Schule des Rades

Dago Vlasits

Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades

Teil II – 13   Individuelles Ich und Ich-Vergessenheit

Wie heute in der Philosophie üblich, spricht auch Jullien von vielen möglichen Rationalitäten, und selbstverständlich ist für ihn nicht nur das europäische, sondern auch das chinesische Denken rational. Im Unterschied zur chinesischen hält er aber die europäische Rationalität für reparaturbedürftig, da sie unausweichlich zwischen Subjekt und Objekt unterscheidet. Diese Spaltung der Realität und die daraus folgende Betonung des Subjekts werden zum Problem, da dieses isolierte Ich unser Handeln in die Irre führt. Ebenso kritisiert er das aus dieser Spaltung resultierende philosophische Konzept von Transzendenz, denn Transzendenz ergibt sich zwangsläufig als ein Konstruktionseffekt der europäischen Sprachen – China hingegen hätte „es nicht nötig gehabt, ‚Gott‘ zu setzen“ (Jullien 2015). Das Auseinanderreißen von Immanenz und Transzendenz ist für Jullien bloß eine überflüssige metaphysische Verdoppelung der Welt, ein „Atavismus“, den er Europa vorwirft, und von dem China verschont geblieben wäre. In der Biologie bedeutet Atavismus eine Art Missbildung, das Auftauchen eines anatomischen Merkmals, das eine biologische Art auf einer früheren Entwicklungsstufe besessen hat, auf der höheren, aktuellen Stufe aber nicht mehr vorhanden sein sollte. Mit der Subjekt-Objekt-Spaltung und mit dem Konzept von Transzendenz schleppen demnach europäische Sprachen also unweigerlich eine solche Rückständigkeit mit sich herum. Doch lässt sich das nicht auch anders verstehen? Dass die europäischen Sprachen das Subjekt konstellieren, bzw. es verlangen, und die chinesische Sprache nicht, muss nicht zwangsläufig so gedeutet werden, dass das Subjekt eigentlich nicht existiert. Genauso könnte man sagen, dass die chinesische Sprache etwas ausblendet, bzw. zumindest in den Hintergrund drängt, was aber dennoch wirklich ist – dass also die europäischen Sprachen einen Aspekt der Wirklichkeit abbilden, der in der chinesischen einigermaßen unterbelichtet ist.

Schenkt man Jullien Glauben, gibt es zwei radikal voneinander unterschiedene Denkzugänge: der chinesische führt zur „Tuchfühlung“ mit der Realität, kein Ich ist hier Träger der Handlung, das Handeln ist eins mit dem naturnotwendigen Lauf der Dinge; der europäische wiederum besteht im Abbilden des Seienden, im Schaffen von begrifflichen Werkzeugen, wobei aber zwangsläufig ein Subjekt konstelliert wird, das dieser Realität – von ihr sozusagen getrennt – gegenübersteht und auf diese einwirkt. Ist der chinesische Zugang der überlegene? Erzeugt der europäische Weg phantomartige Substanzen bzw. Subjekte, mit denen wir uns dann fälschlicherweise identifizieren? Gibt es das Subjekt gar nicht? Ist es nur eine Illusion, was das europäische Denken als die einzigartige Individualität schätzt, und dessen Befreiung und Entwicklung ihm so ein Anliegen ist? Dass jegliche Subjekthaftigkeit tatsächlich, und ein für alle Mal gesagt, nur eine Konstruktion ist, sagt Jullien nicht dezidiert (obwohl er andererseits den Atavismus-Vorwurf erhebt). Und er sagt auch ausdrücklich, er würde nicht behaupten, dass China „Transzendenz“ überhaupt nicht kennt. China wäre an dem, was Europa so wichtig ist, einfach „vorbeigegangen“, hätte sich „dafür nicht interessiert“.

