auf die von ihm vorgeschlagene Weise zu überbrücken, scheint mir nicht alternativlos zu sein, wenn man das Ganze im Spiegel des Rades betrachtet, welches die kleinsten gemeinsamen Nenner aller Denkwege aufzeigt. Doch dieses wird wohl all denen, die vom relativistischen und konstruktivistischen Zeitgeist erfüllt sind, wie ein verstaubtes, unnützes Glasperlenspiel erscheinen. Denn dass es einen Code gibt, der über alle partikularistischen Konzepte hinausreicht, ist für die meisten Zeitgenossen eine längst überwundene Illusion.

Ich glaube jedoch, dass wir in einer globalisierten Welt das Gemeinsame nicht nur dauernd dialogisch verhandeln müssen, sondern im Bereich des geistigen Lebens und der Philosophie auch versuchen sollten, eine gemeinsame, rationale Sprache zu etablieren – eine gemeinsame Sprache für das Philosophieren, wie sie im Bereich des politischen Lebens durch die Artikulation der Menschenrechte und im Bereich der Materie durch die Naturwissenschaften längst verwirklicht ist. Wie ist aber eine solche Rationalität neu zu denken? Es kann nicht bloß darum gehen, sich an die Aufklärung und ihr Vernunftkonzept zu erinnern. Etwas anderes ist notwendig: Das begriffliche Denken muss zu einem diagrammatologischen Denken vertieft werden. Mit Keyserlings Radkonzept liegt ein solcher Denkansatz vor. Die „begreifbare“ Form dieser Vernunft besteht nicht aus Worten, es ist kein Text oder Begriffsgebäude, sondern hat die Gestalt eines Diagramms, das immer neu gedeutet werden muss. Dabei darf uns keine zu eng gefasste Vorstellung von Rationalität leiten. Rationalität ist in gewisser Hinsicht zwar immer reduktiv, sie ist aber auch reinigend, insofern sie verquere Zusammenhänge und Lücken aufdeckt. Sie vernichtet zu Recht jede vermeintliche Ganzheit, welche nur glaubend zusammengehalten, aber dennoch exklusiv und dogmatisch vertreten wird. Offensichtlich kann man glaubend alles verbinden, alle möglichen Zusammenhänge herstellen. Doch nur jene Verbindungen, die der Rationalität gehorchen, evozieren eine gemeinsame Welt, machen erst Kommunikation und Kommunion möglich.

Auf jeden Fall kann ein zu enges Konzept von Vernunft die Fülle an Entwürfen, Wegen, Traditionen und Kulturen, die den heutigen geistigen Horizont bestimmen, nicht integrieren. Die Vernunft, die nicht erkennt, dass wir in etwas gründen, das über alle Rationalität hinausgeht, die Vernunft, die nur in der Sprache, bzw. in der Logik der Aussagen haust, und nicht in unserer ganzen Körperlichkeit und Sinnlichkeit, und die den Traum, das Imaginale und den Tod nicht „ins Kalkül zieht“, ist nicht die wahre Vernunft. Und eine Vernunft, die nicht die leeren mathematischen Strukturen als den identischen Kern des Sinns und der Bedeutung in jedem partikulären System wiedererkennt, ist noch nicht bei sich angekommen.

Rationales Denken ist ein Zerteilen, es teilt ein Zusammengesetztes, einen Komplex, ein Konstruiertes in kausale, funktionale oder logische Elemente, aus denen der jeweilige Zusammenhang besteht. Was dabei erreicht wird, ist Wissen – zuweilen aber auch die vielbeklagte Fragmentierung, die den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, somit die Verfehlung dessen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Durch die Einübung in das Rad-Denken soll uns aber genau dieser innerste Zusammenhang vernehmbar werden. (Keyserling betonte immer wieder, dass Vernunft von „vernehmen“ kommt.) Rationalität müssen wir daher nicht nur als ein analytisches Zerteilen, sondern auch als ein „In-Resonanz-Treten“, als ein „In-ein-rationales-Verhältnis-Treten“ verstehen. Diese Rationalität und Mathematik, die nichts mit Berechenbarkeit zu tun hat, handelt also nicht nur von Logik, sondern von den möglichen Resonanzen, die auf den verschiedensten Ebenen unserer leiblichen Existenz und Erfahrung möglich sind. Denn die Logik der Sprache ist nicht das Ganze der Vernunft, nicht die einzige Stimme der Vernunft. Logik ist nur ein Teilaspekt jener Vernunft, an der auch Wesen, Dinge und Ereignisse teilhaben, die mit strenger sprachlicher Logik nicht zu fassen sind.

Da die lebendige Wirklichkeit in kein Kalkül passt, hat Wittgenstein ein stringentes und eindeutiges Reden über das Ganze unseres Lebens zu etwas Unmöglichem erklärt. Worüber man reden kann, darüber kann man klar reden, doch was klar und eindeutig gesagt werden kann, ist für die eigentlichen menschlichen Anliegen und Fragen irrelevant. Würde man aber dennoch versuchen, über dieses Relevante endgültige Aussagen zu formulieren, käme nur Unsinn, Metaphysik heraus, wie wir weiter oben erörtert haben. Und doch meinte Wittgenstein, dass er metaphysisches Streben und Reden niemals verächtlich machen würde. Immerhin räumte er dem klärenden Denken und Sprechen insofern eine positive Funktion ein, als uns dieses eine Leiter sein kann, die man am Ende wegwirft, wenn man mit ihr über sie hinweggestiegen ist.