Europa hat sich aber für das Subjekt interessiert, selbst in den objektiven Naturwissenschaften ist es ein Thema. Wie der naive Realist, geht grundsätzlich auch der Naturwissenschaftler vom Subjekt aus, das sich seinen Objekten zuwendet. In den Naturwissenschaften wird aber als selbstverständlich angenommen, dass die objektive Natur unabhängig vom Subjekt existiert. Dass ihre Erkenntnisse objektiv sind, durch nichts Subjektives „kontaminiert“ sind, ist ja das höchste Ideal der naturwissenschaftlichen Methode: das Subjekt ist der unbeteiligte Beobachter. Andrerseits ist die Unabhängigkeit des Beobachters vom Objekt in der Quantenphysik fragwürdig geworden (das sogenannte „Beobachterproblem“), denn die Quantentheorie scheint zu zeigen, dass das beobachtende Subjekt irgendwie für die Beschaffenheit der objektiven Realität mitverantwortlich ist. Aber auch wenn die Subjekt-Objekt–Spaltung als selbstverständliche, methodische Voraussetzung in Geltung bleibt, und abgesehen vom ungelösten Beobachterproblem der Quantentheorie – grundsätzlich scheint der Objektivierungsdrang der Naturwissenschaften zu einer Verneinung bzw. Auflösung des Subjekts zu führen: denn wenn die Welt letztlich ausschließlich als objekthaft verstanden wird, dann kann etwas, was kein Objekt ist, gar nicht existieren. Folgerichtig meinen daher die Materialisten, die Intuition, ein Ich zu sein, als eine Illusion entlarven zu können.

Das Ich stand schon immer unter Beschuss, von Seiten der traditionellen Mystik in allen Kulturen bis hin zur modernen Gehirnforschung. In der Religion ohnehin verwerflich als der Ursprung der bösen Tat, heißt es von philosophischer Seite immer wieder, das Ich wäre nichts von Substanz. Es ist im Gehirn nicht zu lokalisieren, sagen die Materialisten, es sitzt nicht etwa in der Zirbeldrüse, wie der Rationalist Descartes geglaubt hat. Einer der Stars der heutigen Bewusstseinsforschung, der Philosoph Daniel Dennett, spricht vom „kartesischen Theater“, und meint damit, die Intuition, wir wären „jemand“, dem sich die Wirklichkeit wie eine Theatervorstellung präsentiert, wäre eine fundamentale Illusion. Er vergleicht diese mit dem Erlebnis eines Sonnenaufgangs, was ebenfalls keiner Realität entspricht. Denn es gibt keine Sonnenaufgänge, Fakt ist vielmehr, dass sich die Erde um die eigene Achse dreht.

Wie kommt es zu der „Täuschung“ ein individuelles, ein vom Rest der Welt abgegrenztes Subjekt zu sein? Wie wir gesehen haben, scheint Jullien den Schuldigen ausgemacht zu haben: Es ist die europäische Sprache, die auf Grund ihrer Grammatik zwischen Subjekt und Objekt unterscheidet, und uns dadurch in einen unglückseligen Zustand hineinmanövriert. Es ist der Sündenfall, der uns aus dem Weltzusammenhang, aus dem Paradies der Harmonie fallen lässt. Hat es das in China nicht gegeben, weil dort eine Sprache gesprochen wird, die nicht so streng zwischen Subjekt und Objekt unterscheidet? Dass es in China einen Trend zum Kollektivismus, in Europa einen zum Individualismus gibt, muss man gewiss einräumen, und darüber, ob die Sprachstruktur oder kaiserlicher Despotismus, oder etwas ganz anderes dafür verantwortlich ist, kann man diskutieren. Dass Chinesen nicht zwischen Ich und Nicht-Ich unterscheiden, wäre nun aber doch eine einigermaßen abenteuerliche Behauptung. Denn diese Unterscheidung ist die Ur-Unterscheidung, auf der dann alle weiteren Unterscheidungen, alles Differenzieren von Quantitäten und Qualitäten folgt. Diese Unterscheidung ist keine, die bewusst und willkürlich getroffen wird, denn offenkundig verfügen schon Tiere über einen Überlebenstrieb, und zwar als Einzelwesen. Wenn sich der Mensch im Mentalen, also sprachlich, eine Repräsentation von sich schafft, sich als ein Ich versteht, sich mit einem Namen identifiziert, wiederholt er nur mehr im Mentalen die „Grenzverläufe“, welche seine Biologie vorgegeben hat. Wir leben schließlich in einem individuellen Körper, der immerhin eine relative Unabhängigkeit besitzt. Dass alle Lebewesen in vielfältigen zeitlichen und räumlichen Zusammenhängen stehen, abhängig sind von Erzeugern, von Partnern, der Gesellschaft, von der Nahrung, von der Atmosphäre, von der Hydrosphäre, und heute auch immer mehr von der Technosphäre, etc., und dass wir all das letztlich als ein einziges, energetisches Kontinuum verstehen können, aus dem sie entstehen, sich entwickeln und darin wieder auflösen, macht das Einzeln-Sein nicht zu einer Illusion. Ja, nur weil es einzelne, vereinzelte Wesen oder Elemente gibt, die miteinander in Beziehung stehen können, hat der Begriff Zusammenhang überhaupt einen Sinn.

Jullien geht in seinem letzten Buch auf konkrete Riten und die Etikette, welche den chinesischen Alltag durchdrangen, nicht ein, auch nicht auf das rege religiöse Leben des einfachen chinesischen Volkes, das in vieler Hinsicht dem religiösen Leben aller anderen Völker gleicht. Der Vorstellung, „das Richtige im ‚Moment´ zu tun“, (was für Jullien auch das Wesentliche jedes Ritus ist), spürt er vor allem in den konfuzianischen und daoistischen Texten nach, in denen er eine Art prinzipiellen Handlungsplan („Dispositiv“) findet, wie man das Handeln in Einklang bringen kann mit den im „Moment“ gegebenen Möglichkeiten. Dieses Handeln, da es sich von dem, was im Moment „kommt“, tragen lässt, gleicht einem Nicht-Handeln. „Geht“ man mit dem, was „kommt“, gibt es kein Subjekt mehr als Träger bzw. Akteur des Handelns. Hingegen ist im europäischen Verständnis das Subjekt abgegrenzt von den Umständen, die es umgeben. Sie sind bestenfalls Material für das autonom handelnde Ich. Als typisches Beispiel für diese Einstellung führt Jullien die Stoa an. Weit davon entfernt, die Umstände als wesentlich zu erachten, ist in der stoischen Philosophie gar das Erreichen der völligen Unabhängigkeit des Subjekts von seinen Umständen das Ziel, also die völlige Ungerührtheit von dem, was sich um einen herum abspielt – Ziel des Ich ist die sprichwörtlich gewordene „stoische Ruhe“. China hingegen hätte nie ein Subjekt unabhängig vom Moment, unabhängig von den situativen Umständen gedacht. Wir leben, wir „sind“ immer in Momenten, die Teil eines Prozesses sind. Subjekt und Umstände „koinzidieren“, jeder Moment ist ein Zusammenhang, aus dem das Subjekt gar nicht herausgelöst werden kann. (Wenn man hier von einem Subjekt sprechen wollte, wäre es eines, das sich mit den sich wandelnden Umständen immer neu konfiguriert.) Und in jedem Moment ist ein „Kommen“ und „Gehen“ – simultan – was durch kein Subjekt angestoßen werden muss. Wir müssen nur diesem Lauf folgen, „die Initiative liegt nicht im Subjekt“ (Jullien 2015). Ist das Ich also letztlich doch nur ein Störfaktor, ja eigentlich eine Täuschung?