Heidegger wiederum war der Überzeugung, doch noch eine „ursprünglichste“ Ebene der Sprache freilegen zu können, um dadurch ein wahrhaftiges Verhältnis zu unserem wahren Sein zu gewinnen, was ihn zur Betonung von Wortwurzelbedeutungen und neuen Wortschöpfungen geführt hat, und zum Schaffen von Gedichten. Seine philosophische Botschaft mündet in der Aufforderung an den Menschen, dichterisch zu leben. Ist also, wenn man es nicht beim Schweigen belassen will, und auch keinen metaphysischen Unsinn produzieren möchte, doch noch ein sprachlicher Ausdruck für philosophisch Relevantes möglich, nämlich die Poesie? Zweifellos, und es ist gewiss, dass uns die poetische Rede im Innersten berühren und in ein resonantes Verhältnis mit der lebendigen, leiblichen Wirklichkeit bringen kann. War’s das dann mit der Metaphysik? Gibt es keine einfache, unprätentiöse philosophische Formulierung all der Dinge, die für das menschliche Leben prinzipiell relevant sind? Wie gesagt, heute hat sich vielfach die Überzeugung durchgesetzt, dass die eindeutige Sprache daran scheitern muss. Ich glaube aber, dass es Keyserling gelungen ist zu zeigen, dass auf geometrischer und arithmetischer Grundlage ein philosophisches Orientierungswissen zu „formulieren“ möglich ist. Die Rationalität, die dieses Orientierungswissen in uns erwecken soll, ist keine, die sich im logischen Sprechen erschöpft. Denn sie ist in jedem Kommunizieren, auf allen möglichen Kanälen wirksam. Sie ist im Wort, in der Geste, im Laut, im Schrei, im Zirpen, im Rauschen, in der Sternenbahn und im Stein. Alles kann Zeichen sein und den Wesen, die in diesen Zeichen verstehen und kommunizieren, Sinn und Bedeutung geben.

Die Welt ist keine bruchlose Einheit und Ganzheit, nur in manchen Momenten. Vielmehr sind Alle und Alles immer ein Disparates und Getrenntes, und immer ein Gefügtes und Zusammenfügbares. Alles besteht aus Elementen und Teilen, und das nicht nur, weil die menschliche Sprache künstliche Abgrenzungen erschafft. Differenzen, Grenzen und Vereinzelung gehören zum Ur-Bestand der Wirklichkeit. Bei einer solchen Vision der Wirklichkeit geht es darum, die disparaten Teile zur Ganzheit zu fügen, vor allem bei uns selbst. Denn selbstverständlich sind auch wir nicht ganz, leiden auf vielfältige Weise. Es fehlt uns an diesem und jenem, wir fürchten uns zu verlieren oder uns untreu zu werden, leiden darunter, etwas nicht leben zu können, oder dass ein Teil in uns stärker ist als das, was wir eigentlich wollen. Sich in seiner möglichen Ganzheit zu erlernen, die eigenen Potentiale bewusstmachen, die notwendigen und überflüssigen Abhängigkeiten und Leiden zu erkennen, um zur Spontanität einer freien, kreativen Lebensgestaltung durchzustoßen und aus den Fügungen zu leben, dafür könnte das Rad nützlich sein. Und es kann uns dabei helfen, immer wieder das gemeinsame Maß zu finden – nicht nur um uns als Gleiche zu sehen, sondern auch um einander in unserer vielfältigen Verschiedenheit zu erkennen und anzuerkennen.

In vielen archaischen Kulturen galt die Erfahrung der körperlichen Zerstückelung als Initiation und Beginn der persönlichen Berufung eines Schamanen. Die Zerstückelung wurde in der Krankheit oder im Traum erlebt, und durch die darauffolgende Erschaffung eines neuen Leibes in der Imagination, eine Art zweiter Geburt, machte diesen Menschen dann zu jemanden, der zwischen den diesseitigen und jenseitigen Welten reist und auf seine soziale Gruppe einen heilenden Einfluss ausübt. Ich meine, von solchen Vorstellungen und Zielen sollten wir auch heute nicht abrücken. Mythische Weltbilder können uns allerdings nicht mehr tragen. Unsere Anschauungen von Welt und Mensch müssen auch die Entwicklungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaften einbeziehen, und vor allem müssen wir die „Zerstückelung“ durch das Denken annehmen, um nicht in Ichbildern und Ideologien fixiert zu bleiben. Traumvision und ganzheitliche Intuition, auf denen die mythischen Menschen- und Weltbilder beruhen, brauchen dabei nicht als überholtes, unzulängliches Erkenntniswerkzeug über Bord geworfen werden. Ihre Einbeziehung ermöglicht erst ein sinnerfülltes, ganzheitliches Leben. Doch wir müssen den Traum und die Imagination durch Sinnlichkeit und Empirie ergänzen, und vor allem muss das Denken zur tragenden Bewusstseinsfunktion werden. Nur auf rationaler Grundlage ist in einer multikulturellen Welt eine transkulturelle Zivilisation, die Gemeinschaft zwischen den Menschen, die Einheit in der Vielfalt möglich.

Dago Vlasits
Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades · 2019
Teil – Nachwort
© 1998- Schule des Rades
HOME Das RAD