China und Europa können einander und sich selbst im Dialog erkennen, meint Jullien. Dialog zwischen den Kulturen! – natürlich, nichts Wichtigeres scheint in unserer globalisierten Welt von Nöten. Aber kann man denn den Begriff „Dialog“ überhaupt denken, ohne Subjekte als Träger dieses Dialogs? Der wirkliche Dialog vollzieht sich immer zwischen einem Ich und einem Du: Erst durch das Du kann ich mich selbst erkennen, nicht nur weil ich mich in ihm spiegle, sondern weil ich seines Andersseins, seiner Fremdheit gewahr werde, und dadurch mein Eigenes sehen kann. Das Ich entsteht überhaupt erst in der Beziehung zu einem Du…. So in etwa bestimmte Martin Buber (1878 -1965) die einander bedingenden Wirklichkeiten von Ich und Du. Genaugenommen unterscheidet er zwei Arten von Ich. Es gibt das Ich in Beziehung zu Personen und das Ich in Beziehung zu den Dingen, was er durch die Wortpaare Ich-Du und Ich-Es ausgedrückt hat.

Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das Ich des Grundworts Ich-Du und das Ich des Grundworts Ich-Es. Wenn der Mensch Ich spricht, meint er eins von beiden.“ (Buber 1973)

Auch bei Buber finden wir also ein Denken, das kein von seiner Welt unabhängiges Subjekt annimmt, auch Bubers Denken ist relational. Er hat daran erinnert, dass die europäische Philosophie durch die Konzentration auf die Beziehung von Subjekt und Objekt, die Beziehung zwischen Ich und Du aus den Augen verloren hat. Aber nur im „Zwischen“ von Person zu Person vollzieht sich das für den Menschen wesentliche Leben – „Leben ist Begegnung“. Im Dialog sind also Ich und Du real existierende, unreduzierbare Subjekte. Teilt man diese Auffassung, stellt sich unweigerlich die Frage: In welchem Verhältnis steht eine so verstandene Subjektivität zum Konzept der Ich-Losigkeit, die (nicht nur) in der chinesischen Tradition als Angelpunkt der Weisheit gilt?

Europa hat die Möglichkeiten und Freiheiten des Ich entwickelt und es mit Rechten ausgestattet, und wenn wir etwa meinen, das heutige China hätte da noch immer Nachholbedarf, bekräftigen wir damit nur unsere positive Bewertung und unser Überzeugtsein von der realen Existenz des Subjekts. Letztlich tut dies auch Jullien. So sehr er auch Europa kritisieren mag, ist er doch weit davon entfernt, dem europäischen Denken den Rücken zu kehren, und meint: „Für Europa geht es heute nicht darum, auf die Ansprüche seiner Vernunft, deren Universelles durchaus der Schlussstein ist, der so viele verschiedene Bestandteile zusammenhält, zu verzichten, sondern die Vernunft einer neuen Bearbeitung zu unterziehen.“ (Jullien 2009). Jullien ist stellenweise ganz Europäer, die heute so vehement eingeforderte Toleranz zwischen den Kulturen entsteht nicht durch verwässernden Kompromiss und Relativierung, sondern durch Verstehen des Anderen, ist er überzeugt. Und Europa solle und dürfe im Dialog zwischen den Kulturen von seinen Werten und Idealen keine Abstriche machen – „Warum sollte Europa auch nur ein wenig über die Freiheit verhandeln?“

Wenn man von Freiheit spricht, meint man letztlich die Freiheit des Individuums. Aber wenn Ich-Losigkeit Weisheit bedeutet, und Ich-Bewusstsein den Einklang mit dem Prozess, mit dem Dao verfehlt, dann hat Ich-Bewusstsein einen geringeren Wert als Ich-Losigkeit. Sollte man also doch mehr chinesisch als europäisch denken? Bei Jullien ist irgendwie nicht klar, wie er aus China wieder nach Europa gelangt. Einer seiner Kritiker spricht vom Philosophen, der „nicht zurückgekehrt“ ist. Aber wir haben ja bereits festgestellt: lässt man sich auf den Anderen ein und wird zeitweilig „Mitglied“, kann man gar nicht mehr so einfach wieder zurückkehren ins Eigene. Doch solche Überlegungen erübrigen sich zumindest in Hinblick auf Jullien, wenn der Sinologe Kai Marchal mit seine Kritik Recht hat, die er in der Zeitschrift Merkur (Nr. 68) geäußert hat. Jullien wäre „nie nach China übergesiedelt, sondern hat der anderen Seite des Erdballs schon bald den Rücken gekehrt, um eine akademische Karriere in Paris anzustreben“. Marchal meint: „Der Sinologe Heiner Roetz hat seine Kritik so auf den Punkt gebracht: Jullien projiziere letztlich eine vom Strukturalismus inspirierte Modernekritik, die mit Louis Althusser einen ziel- und subjektlosen Prozess zu denken versuche, auf die östlichen Weisheitslehren. Doch damit gilt: ‚Der Schlüssel zu seinem Werk liegt eher in Paris als in Peking‘.“

Ob nun Jullien tatsächlich „mehr“ chinesisch als europäisch denkt, wollen wir offen lassen, auf jeden Fall sind Ich-Losigkeit und Ich-Bewusstsein bei ihm nicht gleichwertig. Mit ihm die Wirklichkeit als prozessualen, dynamischen Zusammenhang denkend, müssen wir ihm in dieser Bewertung auch Recht geben. Doch andererseits kann man das individuelle Sein nicht so ohne weiteres bloß als das „Ich“ verstehen, welches den natürlichen „Lauf“ blockiert und die Einstimmung auf den „Zusammenhang“ verunmöglicht. Denn unser Einzeln-Sein, das vereinzelte Wesen, ist auch der Ursprung der natürlichen Entfaltung einer einzigartigen, komplexen Individualität. Wie lässt sich also dieser Widerspruch zwischen Streben nach Ich-Losigkeit und Wertschätzung des individuellen Subjekts auflösen? Der Einklang mit dem Prozess, das berühmte daoistische „Handeln-durch-Nicht-Handeln“ ist offenbar darin begründet, dass man dabei ohne Ich ist. Billeter meint aber, dass die Übersetzung von wu wei, das meist mit „Wirken ohne zu handeln“ (heißt: ohne Handeln, weil kein Ich handelt) übersetzt wird, wäre viel treffender mit „Wirken ohne Zwang“ zu übertragen. (Keyserling bevorzugte übrigens die Übersetzung „Wirken ohne zu streiten“.) Und Jullien wirft er vor, nicht zu sehen, dass in China das Ich durch die herrschende Macht immer unterdrückt war, und nicht zu sehen, dass das Ignorieren des individuellen Subjekts in den alten Texten kein Ausdruck von Weisheit, sondern der kaiserlich-despotischen Ideologie wäre. Billeters Beschreibung von zwei Arten der Aktivität bringt Licht in die Thematik von Ich und Ich-Losigkeit, und lässt sie gar nicht mehr als einen Widerspruch erscheinen, der nur in eine ausschließende Entscheidung münden kann. (Jullien Rede von den „zwei Regimen der Lebenskraft“, zu finden in Sein Leben nähren. Abseits vom Glück (Jullien 2006), erklärt allerdings das gleiche wie Billeters „zwei Aktivitäten“.) Dabei konstatiert auch Billeter „Ich-loses“ Handeln als Merkmal chinesischer Weisheit. Er findet es am besten beschrieben bei Zhuangzi (um 365 – um 290 v. Chr.), der, nebenbei bemerkt, seiner Meinung nach bisher nicht nur falsch übersetzt, sondern bereits von den ersten chinesischen Kommentatoren falsch verstanden wurde. Billeter bestreitet gar, dass er ein Daoist war, was bislang als ausgemachte Sache gilt. (Obendrein unterscheidet er ganze fünf Arten von Strömungen und Schulen, die man heute undifferenziert unter dem Begriff des Daoismus zusammenwirft.) Billeter vermutet, dass Zhuangzi konfuzianisch ausgebildet und daher ein Experte für Riten und Musik war, aber zu den Vertretern seiner Zunft eine kritische Distanz wahrte. (Auch von Jullien wird die in Europa verbreitete Vorstellung, es gäbe einen wesentlichen Unterschied zwischen Taoismus und Konfuzianismus, gänzlich als irrig abgelehnt, da die Auffassung von Weisheit in beiden die gleiche sei.)

Billeters Interpretation folgend kann man weiterschließen, dass es beim chinesischen Konzept der Ich-Losigkeit nicht um das Ausmerzen des Ich, um das Durschauen des Subjekts als einer Illusion geht, sondern Ich-Vergessenheit stellt sich ein, wenn der Mensch nicht nur seinen bewussten Intentionen folgt, sondern sich Kräften überlässt, die nicht aus dem rationalen Bewusstsein heraus steuerbar sind. Billeter unterscheidet also zwischen einer intentionalen und einer spontanen Aktivität. Zugang zum spontanen Handeln erreicht der Mensch durch Offenheit gegenüber der Leere und dem Chaos und der Zuwendung zu seinem Körper.

Unser Geist ist die Ursache der Verwirrung und des Scheiterns, während der Körper unser großer Meister ist – nicht der anatomische, der Körper als Objekt, sondern der Körper verstanden als die Gesamtheit der Kräfte und Fähigkeiten, der uns bekannten und der uns unbekannten, die unsere Aktivität tragen und speisen“ (Billeter 2015/2).

Bemerkenswert ist, dass der Begriff des Dao bei Zhuangzi noch gar nicht die zentrale Bedeutung und den sakralen, numinosen Klang hat, den er in späteren Zeiten gewinnt. „Dao“ ist bei Zhuangzi – je nach Kontext – durch ganz gewöhnliche Begriffe wie „Natur“ oder „Methode“ zu übersetzen, weist Billeter nach, (was allerdings auch Jullien nicht anders sieht). Höchste Bedeutung hat bei Zhuangzi stattdessen der „Himmel“, an dem der Mensch neben dem „Menschlichen“ teilhat. Bei Zhuangzi findet sich ein Dialog zwischen dem Grafen des Flusses und dem Herrn des Nordmeeres:

Pferde und Büffel haben vier Beine – das nenne ich Himmel. Dem Pferd ein Halfter anlegen und dem Büffel die Schnauze durchbohren – das nenne ich das Menschliche. Deshalb sage ich, so fährt der Herr des Nordmeeres fort: Achte darauf, dass das Menschliche nicht das Himmlische (in dir) zerstört; achte darauf, dass das Intentionale (gu) nicht das Notwendige (ming) (in dir) vernichtet.“ (Billeter 2015/2)

Der „Himmel“ ist dem „Menschlichen“ überlegen, der Himmel ist das „Notwendige“ – insofern es sich ohne menschliches Zutun, mit natürlicher Notwendigkeit vollzieht. Aus ihm folgt das spontane Handeln, das vom Denken nicht beeinträchtigt wird, ein Wirken im Einklang mit den kosmischen Kräften, zu denen das Bewusstsein gar nicht hinreicht. Es kann wohl nicht darum gehen, das Ich grundsätzlich als Täuschung zu überwinden, sondern darum, das Gefängnis des Ichbildes zu sprengen, das falsche Subjekt, das in einer rigiden Weise mit biografisch-familiären, kulturellen oder ideologischen Strukturen identifiziert ist, immer wieder aufzugeben, immer wieder sterben zu lassen. Doch diese Art von Askese bedeutet keine grundsätzliche Ablehnung unseres ursprünglichen Vermögens zu identifizieren und zu unterscheiden und als Individuum auch intentional zu handeln.

So wie die chinesischen Weisen den „Himmel“ über das „Menschliche“ stellen, veranschlagt Jullien die Ich-Losigkeit höher als das Ich-Bewusstsein, und ist sich mit den Schülern und Nachfolgern des Konfuzius einig, dass der Meister kein Ich gehabt hätte. Wenn er aber berichtet, Konfuzius hing an keinen Ideen oder Prinzipien, sondern ließ es sich offen, „starrsinnig wie der Starrsinnigste“ oder „nachgiebig wie der Nachgiebigste“ zu sein, je nachdem, was die Situation erfordert, so heißt das doch nur, dass dieser mit keinem statischen Ich, mit keinem Ichbild identifiziert war, (etwa dem des dauernd friedlich lächelnden Weisen) aber von Mal zu Mal ein Ich „ergriffen“ hat, so wie man ein Werkzeug ergreift. Tatsächlich handelt ja jeder immer wieder als Ich, auch Jullien geht nicht völlig im Zusammenhang auf. Wäre er nie ein Ich, gäbe es keine Bücher von ihm zu lesen. Er spricht aber nicht explizit davon, wie Ich-Bewusstsein und Ich-Losigkeit zueinander in Beziehung stehen. Außer eben, dass sie sich „logischerweise“ gegenseitig ausschließen, und dass eigentlich Ich-Losigkeit angestrebt werden sollte. Doch irgendwie muss man im Leben doch beides vereinen, auch Jullien tut es offensichtlich, indem er hin und her reist, indem er Chinese und Europäer ist, indem er keines von beiden ist. Letzteres ist vielleicht die wichtigste Botschaft für uns, die wir heute in einem noch nie dagewesenen Globalisierungsprozess stehen.

Doch das Ich als „substanzlos“ und überwiegend als Problem erachtend, interessiert Jullien die Natur des Ich nicht weiter – als ob es wirklich nur ein ideologiegeborenes Phantom wäre, als ob der Mensch nicht von Natur aus von „egoistischen“ Motiven, von Ängsten, Sorgen, Aggressionen, Wünschen, Erwartungen, Sehnsüchten und Ähnlichem umgetrieben wäre. Als ob der Mensch nicht auch ein Tier wäre, das sich um seine Menschwerdung bewusst bemühen muss – aber ohne dabei seine Tierhaftigkeit zu verteufeln, sondern sie zu sozialisieren und konstruktiv zu integrieren. Jullien spricht also nicht davon, wie das Ich prinzipiell beschaffen, aus welchen Elementen es konstelliert sein kann. Darüber zu reden setzt uns seiner Ansicht nach der Gefahr der Ideologiebildung und Verabsolutierung eines Menschenbildes aus. Er sagt nur, was nicht geht, was Europäer nicht tun dürfen: Europa wäre zwar dabei, seine Einseitigkeiten zu erkennen, nämlich, dass die Gefahr besteht, „sich in seinen Individualismus einzuschließen“, und dass „ein vom Sozialen bis zum Metaphysischen reichender Zerfallsprozess (der berühmt-berüchtigte Nihilismus)“ im Gange zu sein scheint. Aber Europa darf nicht China als Heilmittel und Kompensation für sein Verdrängtes verwenden, das wäre kein wirkliches Einlassen auf China. Bei einer allzu billigen Synthese „läuft man Gefahr, in die Albernheit der persönlichen Entfaltung und des Glückes mit Konfuzius im Herzen zu verfallen, die heutzutage sehr im Schwange sind“. Wenn er damit nur eine narzisstische Selbstzuwendung meinen würde, die dauernd der Ego-Losigkeit das Wort redet, könnte man ihm in dieser Polemik ja zustimmen. Kann man ihm aber auch recht geben, wenn er damit meint, eine Einstellung, die individuelle Entwicklung, also Arbeit an sich selbst und Streben nach Weisheit vereinen möchte, ist schlicht unmöglich? Denn so kann man die polemische Bemerkung ja auch verstehen. Wie immer man diese Bemerkung verstehen mag, gleich anschließend sagt er, worin die richtige Einstellung besteht – wir kennen sie bereits: Sinn und Zusammenhang und somit Ich-Bewusstsein und Ich-Losigkeit durch Kenntnis der Struktur der europäischen und der chinesischen Sprachen zu begreifen – und zu erkennen, dass sie unvereinbar sind.

Muss man dann also, wenn es einem um Weisheit geht, das individuelle Ich links liegen lassen? Wir werden weiter unten noch sehen, dass Keyserling der Überzeugung war, man müsse gar drei Arten der Subjektivität berücksichtigen und integrieren, nämlich Ich, Selbst und Wesen. Und in Hinblick auf das persönliche Rad, das Horoskop, forderte er, man müsse „sich selbst erlernen.“ Dem singulären Subjekt-sein wird hier also eine gänzlich andere Bedeutung eingeräumt.

Was ist überhaupt das Ich? Im obigen Zitat haben wir eine zutreffende Beschreibung davon, wenn Zhuangzi das „Menschliche“ charakterisiert. Es legt Halfter an, durchbohrt Büffelschnauzen – und fährt Auto, ergattert Diplome, schafft und zerstört Werke … man könnte hier beliebig lang fortsetzen. Als beharrend, als substanziell darf man das Ich aber nicht missverstehen, denn es besteht im dauernden Entstehen und Vergehen. Vielleicht ist der chinesische Ausdruck für „Ding“ dazu angetan, seine Beschaffenheit zu erhellen: „Dieses Ding!“ heißt auf Chinesisch „Dieses Ost-West!“. Jedes Ding ist, chinesisch gedacht, etwas, das aufgeht und untergeht, entsteht und vergeht. Das Gleiche gilt auch für das Ich. Woraus entsteht es, wohin vergeht es? Alle Prozesse speisen sich aus der Quelle, sie ist in allen Prozessen gegenwärtig. Keyserling nennt diese Quelle (in Hinblick darauf, wie der Mensch über seine Bewusstheit an dieser Quelle teilhat), „das Gewahrsein“, und erkennt darin unser wahres „Subjekt“. Es ist leer, und somit eigentlich kein Ich, doch jedes inhaltlich bestimmte Ich wird aus ihm geboren. Nicht viel anders charakterisiert aber auch Jullien den chinesischen Weisen, wenn er meint, dieser hinge an keiner Idee oder keinem Prinzip, und somit an keinem besonderen Ich. Der Weise ist also mit der Leere des Gewahrseins, mit der „Mitte“ identifiziert – also mit dem Vermögen des (sich) Identifizieren-Könnens – und nicht mit den wechselnden Bewusstseinsinhalten, nicht mit einem „vollen Subjekt“, wie Jullien das ausdrückt. Doch alle Identifikation mit einem statischen Ich-Bild loszulassen, ist nicht das einzig Entscheidende. Denn jeder Mensch ist mit einer einzigartigen Anlage ausgestattet, die im Laufe des Lebens auf vielfältige Weise und mehr oder weniger erfolgreich nach Verwirklichung strebt. Aus dem Arsenal des Rades bietet sich in dieser Hinsicht die Astrologie als Hilfe an. Sie liefert ein Wissen, das als Werkzeug dienen kann beim Entwerfen der eigenen möglichen Gestalt, indem sie die unbewussten Potentiale der individuellen Anlage ins Bewusstsein hebt.

Was ist nun diese besondere Individualität, wenn es nicht das leere Gewahrsein, und nicht das dauernd sterbende Ich ist? Über alle entstehenden und vergehenden Ichs hinweg – wie eine Melodie, die sie alle verbindet – gibt es ein Permanentes, das wächst und sich immer weiter konturiert. Dieses zu entfalten und dadurch den Reichtum des Lebens und die Schönheit dieser Erde zu mehren, ist die eigentliche Bestimmung des Menschen, und Keyserling bezeichnet dieses Subjekt als das Wesen. Gemäß dem Menschenbild, welches Keyserling aus dem Rad ableitet, gibt es überdies neben dem sterblichen Ich und dem wachsenden Wesen noch ein drittes Subjektives: das unsterbliche Selbst, das unsere ewige Teilhabe am Ganzen bedeutet. Es ist der Träger des Entwicklungspotentials für dieses Leben, eines Potentials, welches vom Ich von Moment zu Moment in die Aktualität überführt wird, wodurch das Wesen entsteht und wächst.

Dago Vlasits
Über chinesische Weisheitsformeln und das Diagramm des Rades · 2019
Teil II – 13   Individuelles Ich und Ich-Vergessenheit
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